Fünfzehn Jahre Bologna-Erklärung - eine Polemik

Szene aus dem Hochschulalltag: Hier wurden vor kurzem die Klausuren für 348 Studierende aus meiner Vorlesung über Wissenschaftstheorie verteilt; in der linken Hälfte fand eine BWL-Klausur statt. Im Kurs behandelten wir unter anderem die Grenzen der Standardisierung und zu welchen - oft unerwarteten - Wechselwirkungen Etiketten, mit denen man Menschen versieht, führen. Um die erforderlichen Kreditpunkte zu bekommen, mussten die Studierenden selbst eine standardisierte und standardisierende, sie mit (Leistungs-)Etiketten versehende Prozedur durchlaufen. Enjoy Credit Points, please! Bild: S. Schleim

Wann ersetzen wir die Studierenden endlich durch Computer?

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Vor fünfzehn Jahren wurde von führenden Wissenschaftspolitikern Europas die folgenreiche Bologna-Erklärung unterzeichnet. Auch wenn viele die damit verbundenen Reformen als gescheitert ansehen, bestimmt das in der Erklärung ausgedrückte standardisierende, quantifizierende und vergleichende Denken heute Lehre und Forschung. An Stelle von Autonomie fördert das neue System die Anpassung an von oben vorgegebene Leistungskennzahlen. Bei allen Rationalisierungsprozessen, unter denen die Universitäten leiden, wäre es nur konsequent, als nächstes auch die Studierenden durch Automaten zu ersetzen.

Heute vor fünfzehn Jahren, am 19. Juni 1999, unterzeichneten 29 europäische Bildungsminister die nach ihrem Versammlungsort benannte Bologna-Erklärung. Mit Bologna hatten die führenden Bildungspolitiker den wohl geschichtsträchtigsten Platz der europäischen Hochschulen gewählt, nämlich die älteste Universität Europas. Dort hatten rund zehn Jahre vorher, am 18. September 1988 zum 900. Jubiläum der Universität von Bologna, europäische Universitätsrektoren die Magna Charta der Universitäten Europas unterzeichnet.

Universitätsrektoren versus Bildungsminister

Diese Erklärung der Rektoren knüpft an den europäischen Humanismus und das Streben nach universalem Wissen an. Jungen Generationen müsse Wissen vermitteln werden, das auf die gesamte Gesellschaft bezogen ist; sie müssten durch die universitäre Bildung und Ausbildung zur ständigen Weiterbildung befähigt werden. Ein Grundsatz hierfür sei die Autonomie der Universität, die Unabhängigkeit "gegenüber allen politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Mächten". Zur Verwirklichung dieser Ziele fordern die Universitätsrektoren die Bereitstellung der erforderlichen Mittel, die Einheit von Forschung und Lehre, die Freiheit für Studierende zur Erreichung ihrer Bildungs- und Ausbildungsziele sowie internationalen Austausch.

Die spätere Bologna-Erklärung der Bildungsminister bezieht sich zwar auf die Magna Charta, formuliert jedoch ein "Europa des Wissens", das sich nur teilweise mit den akademischen Idealen deckt: So wird insbesondere die internationale Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulbildungssystems hervorgehoben, denn die Lebensfähigkeit und Effizienz einer Zivilisation lasse sich durch ihre Anziehungskraft auf andere Kulturen messen. Innerhalb Europas bedürfe es höherer Kompatibilität und Vergleichbarkeit.

Die für die Praxis bestimmten Eckpfeiler der Erklärung sind erstens die Einführung eines leicht verständlichen und vergleichbaren Systems der Hochschulabschlüsse, die zweitens in zwei Stufen - vor- (Bachelor) und postgradual (Master/Doktor) - getrennt sind, drittens die Einführung eines Kreditpunktesystems zur Förderung der Mobilität der Studierenden und schließlich viertens die Förderung europäischer Kooperation in der Qualitätssicherung anhand vergleichbarer Kriterien.

Vergleichbarkeit statt Freiheit und Autonomie

Während sich also die Magna Charta vor allem den Voraussetzungen zur Bildung freier und autonomer Individuen widmet, hat die Bologna-Erklärung den Wettbewerb, die Vereinheitlichung und das vergleichende Messen im Fokus. Wir wissen heute, welches Denken sich durchgesetzt hat, denn die zweigliedrigen Studienabschlüsse und das Kreditpunktesystem kamen, die Vereinheitlichung und Quantifizierung von so gut wie allem in der universitären Bildung sind heute weit fortgeschritten.

Über den Erfolg oder Misserfolg des Bologna-Prozesses wurde in den letzten Jahren viel geschrieben. Es sei hier nur an die Schlussfolgerung aus dem zweiten Positionspapier der Humboldt-Gesellschaft für Wissenschaft, Kunst und Bildung e.V., die sich dem Humboldtschen Bildungsideal verpflichtet hat, erinnert: "Aus heutiger Sicht ist der Vollzug der Bologna-Vereinbarung (zumindest in der deutschen 'Version') praktisch gescheitert."

Sowohl die Studierenden als auch die Dozierenden haben in den letzten fünfzehn Jahren viel Freiheit verloren. Vor allem die im Interesse der Vereinheitlichung und Vergleichbarkeit eingeführte Akkreditierungsbürokratie hat die Menschen in ein enges Korsett geschnürt: Die Bedürfnisse dieser neuen Institution konnten scheinbar nur dadurch befriedigt werden, dass ein Hochschulstudium in vordefinierte Module gegossen wird, die wie der Stundenplan an der Schule den Unterricht festschreiben. Diese Module wiederum umfassen eine bestimmte Anzahl an Kreditpunkten gemäß dem ECTS-System, von denen jeder als Arbeitsumfang im Rahmen von 25-30 Stunden definiert ist. So kommt es, dass ein akademisches Jahr üblicherweise aus sechzig Kreditpunkten besteht und folglich ein dreijähriges Bachelor-Programm 180 Kreditpunkte beziehungsweise 4500-5400 Arbeitsstunden umfasst.

Zurück ins pädagogische Mittelalter

Dabei wird einerseits ignoriert, dass sich der Lernaufwand individuell ganz unterschiedlich gestaltet. Tatsächlich bestätigen Studierende häufig, dass sich ihnen der Zusammenhang von investierter Zeit und erhaltenen Kreditpunkten nicht erschließt. Das ECTS-System geht also von einem Menschenbild aus, das unterschiedliche Begabungen und Präferenzen außer Acht lässt. Andererseits erzeugt dieser definierte Schein der Vergleichbarkeit natürlich auch einen Druck der Kontrolle, der sich in der Lehre dann häufig in Klausuren äußert. Dadurch sind auch die Dozierenden unter Druck geraten, ihre jeweiligen Module durch Prüfungen abzuschließen und darauf auszurichten.

Mit den gerade in beliebten Studienfächern nun beinahe allgegenwärtigen Multiple-Choice-Klausuren, die auch hervorragend mit der zunehmenden Anzahl der Studierenden skalieren, ist man pädagogisch wieder im Mittelalter angekommen: Wie schon in den Katechismus-Prüfungen des Konfirmations- oder Kommunionsunterrichts gibt es genau eine richtige, vordefinierte Antwort. Der Lehrer fragt und der Schüler antwortet, was er zuvor auswendig gelernt hat. So hat sich unter Studierenden auch die wenig appetitliche Bezeichnung des "Bulimie-Lernens" eingebürgert: In der Prüfung übergibt man sozusagen die geistige Nahrung, die man in den Wochen davor heruntergeschlungen hat, auf das (standardisierte) Antwortformular. Nach der Prüfung ist vor der Prüfung. Deshalb wird das Gelernte schnell vergessen.