Israel: Der Sozialstaat auf der anderen Seite

Kleiner Siedlungs-Outpost im südlichen Westjordanland. Bild: M. Hoffmann

Während die israelischen Regierungen der vergangenen Jahre einen luxuriösen Sozialstaat jenseits der Grünen Linie aufbauten, wächst die Kritik gegenüber den Siedlungen innerhalb der israelischen Mehrheitsgesellschaft

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Die Entführung von drei Teenagern aus einer Siedlung im Westjordanland hält Israel in Atem. Die drei Jungen im Alter von 16, 16 und 19 Jahren wurden am Donnerstagabend vergangener Woche entführt, als sie von einer von Siedlern stark frequentierten Kreuzung in der südlichen West Bank nach Hause trampen wollten. Der öffentliche Verkehr zwischen den Siedlungen im Westjordanland ist spärlich, Trampen ist vor allem abends eine unter Siedlern übliche Praxis.

Die Regierung Benyamin Netanyahu verkündet, dass nach dem aktuellen Stand der Fahndung die Drahtzieher bei der islamistischen Hamas zu vermuten seien. Die israelische Armee und der Inlandsgeheimdienst Shin Beth führten in den vergangenen Tagen Großrazzien im als Hamas-Hochburg geltenden Hebron und in Nablus durch. Ein Palästinenser kam dabei ums Leben, ungefähr 280 wurden mittlerweile verhaftet - die meisten davon Hamas-Mitglieder.

Zudem wurden 50 Palästinenser, die im Austausch gegen den entführten Soldaten Gilad Shalit freigelassen wurden, wieder verhaftet. Unter den Verhafteten sind auch Mitglieder der Fatah von Mahmoud Abbas. Netanyahu macht die Palästinesische Autonomiebehörde indirekt mitverantwortlich: Durch ihre Entscheidung nach der gescheiterten Friedensinitiative von US-Außenminister John Kerry eine Einheitsregierung mit der Hamas zu bilden, habe sie sich gegenüber einer terroristischen Organisation geöffnet.

Wie meist in Fällen gewaltsamer Eskalationen oder Entführungen erstreckt sich eine Solidarisierungswelle mit den Entführten durch die Breite der israelischen Gesellschaft. Vielerorten finden Mahnwachen und Gebete für die Entführten statt, in den Halbzeitpausen der WM-Spiele wird vom aktuellen Stand der Fahndung berichtet.

Die Entführung ist für die Regierung Benyamin Netanyahus ein Härtetest: Es gilt zu beweisen, wie sehr die Sicherheit jedes einzelnen Bürgers oberstes Credo seiner Regierung ist - wie dies von jedem israelischen Staatschef Mantra-artig wiederholt wird. Unkluge Entscheidungen im Bereich Sicherheit gelten als die Achillesferse jedes Politikers in der politischen Arena des Landes.

Kritische Stimmen werfen Netanyahu jedoch auch vor, dass der mediale Fokus auf die Fahndung für seine Regierung einen willkommenen Nebeneffekt hat: Eine gesellschaftliche Debatte über die Siedlungspolitik wird dadurch aufgeschoben. In Umfragen sinkt die Unterstützung für die Siedlungspolitik innerhalb der israelischen Gesellschaft seit 2009 stetig.

Die Siedlungen: Für eine Mehrheit der Israelis zu teuer

In einer aktuellen Umfrage des Samaria and Jordan Valley Research and Development Center gaben knapp über die Hälfte der Befragten an, dass die Ausgaben für die Siedlungen zulasten des staatlichen Sozialsystems und der Ausgaben für Bildung innerhalb Israels gingen.

Ebenso befürwortet eine knappe Mehrheit der Befragten eine Räumung der Siedlungen als Teil eines umfassenden Friedensschlusses - über 80% nennen jedoch ein komplettes Ende von palästinensischen Terrorakten als unabdingbare Voraussetzung dafür.

Im Gegensatz zu diesem skeptischen Trend gegenüber der Siedlungspolitik, der sich in weiten Teilen der israelischen Gesellschaft abzeichnet, hat die aktuelle Regierungskoalition das Bauen in den Siedlungen jedoch eher beschleunigt als gedrosselt. Der drittgrößte Koalitionspartner von Netanyahus Likud-Beitenu ist die national-religiöse Partei Habayit Hayahudi (Jüdisches Haus), zu deren Stammwählern viele Siedler zählen. Mit Wohnungsbauminister Uri Ariel hat Habayit Hayahudi einen für die Genehmigung von neuen Wohneinheiten in den Siedlungen entscheidenden Schlüsselposten im Kabinett inne. Ein Ja aus dem Amt für Wohnungsbau kann in höherer Instanz nur noch vom obersten Gerichtshof oder der Militärverwaltung des Westjordanlandes durchkreuzt werden.

Doch ein Fortsetzen der Siedlungspolitik war in den vergangenen 20 Jahren nicht alleine ein Markenzeichen rechter Regierungskoalitionen in Israel. Gebaut wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten von allen israelischen Regierungen. Seit 1993, zu Beginn der Friedesprozesses zwischen Yassir Arafats PLO und der Regierung Yitzhak Rabins, ist die Siedlerbevölkerung im Westjordanland und Ostjerusalem von 240.000 auf 560.000 Menschen angestiegen - damit leben heute fast 10% der jüdischen Gesamtbevölkerung Israels hinter der grünen Linie.