Irak: Die kurzsichtige Suche nach dem Schuldigen

Am Streit über den irakischen Premierminster al-Maliki bilden sich altbekannte Frontlinien; währenddessen erobern die ISIL-Dschihadisten weitere wichtige strategische Positionen

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Am Wochenende haben bewaffnete Gruppen unter ISIL-Kommando "alle irakischen Grenzübergange zu Syrien und Jordanien erobert", wird berichtet - nachdem sie zuvor einen wichtigen Verbindungsweg zwischen Irak und Syrien unter ihre Kontrolle gebracht haben.

Von nennenswertem militärischen Widerstand gegen die militärischen Schachzüge der Dschihadisten wird nicht berichtet. Augenblicklich stellt ISIL die stärkste Militärkräfte in einer Zone, welche, unter Absehung der Kurdengebiete, in etwa "Nordmesopotamien" entspricht.

Planlose Gegner?

Wikipedia notiert zu dieser Regionsbezeichnung, dass sie zu den Eroberungen des "frühen Kalifats" gehörte. Historiker werden dazu sicher ergänzende und korrigierende Anmerkungen haben; aber was die Geschichtsfolie nahelegt, ist schwer zu bestreiten: Dass ISIL einem klaren, strategischen Plan folgt, dem keine klaren Pläne bei den Gegnern der Dschihadisten entgegenstehen.

"Lessons learned" war einer der Begriffe, die zu Hochzeiten des Krieges der US-Truppen gegen den Widerstand irakischer Sunniten fast schon täglich in der Berichterstattung auftauchte. Es waren kapitale Fehlannahmen gemacht worden, die schon im frühen Nachhinein kaum zu verstehen waren - angefangen mit der Hoffnung, dass man trotz shock and awe als willkommener Befreier empfangen werden würde, dass demnach auch die für die Invasion nötige Truppenstärke ausreichen würde, da sich die Dinge im Irak nach der Eroberung ja von alleine regeln würden. Dass es in der Schublade keine durchdachten differenzierteren Pläne für die Zeit nach Saddam Hussein gab, offenbarte eine verblüffende Naivität bzw. ein Desinteresse am Land, die bis heute durchscheint.

Es dauerte Jahre, bis die US-amerikanischen Besatzer aus ihren vorgefertigen machtpolitischen Schablonen lösten und tatsächlich die erfahrenen Lektionen im Irak beherzigten, als sie unter der Leitung von Petraeus damit begannen, enge Kontakte mit sunnitischen Stammesführern zu knüpfen, woraus eine militärische Zusammenarbeit mit den "Awakening-Sunniten" entstand, die den Insurgenten den Boden entzog (Das große "Erwachen" im Irak).

Dass die US-Führung, die nach wie vor über größeren Einfluß auf die Regierung al-Malikis verfügt, dem Politiker in den Jahren danach dabei zusah, wie er den neu errungenen Einfluss wichtiger Sunnitenstämme wieder zurückschraubte (Werden aus enttäuschten "Söhnen des Irak" wieder zornige junge Männer?), ist mit Müdigkeit gegenüber irakischen Angelegenheiten zu erklären, mit Überforderung, anderen Prioritäten - und auch der naiven Annahme, dass der Irak kein Krisengebiet mehr ist?

Teile und herrsche mit ISIL?

Der al-Qaida-Ableger islamischer Staat im Irak zeigt in seiner neuen auf Syrien und die Levante (ISIL) erweiterten Form, dass man Lektionen aus den Machtkämpfen im Irak gelernt hat: Wer die Nachrichten über die Eroberung Mosuls gelesen hatte, konnte sich über die Reaktionen in der Stadt wundern. Auf die Dschihadisten-Miliz, die sich im Krieg im benachbarten Syrien einen Ruf als brutale, rücksichtlose Krieger und brutal-fanatische Herrscher in den eroberten Kriegen erworben haben, wurde nicht nur mit Massen-Flucht und Horror reagiert, sondern sie wurden offensichtlich auch als Befreier gesehen. Wie schlimm war dann der Zustand vorher?

Berichte jüngeren Datums schildern die gegenwärtige Atmosphäre in der Stadt als zwar angespannt, aber noch (?) ohne deutliche Anzeichen einer Gewaltdiktatur. Es heißt, dass die ISIL-Kämpfer weitergezogen wären und Bewohner sich die letzten Wasserpfeifen genehmigen, bevor das Rauchverbot mit großer Härte durchgesetzt werde. Ein Lagebild des "Institute for the Study of War Iraq" vom 18.Juni signalisiert, dass sich die drakonische Scharia-Auslegung in Mosul bis dato noch nicht durchsetzen ließ.

Man erinnert sich: ein Grund für die Niederlage des Islamischen Staats im Irak gegen die Koalition des US-Militärs mit den sunnitischen Stammesverbänden lag darin, dass sich al-Qaida-Ableger mit seiner brutalen Härte gegen die Bevölkerung auf keine Unterstützung mehr bauen konnte.

Jetzt kooperieren manche sunnitische Stämme mit ISIL - darunter solche, die bei der "Awakening-Bewegung" dabei waren - offensichtlich mit der Hoffnung auf eine "sunnitische Revolution", bei der sie ISIL "nur" zum miltärischen Verbündeten haben und die ortsansässigen Clans davon unbeeinträchtigt ihre Macht ausbauen können.

Dies wird als "Pakt mit dem Teufel" bezeichnet, von dem man sich verspricht, dass sich damit das Blatt im schiitisch regierten Irak zugunsten einer "sunnitischen Machtübernahme" wenden ließe. Schaut man sich die Erfahrungen an, die Dschihadistengruppen in Syrien mit ISIL gemacht haben, so zeigt sich, dass das Zusammenspiel mit ISIL hochriskant ist.

Die Streitigkeiten zwischen der al-Nusrah-Front und ISIL sowie die Kämpfe zwischen ISIL und anderen Gruppen haben zwar eine ideologische Basis - der Streit über Auslegung und Dimension des Dschihad -, sie entzündeten sich aber vor allem an Machtkämpfen. Die früheren Verbündeten zeigten sich verblüfft darüber, dass ISIL Abgesandte für Vermittlungsgespräche einfach umbrachten, nachdem man zuvor damit konfrontiert wurde, dass ISIL sämtliche Schlüsselstellen in eroberten Gebieten für das eigene Personal reklamierte.

Erste Auseinandersetzungen zwischen ISIL und den militärischen Verbündeten, die der früheren irakischen Baathpartei entstammen, deuten an, dass die Allianzen, die ISIL im Irak stark machen, Bruchstellen haben. Ob die ISIL-Gegner diese zu nutzen verstehen, darauf steht die Antwort noch aus.

Alles besser mit einer neuen Regierung?

Einstweilen verfolgen die USA übliche Routinen: die Suche nach dem Schuldigen, den man in der Person von al-Maliki findet, und die Vorbereitung eines Drohnenkriegs, wofür man 300 Militärberater in den Irak schicken will. In der Frage pro oder contra al Maliki tun sich altbekannte Fronten auf. Iran stellt sich deutlich hinter al-Maliki, was einer lange gemutmaßten Zusammenarbeit zwischen den USA und Iran im Irak einen Riegel vorschiebt, wie auch der oberste Führer al-Khamenei deutlich machte.

Auch Russland und China gaben Zeichen, dass man die Regierung al-Maliki unterstützen will. Die Golfstaaten, deren Öl-und Gas-Oligarchen die syrischen Dschihadisten mitfinanzierten, halten sich erstmal zurück, sprechen sich aber gegen eine militärische Intervention aus.

Den stärksten Verbündeten hat al-Maliki in Muktada as-Sadr. Es geht seinen Milizen um den Schutz schiitischer Heiligtümer, heißt es. Da die Verbindungswege zwischen Iran und Syrien nun unterbrochen sind, geht es Iran um mehr als das. Irak-Experten halten eine militärische Antwort seitens iranfreundlicher Kräfte für nicht unwahrscheinlich.