Der Waffenstillstand, den niemand will

In und um die Ukraine wird gepokert

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Ob und inwieweit Moskau die Separatisten in der Ostukraine direkt unterstützt, ist fraglich. Ebenso unklar ist, welchen Einfluss die russische Regierung auf die Separatisten hat. Da Russland bislang das von den Separatisten intendierte Krim-Szenario verweigert hat und keine Anstalten zu einer Intervention macht, die den Separatisten Hoffnung machen kann, dürfte der Einfluss nicht mehr sehr hoch sein. Das hat sich auch daran gezeigt, dass Russland zwar Teile der Führung der "Volksrepubliken" Donezk und Lugansk dazu bringen konnte, sich dem vom ukrainischen Präsidenten zunächst am Freitag einseitig verhängten Waffenstillstand anzuschließen, um ihn tags darauf praktisch wieder aufzukündigen und dem Zusammenschluss von Donezk und Lugansk zu Neurussland eine Verfassung zu geben. Beide Seiten werfen sich Verletzungen des Waffenstillstands vor.

Aufgrund von der Öffentlichkeit nicht weiter bekannten Informationen, die bekannten sind wie angeblichen russischen Panzer eher als Vermutung zu bezeichnen, sieht Nato weiter lediglich Russland in der Pflicht. Unterstellt wird, dass der Konflikt im Wesentlichen von Moskau geschürt und am Leben gehalten wird. Es ist zwar nur eine symbolische Geste, dass nun der russische Föderationsrat dem Ansuchen von Putin prompt nachgekommen ist, die Anfang März dem Präsidenten erteilte Vollmacht, militärisch in die Ukraine zu intervenieren, wieder zurückzuziehen, aber es war auch eine Geste, die mit der Unterstützung des Waffenstillstands als Beginn von direkten Verhandlungen zwischen den Vertretern der ukrainischen Regierung und der Separatisten gemacht wurde.

Immerhin haben Hollande und Merkel in einem Vierer-Telefongespräch mit Poroschenko und Putin Russland für die Deeskalationsbemühungen gelobt, wie es aus dem Elysee-Palast hieß. Bestärkt wurden Moskau und Kiew auch, die trilateralen Gespräche fortzusetzen, die das nächste Mal mit derselben Besetzung am Donnerstag, einen Tag vor dem Ende des Waffenstillstands, stattfinden sollen. Aber es gibt offenbar Differenzen zwischen Paris und Berlin. Der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Seibert, erwähnte vom Lob nichts, das selbst von Kiew bestätigt wurde, auch wenn dort "konkrete Maßnahmen" zum Stopp von Waffenlieferungen über die Grenze gefordert wurden. Einig war man sich über die Fortsetzung des Waffenstillstands, eine Beobachtung der Grenze durch die OSZE unter russischer Mitwirkung und die Freilassung der Gefangenen. Nur aus dem Kreml hört man hingegen, dass sich Putin für eine Verlängerung des Waffenstillstands eingesetzt hat.

Gleichwohl wurde eben wieder von der Nato einseitig auf Russland gezeigt und die Zusammenarbeit weiter aufgekündigt, bis es "seinen internationalen Verpflichtungen" nachkommt. Nato-Generalsekretär Rasmussen stellte sich so hinter den noch seiner Ausarbeitung harrenden "Friedenplan" und rief nur Russland dazu auf, als gebe es die Menschen in der Ostukraine nicht, die Bedingungen zur Umsetzung des nach der Nato offenbar fertigen Friedensplans zu schaffen, die "Unterstützung der separatistischen zu beenden und den Fluss an Waffen und Kämpfern über die Grenze zu stoppen".

Dabei hatte Poroschenko erst gestern nach dem Abschuss eines Militärhubschraubers bei Slawjansk mit der vorzeitigen Aufkündigung des Waffenstillstands gedroht. Zwar hatte es am Montag trilaterale Gespräche in Donezk unter der Leitung der OSZE gegeben, bei denen die Separatisten zusagten, den Waffenstillstand auch einzuhalten. Kiew will dies aber nicht als Verhandlungen mit den Separatisten verstehen, es gibt auch keinen Druck seitens der EU und der Nato auf Kiew, den Konflikt über Verhandlungen zu lösen. Der Friedensplan, den die Nato "voll" unterstützt, sieht lediglich vor, dass die Separatisten alle Waffen bis Freitag niederlegen - von den Milizen aus der Westukraine, die in der Ostukraine kämpfen und möglicherweise auch den Waffenstillstand gebrochen haben, ist hier nicht die Rede.

Der Rechte Sektor meldete gestern, seine Kämpfer hätten die Ölraffinerie Dolinski bei Kirowograd unter ihre Herrschaft gebracht, um die Separatisten finanziell auszutrocknen. Die Raffinerie gehöre der Familie der nach Russland geflohenen Abgeordneten Ruslan Zyplakow von der Partei der Regionen. Ihr Bruder Sergej sei in der "Volksrepublik Donezk" aktiv. Ob die Aktion mit der Regierung abgesprochen wurde, ist vorerst nicht zu erfahren. Das Beispiel zeigt allerdings, dass die von Kiew im Kampf gegen die Separatisten geförderten und legitimierten Milizen durchaus eine eigenständige Agenda entwickeln können. Der Rechte Sektor, der die Milizenverbände "Asow" und "Dnepr" aufgestellt hat, ist extrem militant-nationalistisch und grenzt sich auch von der EU ab. Jarosch, der Führer des Rechten Sektors, wies darauf hin, dass wichtige Teile der ukrainischen Wirtschaft von russischen Unternehmen dominiert werden. Dagegen unternehme die ukrainische Regierung aber nichts, beispielsweise durch Verstaatlichung. Mit anderen nationalistischen Kräften werde man nun gegen die "wirtschaftliche Besetzung" kämpfen.

Völlig ungeklärt ist, wie Kiew darüber entscheiden will, wem Amnestie gewährt wird. Ebenso offen ist, welche Garantien es für diejenigen gibt, denen ein "sicherer" Korridor nach Russland gewährt werden soll - und ob Russland überhaupt bereit wäre, diese Menschen aufzunehmen. Unklar ist auch, was mit den vielen Menschen in den Behörden und bei den Sicherheitskräften geschehen soll, die nicht gegen die Separatisten unternommen oder mit diesen kooperiert haben. Das alles müsste, will man tatsächlich auf diese Weise eine Lösung finden, durch Gespräche verlässlich geklärt werden. Dass die Separatisten - und wahrscheinlich auch viele prorussische Bürger dem dürren Friedensplan kein Vertrauen entgegenbringen, müsste allen klar sein.

Dazu kommt, dass Poroschenko zwar über eine Verfassungsänderung den Staat stärker dezentralisieren und den Regionen und Kommunen mehr Selbstverwaltungsrechte einräumen will, was allerdings von den Separatisten als nicht weitgehend genug kritisiert wird. Zudem sollen neue Jobs geschaffen werden. Allerdings hat er gestern klar gemacht, dass im Staat einzig Ukrainisch Amtssprache sein soll. Daran zeigt sich wohl auch, dass die nationalistischen Kräfte in Kiew stark sind, Poroschenko selbst hat von "Falken" gesprochen, die eher auf eine harte militärische Niederschlagung der Separatisten drängen.

Man wird sich daran erinnern, dass eine der ersten Taten des umstritten legitimen Parlaments nach der Absetzung von Janukowitsch die Einreichung und Annahme eines Gesetzesvorschlags war, der vorsah, Russisch nicht mehr als Amtssprache gelten zu lassen. Damit wäre ein Gesetz aus dem Jahr 2012 gekippt worden, nach dem Minderheitensprachen in Gebieten zur zweiten Amtssprache werden, wo die Minderheit mehr als 10 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Seitdem war Russisch in Odessa, Kharkiv, Kherson, Mykolaiv, Zaporizhia, Sevastopol, Dnipropetrovsk, Luhansk and Donezk zweite Amtssprache. Betroffen wären aber auch die Minderheitenrechte in einigen Städten in der Westukraine, wo Ungarisch, Rumänisch oder Moldauisch als zweite Amtssprache galten. Der durch die Maidan-Bewegung eingesetzte Regierungschef Jazenzuk, der von Poroschenko bestätigt wurde, hatte den Parlamentsbeschluss zwar nicht anerkannt und das Gesetz nicht umgesetzt, aber damit war dennoch ein Signal gesetzt, dass die Regierung in Kiew rechtsnationalistisch und gegen die russischsprachige Bevölkerung in der Ostukraine ausgerichtet sein könnte, was auch durch die rechtsextreme Partei Swoboda als Teil der Regierungskoalition und Milizen wie dem Rechten Sektor bestärkt wurde.

Alexander Borodaj, Chef der "Volksrepublik Donezk", der zunächst den Waffenstillstand unterstützt hat, kündigte gestern sogar weitere Gespräche mit Kiew auf: "Die ukrainische Seite verstößt gegen die Vereinbarung über die Feuereinstellung. Eine Waffenruhe hat es nicht gegeben, die Feuerpause wird nicht eingehalten… Das, was die Kontaktgruppe erwirkte, hat keine praktische Bedeutung", so zitiert in die russische Nachrichtenagentur Ria Novosti. Borodaj bestätigte überdies, dass die Milizen der Separatisten Panzer, Haubitzen und andere schwere Waffen besitzen, die sie von der ukrainischen Armee erbeutet hätten.