Israel: Netanjahus Koalitionspartner fordern Einmarsch in Gaza

Die drei getöteten Jugendlichen. Foto: israelische Regierung

Die drei im Westjordanland vermissten israelischen Jugendlichen sind tot; nun droht eine Eskalation

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Wahrscheinlich wurden die drei jungen Männer im Alter von zwischen 16 und 19 Jahren bereits kurz nach ihrem Verschwinden getötet, und dann auf einem Feld nordwestlich von Hebron verscharrt. Israels Regierung macht die Hamas dafür verantwortlich und hat die Namen von zwei Palästinensern veröffentlicht, die die drei Jugendlichen, die per Anhalter auf dem Heimweg von Religionsschulen in israelischen Siedlungen waren, entführt haben sollen. Israels Luftwaffe griff kurz nach dem Fund mindestens 35 Ziele im Gazastreifen an; das Kabinett in Jerusalem stritt derweil stundenlang über die Reaktion auf die Ereignisse.

Die rechten Koalitionspartner von Regierungschef Benjamin Netanjahu fordern einen Einmarsch in den Gazastreifen; die Regierungsparteien, die sich dem politischen Zentrum zurechnen, bestehen auf Mäßigung. Denn je stärker die Antwort ausfällt, desto größer die Gefahr einer Eskalation, desto geringer die Chancen, in absehbarer Zeit wieder an den Verhandlungstisch zurück zu kehren.

"Politik und Ermittlungsarbeit auf unzulässige Art und Weise miteinander vermischt"

Die Nachricht schlug mitten zwischen zwei Fußballspielen ein, zu einer Zeit, zu der sich ein Großteil des Landes vor dem Fernseher versammelt hatte: Rechtzeitig zum Ende des ersten Spiels hatte die Regierung eine Nachrichtensperre aufheben lassen, die bis dahin verbot, zu berichten, dass die drei Jugendlichen gefunden worden sind, erschossen, auf einem Feld nordwestlich von Hebron, und nur wenige Kilometer von jenem Ort entfernt, an dem sie in der Nacht vom 12. auf den 13. Juni zuletzt gesehen worden waren.

Nachrichtensperren waren seitdem ein tragendes Element der Medienberichterstattung gewesen, und sind es immer noch. Der reinen Lehre nach sollen sie Ermittlern die Möglichkeit geben, ohne Druck der Öffentlichkeit ihre Arbeit zu machen. Auch die nationale Sicherheit ist immer wieder ein Grund die Veröffentlichung bestimmter Informationen zu verbieten.

Doch in diesem Fall wirkten diese Nachrichtensperren oft so, als seien sie einzig dazu da, um unbequeme Dinge von der Öffentlichkeit fern zu halten, und ein Gesamtbild zu erzeugen, dass in ein bestimmtes politisches Konzept passt.

"Politik und Ermittlungsarbeit werden hier auf unzulässige Art und Weise miteinander vermischt", klagte bereits vor Wochen ein hochrangiger Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes Schin Beth, der anders als der Auslandsgeheimdienst nicht nur Informationen sammelt und auswertet, sondern auch, ungefähr vergleichbar mit dem US-amerikanischen FBI, Ermittlungen vornimmt.

Netanjahu und Schin Beth: Abweichende Ansichten

Über das, was sich zugetragen hat, lässt sich deshalb kaum etwas mit Sicherheit sagen. Wann die Jugendlichen gefunden wurden, und unter welchen Umständen - darüber gibt es verschiedene Versionen: Offiziell wurden die Leichen der drei am späten Montagnachmittag von einem Suchteam auf einem Feld außerhalb von Chalhul nordwestlich von Hebron gefunden, nachdem Analysten des Schin Beth über mehrere Wochen hinweg einen möglichen Fundort nach dem anderen ausgeschlossen hatten, dann eine Nachrichtensperre verhängt haben, um die Angehörigen informieren zu können; erst dann wurde die Nachricht veröffentlicht.

Die drei getöteten Jugendlichen. Foto: israelische Regierung

Die andere Version ist, dass ein private Suchinitiative das Feld absuchte, und dabei auf die Leichen stieß. Welche stimmt, lässt sich nicht sagen.

Viel schwerer wiegt indes die Frage nach den Tätern, und auch hier weichen die Ansichten stark voneinander ab: Aus Sicht von Regierungschef Benjamin Netanjahu ist die Hamas verantwortlich; das Vorgehen entspreche eins zu eins dem modus operandi der Organisation in der Vergangenheit. So habe sich niemand glaubhaft dazu bekannt; die Jugendlichen seien mit dem festen Plan entführt worden, sie zu töten, zu verstecken, und später gegen palästinensische Häftlinge einzutauschen.

Mitarbeiter des Schin Beth hingegen sind hier anderer Ansicht: Mehr als 3000 Häuser seien im Laufe der vergangenen Wochen durchsucht worden, gut 400 Palästinenser aus dem Umfeld der Hamas seien gefangen genommen und befragt worden. Die Informationen, die man dadurch erlangt habe, seien bestenfalls minimal gewesen, und zudem würde man auch erwarten, dass bei einer von langer Hand geplanten Aktion ein Versteck gewählt wird, bei dem ein Fund weniger wahrscheinlicher ist, und das Wind und Wetter weniger ausgesetzt ist.

Ermittler zeichnen ein Bild von einer Gruppe, die plötzlich drei Jugendliche im Auto sitzen hat, und davon überrascht wird, dass Israels Sicherheitskräfte nicht das tun, was sie normalerweise tun - nämlich innerhalb von Minuten eine großangelegte Suchaktion starten. In der betreffenden Nacht missachtete die Polizeileitstelle einen Notruf eines der Jugendlichen und reagierte auch nicht auf Hinweise von Angehörigen. Erst Stunden später wurden die Informationen an den Schin Beth und das Militär weiter geleitet - den Vorschriften nach muss das innerhalb von wenigen Minuten passieren.

Das Politbüro der Hamas, die Kassam-Brigaden und die "reine Lehre"

Für Israels Regierungschef Netanjahu ist der Fall dennoch klar: Aus seiner Sicht war es die Hamas, die verantwortlich ist, und dies ist auch das Bild, das in diesen Tagen der Öffentlichkeit vermittelt wird. Kern seiner Argumentation ist, dass der Schin Beth während seiner Befragungen Hinweise auf zwei junge Männer, die bereits sowohl in israelischen als auch in palästinensischen Gefängnissen saßen, erhalten hat, die mit der Tat im Zusammenhang stehen könnten; beide wurden bereits seit mehreren Wochen nicht mehr gesehen, und gehören den Essedin al-Kassam-Brigaden an.

Die Kassam-Brigaden sind der reinen Lehre nach der militärische Flügel der Hamas. Der allerdings steht bereits seit einiger Zeit im Konflikt mit der politischen Führung im Gazastreifen, die wiederum Streit mit dem von Khaled Maschal geführten Politbüro hat. Es geht dabei um die Haltung gegenüber Israel und die von der Fatah-Fraktion dominierte Regierung in Ramallah.

Die Regierung im Gazastreifen unter der Führung von Ismail Hanijeh hat im Verlauf des vergangenen Jahres eine Art Pragmatisierungsprozess durchgemacht: Nach dem letzten großen Gazakrieg im Herbst 2012 war die dortige politische Führung in einen, wenn auch frostigen, Dialog mit Israel unter ausländischer Vermittlung eingegangen. Man versuchte, den Raketenbeschuss zu unterbinden, indem Einheiten der Hamas-Polizei, mit Einwilligung Israelis, entlang des Grenzzaunes stationiert wurden.

Für das Politbüro, dem praktische Erwägungen und die Lebenssituation der Menschen im Gazastreifen fern sind, aber auch für die über Jahre radikalisierten Kämpfer der Kassam-Brigaden, war diese Entwicklung eine Abwendung von der reinen Lehre. Viele der als unabhängige Zellen organisierten Brigaden wandten sich als Reaktion von der Gaza-Regierung ab. Manche suchten eine größere Nähe zum Islamischen Dschihad, einer anderen militanten Gruppe, die der Hamas nicht wohl gesonnen ist, andere nahmen nur noch Anordnungen vom Politbüro an.

Die Bildung der Einheitsregierung, und der damit einhergehende Verzicht der Gaza-Führung auf eine direkte Beteiligung der Hamas am neuen Kabinett, hat diesen Prozess weiter verstärkt: Vor allem Ismail Hanijeh wird ein politischer Ausverkauf vorgeworfen.

Israelische Regierung nutzte Verschwinden der drei Jugendlichen, um gegen radikale Kräfte auf der palästinensischen Seite mobil zu machen

Aus Sicht Israels sind solche Feinheiten allerdings irrelevant: Die Hamas sei für alles, was im Gazastreifen passiere, verantwortlich, weil sie ihn kontrolliere. Dass sie die Eskalation wolle, werde auch dadurch bewiesen, dass die Raketen, die seit Tagen auf die israelischen Städte und Gemeinden in der Nachbarschaft zum Gazstreifen abgeschossen werden, auch aus Ortschaften heraus abgeschossen werden, die sich komplett unter der Kontrolle der Hamas befinden. Aber: Es sind die Kassam-Brigaden, die dort das Sagen haben, nicht die Hamas-Polizei, und schon gar nicht die neu gebildete gemeinsame Polizei der Einheitsregierung.

So sind es auch ausschließlich Ziele der Kassam-Brigaden, des Islamischen Dschihad und einiger kleinerer, unabhängiger Kampfgruppen, die Israels Militär seit der Nacht zum Sonntag im Gazastreifen angreift; Einrichtungen der palästinensischen Sicherheitskräfte sowie Verwaltungsgebäude werden hingegen, anders als bei voran gegangenen israelischen Militäreinsätzen verschont.

Auffällig ist dabei, dass stets kurz nach den Luftschlägen Einheiten der palästinensischen Sicherheitskräfte anrücken, um die Stellungen zu besetzen. Beobachter vor Ort berichten unabhängig voneinander, die Polizisten würden Material und Waffen abtransportieren; vereinzelt wird auch von Festnahmen berichtet.

Israels Regierung macht keinen Hehl mehr daraus, dass sie das Verschwinden der drei Jugendlichen dazu genutzt hat, um gegen radikale Kräfte auf der palästinensischen Seite mobil zu machen. Und sowohl Fatah als auch die politische Hamas-Führung im Gazastreifen nutzen das für ihre Zwecke aus, so gut es geht. In Gaza will die Hamas die Kassam-Brigaden wieder unter Kontrolle bringen.

Und im Westjordanland lieferten die palästinensischen Sicherheitskräfte Informationen, die zur Gefangennahme von Kassam-Brigadisten, aber auch von Funktionären der politischen Hamas führten. Denn im Zuge der Bildung der Einheitsregierung war in der dortigen Öffentlichkeit immer wieder die Befürchtung geäußert worden, die Hamas könne nun in diesem Landesteil nach mehr Einfluss streben und versuchen, Politik und Gesellschaft dort nach ihren eigenen Vorstellung zu formen.

Siedler: Neues Wir-Gefühl

Auf der israelischen Seite sind die Sielder durch die Art und Weise, wie die Berichterstattung in den vergangenen Wochen gesteuert wurde, derweil ins Zentrum der Gesellschaft gerückt: Es wurde ein Wir-Gefühl erzeugt, wo vor wenigen Wochen nur "Wir und Ihr" waren. Zehntausende, die meisten davon säkulare Israelis aus dem israelischen Staatsgebiet, kamen am Sonntag zu einer Solidaritätskundgebung auf dem Rathausplatz in Tel Aviv; die Jeschiwah-Schüler, die noch vor Kurzem marginalisiert und häufig auch offen beschimpft wurden, weil sie häufig keinen Wehrdienst leisten, sind zu "unsere Jungs" geworden.

Bei voran gegangenen Gewalttaten gegen Israelis im Westjordanland war die öffentliche Reaktion so gut wie immer verhalten: Die Menschen nahmen die Nachricht zur Kenntnis, reagierten aber nicht emotional. Dieses Mal hingegen ist die Wut groß, und hat auch jene erreicht, die den Siedlungen kritisch gegenüber stehen.

Dazu beigetragen hat nicht nur die Medienberichterstattung, sondern auch, dass das Tramping, das Fahren per Anhalter, fester Bestandteil des Lebensstils junger Israelis ist: Die Busverbindungen sind, nicht nur im Westjordanland, schlecht, und der Autostopp ist oft die einzige Form der Fortbewegung. Das Verschwinden der drei Jugendlichen, zumal sie sich im C-Gebiet, also jenem Gebiet unter israelischer Zivil- und Sicherheitskontrolle zutrugen, hat vielen Israelis die Gefahren deutlich vor Augen geführt.

Forderung nach deutlichen Reaktionen

Durch all' dies ist in der Region eine explosive Situation entstanden: In der israelischen Öffentlichkeit erwartet man nun eine militärische Reaktion; die Rechte fordert zudem eine harte Reaktion: Ihr sind die mehr als 40 Luftschläge gegen den Gazastreifen, die allein seit Montag abend geflogen wurden, nicht genug.

Man müsse nun die Hamas "zerstören", fordert der Vorsitzende der rechten Partei "HaBajit HaJehudi", Wirtschaftsminister Naftali Bennett, während die Koalitionsparteien aus dem Zentrum Mäßigung einfordern. Viele Stunden stritt das Kabinett in der Nacht zum Dienstag über das weitere Vorgehen.

Auf der palästinensischen Seite steigt mit jedem israelischen Angriff die Spannung zwischen Hamas und Fatah, weil die Spannungen zwischen dem militanten Flügel der Hamas und der politischen Führung dadurch, und auch durch den Einsatz der palästinensischen Sicherheitskräfte gegen palästinensische militante Gruppen, ständig steigen; der Hamas sind die Verurteilungen der Militäreinsätze durch Präsident Mahmud Abbas nicht genug. Sie fordert, er solle die Sicherheitskooperation mit Israel sofort einstellen, und die Sicherheitskräfte aus dem Ganzen heraus halten, sonst werde man wieder die alleinige Kontrolle in Gaza übernehmen.

In Washington herrscht derweil Ernüchterung: Neun Monate lang hatte sich US-Außenminister John Kerry mit einem Team von mehr als 150 Diplomaten und Analysten um ein Verhandlungsergebnis zwischen Israelis und Palästinensern bemüht, und es auch noch weiter versucht, nachdem schon alles gescheitert schien. Am Dienstagmorgen wurden die in der Region verbliebenen Team-Mitglieder zurückbeordert.