Haben israelische Ultra-Rechte einen arabischen Jugendlichen ermordet?

Ausschreitungen und Riotpolice. Bild: Polizei

Nach der Beerdigung der drei ermordeten israelischen Jugendlichen ist es in Jerusalem zu Ausschreitungen gekommen

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In einem Wald außerhalb von Jerusalem ist am Mittwoch morgen die Leiche eines 16jährigen Arabers gefunden worden; er wurde Opfer eines Gewaltverbrechens. Der Jugendliche war nach Angaben von Augenzeugen zuvor an einer Kreuzung in Schuafat zwischen Jerusalem und Ramallah in einen Wagen gezerrt worden. In der arabischen Ortschaft kam es direkt nach dem Eintreffen der Todesnachricht zu Ausschreitungen, gegen die die israelische Polizei mit Tränengas und Gummgeschossen vorging.

Die Menschen in Schuafat vermuten einen Racheakt rechter Israelis für die Ermordung von drei Jugendlichen im Westjordanland hinter der Tat - eine Befürchtung, die auch viele israelische Politiker und Angehörige der Sicherheitsdienste teilen. Denn am Tag zuvor hatte nach der Beerdigung der drei Jugendlichen im Westen Jerusalems ein wütender Mob Jagd auf Araber gemacht; nur mit Mühe konnte die Polizei die Menschenmenge unter Kontrolle bringen. Nun geht in Israel die Angst um, dass die Lage nicht nur in den palästinensischen Gebieten, sondern auch in Israel eskalieren könnte.

Von Schuafat zum Jerusalemer Stadtwald ist es ein weiter Weg. Man muss quer durch den Westteil von Jerusalem fahren, bevor man, an der Holocaust-Gedenkstätte Jad Vashem und dem Hadassah-Krankenhaus von Ein Kerem vorbei, in dem beliebten Naherholungsgebiet ankommt, das so weit entfernt von der Hektik und Anspannung Jerusalems entfernt wie nur irgendwie möglich ist.

Irgend jemand hat sich am frühen Mittwoch morgen auf diesen Weg gemacht, nur um einen 16jährigen arabischen Jugendlichen zu erschießen. "Auch wenn es noch keine Anhaltspunkte bezüglich der Täter gibt", so ein Fahnder der Staatspolizei, "die Parallelen zum Mord an den drei Jugendlichen sind nicht von der Hand zu weisen." Der junge Mann war um kurz vor vier Uhr morgens in einen Wagen gezerrt worden, der dann davon raste, wie Augenzeugen umgehend der Polizei berichteten. Der 16jährige wurde dann, wie auch die drei Israelis, durch einen oder mehrere Schüsse aus der Nähe getötet.

Ermittelt wird in alle Richtungen

Offiziell wird in alle Richtungen ermittelt, also geprüft, ob das Opfer möglicherweise mit Straftätern in Verbindung steht, oder ob ein sogenannter "Ehrenmord" verübt worden sein könnte. Doch kaum jemand glaubt an diese Möglichkeiten. In Ost-Jerusalem hat es schon seit mehr als zehn Jahren keinen "Ehrenmord" mehr gegeben, und auch im Westjordanland ist die Zahl der Fälle drastisch gesunken, seit sowohl die palästinensischen als auch die israelischen Behörden massiv dagegen vorgehen - was aber auch dazu geführt hat, dass sich im Jahr 2013 die Zahl der aktenkundig gewordenen "Ehrenmorde" (26 in den palästinensischen Gebieten, einer in Israel) verdoppelt, und die Fälle von häuslicher Gewalt verdreifacht haben.

Denn seit Beginn vergangenen Jahres sind Ärzte und Verwaltungsmitarbeiter hüben und drüben dazu verpflichtet, alle Anhaltspunkte auf ein solches Verbrechen an die Polizei weiter zu melden. Darüber hinaus wurden Mechanismen eingeführt, die bei Anzeichen auf familiäre Konflikte schlichtend und moderierend greifen sollen. Dazu zählt beispielsweise, dass örtliche religiöse Authoritäten die Betroffenen ansprechen, und gemeinsam mit ihnen nach Lösungen suchen.

Der getötete Jugendliche hatte aber weder eine Akte bei der Polizei, noch war seine Familie in Streitigkeiten verwickelt. Und so wurden Israels Sicherheitsorgane, und noch so viel mehr so die Politik, von der Möglichkeit aufgeschreckt, dass es sich bei der Tat um einen willkürlichen Racheakt durch gewaltbereite rechte Israelis handeln könnte - eine Befürchtung, die auch dadurch genährt wird, dass der Schin Beth, Israels Inlandsgeheimdienst, ziemlich schnell, nachdem die Eltern ihren Sohn, der sich auf den Weg zum Gebet in einer nahe gelegenen Moschee gemacht hatte, als vermisst gemeldet hatten, die Informationen lieferten, die die Polizei brauchte, um eine Suchaktion im entfernten Jerusalemer Wald zu starten. Der Schin Beth aber ermittelt nur in Fällen der Organisierten Kriminalität und der politisch motivierten Gewalt.

Die ultra-rechte Szene

Bislang lag das Hauptaugenmerk der Geheimdienstler dabei auf dem palästinensischen Terrorismus gegen Israel, auch wenn man der reinen Lehre nach auch den Auftrag hat, jüdische und nationalistische Extremisten im Auge zu behalten. Nur: Bislang wurde diese Aufgabe eher stiefmütterlich verrichtet. Nachdem Baruch Goldstein 1994 am Grab des Patriarchen in Hebron 29 Palästinenser erschossen hatte, und dann im Jahr darauf der jüdische Extremist Jigal Amir den Regierungschef Jitzhak Rabin ermordet hatte, wurde die betreffende Abteilung zunächst massiv aufgestockt.

Vor allem die als terroristische Vereinigung verbotene Kach-Bewegung wurde in der Zeit danach aufmerksam beobachtet und infiltriert, bis sie dann Ende der 90er Jahre für irrelevant erklärt wurde. Rabbi Meir Kahane war bereits 1990 in Brooklyn ermordet worden; ein Nachfolger für den Gründer der radikalen Gruppe fand sich nicht. Zwar schlossen sich immer mal wieder Jugendliche der Bewegung an, beschränkten sich aber darauf, bei Spielen des Jerusalemer Fußballclubs Beitar Jeruschalaijim 90 Minuten lang monoton "Der Schiedsrichter ist ein Hurensohn" zu rufen und sich einen Davidsstern in die Haare rasieren zu lassen.

Ab und zu gab es mal eine Schlägerei mit den Anhängern von Bnei Sakhnin, einem arabischen Verein in der israelischen Liga, aber das, so erklärte Benjamin Netanjahu, als er Ende der 90er das erste Mal Regierungschef war, "kann auch die Polizei regeln". Aus Gründen der Kostenersparnis wurde die Abteilung auf ein Minimum heruntergefahren, wurde aber während der rechten Massendemonstration vor der Räumung der israelischen Siedlungen im Gazastreifen noch einmal wiederbelebt, und dümpelte schließlich jahrelang vor sich hin, obwohl sowohl die Chefs der Polizei als auch die Direktoren des Schin Beth immer mal wieder, wenn sie auf Politiker trafen, auf das Gewaltpotential am rechten Rand der israelischen Rechten hinwiesen: Es hatte in den Jahren nach der Hitnakduth, der Räumung des Gazastreifens, Anschläge auf arabische Kindergärten und Schulen gegeben, im Westjordanland wurden Soldaten von Siedlern angegriffen.

Aus Sicht der Regierungspolitik, ganz gleich, ob sie von Ariel Scharon, Ehud Olmert oder von Netanjahu geführt wurde, waren dies die Taten von Einzeltätern, die stets auch schnell festgenommen wurden. Dabei bildete sich in diesen Jahren nach Gaza eine völlig neue Struktur in der ultra-rechten Szene heraus: Aus einer recht großen Gruppe, also der Kach, wurde eine recht große Zahl von kleinen Gruppen, in denen sich die Gruppenmitglieder gegenseitig radikalisieren.

Der Katalysator war dabei die Gaza-Räumung. Jugendliche und junge Erwachsene aus dem Umfeld der Siedlerbewegung, die von frühen Kindesbeinen an gelernt hatten, dass das Land von Gott gegeben sei, erlebten mit, dass sich die etablierte Führung der Siedlerbewegung auf Massenproteste verließ, und dabei bereits mit der Politik über die Modalitäten der Siedlungsräumungen verhandelte.

Extremer Radikalisierungsgrad

Dass die Bewohner der geräumten Sieldungen danach dann jahrelang in Wohnwagenparks lebten, sich die sozialen Verhältnisse dort zuspitzten, trug zur Radikalisierung bei. In diesen Jahren verdoppelte sich die Zahl der sogenannten Namalim: Israelische Jugendliche und junge Erwachsene, die eigene Kleinsiedlungen auf Hügeln im Westjordanland gründen und dort dem Einfluss durch Erziehungsberechtigte, religiöse Authoritäten, Behörden oder Militär komplett entzogen sind.

In einem Bericht des Militärs wird der Radikalisierungsgrad der Namalim als "extrem" bezeichnet, ein Rabbiner, der selbst im national-religiösen Spektrum angesiedelt ist, beklagt, diese Jugendlichen hätten eine Mentalität von "alle sind gegen uns"; die Behörden hätten dabei zugeschaut - auch, weil die Gefahr besteht, dass jedes Vorgehen gegen nach israelischem Recht ohne Genehmigung gebaute Siedlungen in Gewalt ausartet, wobei die Behörden es schon wollen würden.

Nur die Politik ziert sich, aus Sorge vor Fernsehbildern, auf denen zu sehen ist, wie schwer bewaffnete Soldaten und Polizisten jüdische Jugendliche mit Gewalt in Busse zerren. Solche Bilder versetzen die Siedlerbewegung in Aufruhr, und können Koalitionen zerstören. Denn die Partei der Siedler, die sich seit einiger Zeit Habajit HaJehudi, "Das jüdische Heim" nennt, ist auf die Wählerstimmen aus den Siedlungen angewiesen: sieben ihrer zwölf Sitze stammen von dort.

Im Laufe der vergangenen beiden Jahre häuften sich im Westjordanland die Übergriffe auf palästinensischen Besitz: Moscheen wurden zerstört, Hauswände mit rechten Parolen beschmiert, auch Militärmaterial wurde immer wieder zum Ziel von Angriffen. "Preissschild" nennen die Ultra-Rechten diese Kampagne: Israels Politik soll damit auf den Preis aufmerksam gemacht werden, den eine Räumung weiterer Siedlungen kosten würde, wobei in rechten Pamphleten und Internetforen stets betont wurde, die Angriffe sollten sich strikt auf Vandalismus beschränken.

Angst, dass der Konflikt aus den Palästinensischen Gebieten heraus auf die Straßen Israels getragen wird

Nachdem veröffentlicht wurde, dass die drei Jugendlichen tot aufgefunden wurden, änderte sich der Tonfall in den betreffenden Foren schlagartig: Zunächst wurde darüber diskutiert, dass nun ein wirklich harter Schlag gegen die Hamas, gegen den Gazastreifen, folgen müsse, man müsse nun Palästinenser töten, "für jedes Haar, dass den Jungs gekrümmt wurde, einer". Und nachdem die Regierung dann, nach sehr langer Debatte beschlossen hatte, zunächst einmal Zurückhaltung zu üben, eskalierten die Emotionen, bis sie kurz vor der Beerdigung der drei Jugendlichen am Nachmittag den Siedepunkt erreichten.

Nach der Beerdigung zog dann ein Mob durch das Zentrum West-Jerusalems in Richtung der Altstadt, und griff Araber an. Nur mit Mühe gelang es der Polizei, die Menge zurückzudrängen, sie davon abzuhalten, in die arabische Altstadt zu gelangen und die Angegriffenen zu schützen - recht oft vergeblich: Mindestens 30 Menschen wurden verletzt. Man sei davon völlig überrascht worden, sagen Polizisten, die Sicherheitsanalyse für diesen Tag hatte eine eher traurige und gedrückte Stimmung vorhergesagt.

In der Politik sorgten die Ereignisse in Jerusalem für helle Aufregung: Man befürchtet, dass der Konflikt aus den Palästinensischen Gebieten heraus auf die Straßen Israels getragen wird. Denn für viele Araber ist längst klar, was zum Tod des Jugendlichen geführt hat. Direkt nach dem Bekanntwerden der Nachricht kam es auch in Ost-Jerusalem zu Ausschreitungen; vereinzelt wurde Molotow-Cocktails geworden, zudem wurden Autos und Straßenbahnhaltestellen zerstört.

Kaum ein Politiker, der der Familie nicht bereits bis zum Mittag sein Mitgefühl ausgedrückt hatte, während die Sicherheitsbehörden eine mehr als 100köpfige Sonderkommission gründeten, die die Täter suchen und weitere Taten verhindern soll, nachdem Regierungschef Netanjahu den Minister für innere Sicherheit Jitzhak Aharonwitsch öffentlich angewiesen hatte, mit Nachdruck gegen den Hass vorzugehen:

Israel ist ein Rechtsstaat, und wir werden nicht akzeptieren, dass Leute das Recht in die eigene Hand nehmen.

Die Ultra-Rechten stachelt dies indes nur noch weiter an: In den einschlägigen Foren wird nun über die vielen Beileidsbekundungen aus dem In- und Ausland gewütet - im Fall der drei Jugendlichen habe es Wochen gedauert, bis jemand die Tat verurteilt habe.