Eskalation in Gaza

Die israelische Armee führt auch einen Medienkrieg. Bild: IDF

Israels Militär hat die Militäreinsätze ausgeweitet; auch der Raketenbeschuss auf Israel hat zugenommen

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Die Wahrscheinlichkeit einer israelischen Bodenoffensive ist stark gestiegen: Am Dienstag Nachmittag ordnete Israels Sicherheitskabinett die Mobilisierung von 40 000 Reservisten an. In der Nacht zuvor hatte die Luftwaffe die Angriffe auf den Gazastreifen ausgeweitet: Mehr als 100 Einsätze wurden bis zum Dienstag Abend geflogen; dabei starben nach Angaben palästinensischer Rettungskräfte mindestens 21 Menschen; mindestens 71 wurden verletzt. Die palästinensischen Kampfgruppen verstärkten derweil den Raketenbeschuss: Mindestens 100 Geschosse wurden seit Montag Abend abgefeuert; die Zahl der Opfer auf der israelischen Seite ist momentan noch gering. Allerdings erreichten die Raketen am späten Abend - trotz Abwehrschirm - auch Jerusalem.

Die Wirtschaft erleidet schweren Schaden: Der Hafenarbeiter in Aschdod legten auf Anordnung der Gewerkschaft die Arbeit nieder. Israels Rechte fordert nun, die Bodentruppen bald los zu schicken, und wirft Regierungschef Benjamin Netanjahu Zauderei vor. Am Montag war es deshalb zum offenen Schlagabtausch zwischen ihm und Außenminister Avigdor Liebermann gekommen; der Vorsitzende der rechtspopulistischen Jisrael Beitenu hatte in der Folge das Wahlbündnis seiner Partei mit Netanjahus Likud-Block aufgekündigt.

Die Wirklichkeit holt den "Friedensprozess" ein: Der nächste Krieg naht

Es wird wohl einer der letzten Auftritte von Schimon Peres in seiner Eigenschaft als Präsident gewesen sein. Schon in wenigen Tagen wird er das Amt an seinen Nachfolger Reuven Rivlin übergeben. Am Montag hatte ihm der Inlandsgeheimdienst Schin Beth, der auch für den Personenschutz der israelischen Spitzenpolitiker zuständig ist, regelrecht verboten, das Trauerzelt der Eltern des Mitte vergangener Woche ermordeten arabischen Jugendlichen zu besuchen: "zu gefährlich", war die Ansage, nachdem die Personenschützer wegen ihres agressiven Auftretens bei einer Besichtigung der Örtlichkeit beschimpft worden waren.

Nun steht Peres am Dienstagmorgen in Tel Aviv vor der von der linksliberalen Tageszeitung Ha'aretz organisierten Friedenskonferenz, spricht von der Notwendigkeit, Frieden zu wagen, und widerspricht all' denjenigen, die nicht daran glauben, dass es auf der palästinensischen Seite einen Partner für Frieden gibt:

In der Geschichte des Konflikts gab es niemals einen Partner wie Abbas.

Gleich im Anschluss wird der palästinensische Präsident den Anwesenden per voraufgezeichnetem Video-Interview sagen, die Zeit für den Frieden sei gekommen.

Am Ende des Tages, als Peres längst ins Präsidialamt in Jerusalem zurück gekehrt ist, und Mahmud Abbas in einer Dauersitzung mit seiner Regierung sitzt, wird die Wirklichkeit die Konferenzteilnehmer einholen. Gegen 19 Uhr ertönen im Zentrum von Tel Aviv die Luftsirenen; kurz darauf wird bekannt gegeben, dass das Luftabwehrsystem "Eiserne Kuppel" über Tel Aviv Raketen abgefangen und zerstört hat.

Der Inlandsflughafen Sde Dov im Norden der Metropole wird geschlossen; die Verwaltung des internationalen Flughafens Ben Gurion warnt die Fluggesellschaften, eine Schließung sei möglich, falls sich die Lage weiter zuspitzt. Auch der Zugverkehr in den Süden des Landes wird eingestellt: Für Israel naht die Zeit des Krieges, später werden Einschläge auch in der Hauotstadt, in Jerusalem gemeldet.

Die Reservisten werden mobilisiert

An der Grenze zum Gazastreifen wurde derweil ein massives Militäraufgebot zusammen gezogen; die Bilder erinnern an die Zeit vor dem letzten großen Gaza-Krieg im Herbst 2012. Israelische Panzer wurden ins Grenzgebiet befordert; Tausende Soldaten sind aufmarschiert, und in den kommenden Tagen werden wohl Zehntausende hinzukommen: Am Dienstag Nachmittag hatte das Sicherheitskabinett in Jerusalem die Mobilisierung von 40 000 Reservisten angeordnet.

Das "Sicherheitskabinett" ist in Israel eine Art nationaler Sicherheitsrat, dem meist aus politischen Gründen ausgewählte Minister angehören. Hier werden die Entscheidungen über Krieg und Frieden gefällt, während der eigentliche Nationale Sicherheitsrat nur beratende Funktion hat. Die Entscheidung vom Dienstag bedeutet aber nicht, dass man erwartet, dass auch tatsächlich 40.000 Reservisten die Uniform anziehen: Bei solchen Beschlüssen wird grundsätzlich immer mit einberechnet, dass sich eine bestimmte Zahl von Mobilisierten gar nicht, krank oder als unabkömmlich meldet.

Dementsprechend dürfte der Generalstab in seinen Planungen mit um die 32.000 zusätzlichen Soldaten rechnen, wovon dann aber noch einmal die Soldaten des Heimatschutzes abgehen. Der Generalstab dürfte also einen Kampfeinsatz mit an die 18.000 Soldaten planen - was darauf hindeutet, dass die umfangreichste Bodenoffensive in Gaza seit der Räumung der israelischen Siedlungen dort im Sommer 2005 bevorstehen könnte.

Noch findet der Militäreinsatz ausschließlich aus der Luft statt: Es werden Angriffe gegen Einrichtungen militanter Gruppen geflogen; auch die für längere Zeit eingestellte Praxis der gezielten Tötungen wurde wieder aufgenommen.

Am Dienstagmorgen wurde der Wagen des Kommandeurs der Marineeinheit der Essedin al-Kassam-Brigaden, die dem im Ausland ansässigen Politbüro der Hamas nahe stehen, angegriffen; der Kommandeur und fünf weitere Personen starben. Kurz zuvor waren die Häuser von mindestens zwei weiteren Kommandeuren der Brigaden unter Beschuss genommen worden.

Neben den beiden Funktionären starben sechs weitere Personen. In allen drei Fällen lässt sich nicht verifizieren, ob es sich bei den weiteren Todesopfern um Kämpfer oder Zivilisten handelt, Insgesamt wurden von Montagabend bis Dienstagabend nach Angaben der palästinensischen Rettungsdienste mindestens 21 Menschen getötet und 71 Menschen verletzt.

Die Raketenangriffe

In diesem Zeitraum wurden nach Angaben des israelischen Militärs mehr als 100 Luftangriffe geflogen; die Zahl der Raketenabschüsse habe in dieser Zeit bei mindestens 120 gelegen. Die Zahl der Opfer ist auf der israelischen Seite bislang gering: Tote waren bis zum Abend nicht zu beklagen; die Krankenhäuser berichten von Verletzten, die meisten davon litten unter Schocks, im "oberen zweistelligen Bereich".

Der Grund für die relativ geringe Zahl an Opfern ist, dass die Menschen in den Jahren des ständigen Raketenbeschusses die Reaktion im Ernstfall verinnerlicht haben und zudem mehr Luftschutzräume zur Verfügung stehen. Jahrelang hatten die Menschen in der Region dafür gekämpft, dass die Kapazitäten ausgebaut werden; nun scheint es, als habe man endlich ausreichend Fluchtmöglichkeiten - ein trügerischer Schein. Denn in der derzeitigen Situation kommt zugute, dass gerade Schulferien sind: In sehr vielen Schulen stehen bis heute keine Luftschutzräume zur Verfügung.

Der Zeitpunkt

Sowohl der Gazastreifen als auch die israelische Region in der Nachbarschaft sind die ärmsten Regionen im jeweiligen Land. In Gaza, mit seiner hohen Arbeitslosenrate und ständiger Knappheit an allem, hatten die Menschen durch die Bildung der Einheitsregierung auf wenigstens etwas Erleichterung gehofft. Und jenseits der Grenze hatte sich die Wirtschaft wenigstens etwas erholt, war die ebenfalls recht hohe Arbeitslosenquote wieder gesunken, nachdem sich sogar ein paar neue Unternehmen angesiedelt hatten.

Denn es herrschte Ruhe mehr als eineinhalb Jahre lang: Seit dem Ende des Gaza-Krieges 2012 und dem Beginn der Eskalation nach dem Verschwinden der drei israelischen Jugendlichen Mitte Juni 2014 wurden gerade einmal mindestens 23 Raketen auf Israel abgefeuert, die Splittergruppen zugeschrieben wurden, von denen man ausgeht, dass sie dadurch Forderungen gegenüber der Hamas-Regierung Ausdruck verleihen wollten.

Damals hatten sich Hamas und Israel auf ägyptische Vermittlung hin auf einen Waffenstillstand nach der Formel "Ruhe gegen Ruhe" geeinigt; Israel öffnete zudem die Grenze ein Stück weit für Warenlieferungen. Menschen und Wirtschaft vertrauten darauf, dass dies so bleiben wird.

Nun ist alles wieder auf Anfang, und in der israelischen Grenzregion fordern die Menschen die Bodenoffensive, damit der Raketenbeschuss aufhört; denn dass sich die Hamas noch einmal auf einen Waffenstillstand einlassen wird, das glaubt hier kaum jemand.

Für die Kassam-Brigaden ist mit der Tötung ihrer Kommandeure der Punkt erreicht, an dem man nicht mehr zurück kann; ob sich die politische Führung auf einen Waffenstillstand einlassen würde, das ist nun irrelevant geworden. Offen sprechen Hamas-Politiker von den Schwierigkeiten, Einfluss auf die Kampfgruppen zu nehmen: Dort stünden die Zeichen nun auf Krieg; wie auch Israels Rechte seien die Brigadisten der Ansicht, Waffenstillstände hätten sich nicht bewährt.

Kritik an Netanjahu - Dieser Regierung stehen stürmische Zeiten bevor

Auffällig ist, dass eine der sonst üblichen Reaktionen in Israel auf Krisensituationen wie dieser dieses Mal fehlt: Man hat sich nicht hinter die Regierung gestellt. Nicht die Medien, nicht die Öffentlichkeit, und auch nicht die Politik. Netanjahus Krisenmanagement gilt als unterirdisch; immer wieder wird sein Vorgehen von Sicherheitsexperten öffentlich kritisiert.

Vor allem, dass Netanjahu sehr schnell nach dem Verschwinden der drei, später ermordet aufgefundenen israelischen Jugendlichen die Hamas für die Tat verantwortlich machte, dabei kategorisch ausschloss, dass möglicherweise eine unabhängige Gruppe dahinter stecken könnte. Dann kündigte er die Veröffentlichung von Beweisen an, die bis heute nicht vorgelegt wurden.

Und auf dieser Grundlage ordnete er dann den größten Militäreinsatz im Westjordanland seit Jahren an, der, wie er selbst eingesteht, nicht vorrangig der Suche nach den Vermissten diente, und dann befahl er die ersten Luftangriffe auf Gaza - all' dies stößt vor allem bei Vertretern der Geheimdienste auf Kritik, wie bei Juwal Diskin, dem ehemaligen Chef des Schin Beth:

Es ist eine Illusion zu glauben, dass die Palästinenser in Ehrfurcht erstarren, wenn das israelische Militär kommt. Die Ergebnisse einer Aktion sind Reaktion und Aggression.

Ein Kommentator des Militärrundfunks äußert derweil den Eindruck, dass die Ausweitung der Luftangriffe vor allem passiert, um die Koalition zusammen zu halten - ein Eindruck, den auch viele Parlamentsabgeordnete auch aus dem Regierungslager haben.

"Mit Entsetzen", sagt Yitzhak Herzog, Vorsitzender der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, habe er zur Kenntnis genommen, wie sich die Netanjahu mit seinen rechten Koalitionspartnern einen Kleinkrieg liefert; er habe den Eindruck, dass seine Handlungen vor allem darauf abzielen, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen, ein Plan sei nicht erkennbar.

"Die Situation ist extrem brenzlig; wir haben Krawalle auf den Straßen; junge Menschen werden ohne erkennbaren Grund ermordet", sagt er:

Wir brauchen einen Regierungschef, der besonnen handelt, und sich nicht zum Spielball politischer Interessen macht.

Der Konflikt zwischen Netanjahu und Lieberman

Tage lang hatten Netanjahu und sein Außenminister Avigdor Liebermann sich via Medien über Art und Umfang eines Militäreinsatzes im Gazastreifen gestritten: Liebermann warf Netanjahu immer wieder vor, zu zögern, nachdem der Regierungschef sofort nach der Nachricht vom Verschwinden der Jugendlichen ein hartes Vorgehen gegen die Hamas angekündigt hatte. Als die beiden dann am Montagmorgen zur Kabinettssitzung zusammen trafen, kam es zu einem sehr öffentlichen Streit zwischen den beiden, deren Parteien seit den Wahlen im Januar 2013 in einem Wahlbündnis verbandelt waren.

Zuerst ging Netanjahu vor laufenden Kameras Liebermann und Handelsminister Naftali Bennett, Chef der Siedler-Partei "Jüdisches Heim" an: Liebermann solle gefälligst zu den Kabinettssitzungen erscheinen und seine Meinung nicht über die Medien mitteilen lassen. Man müsse in dieser Situation verantwortungsbewusst und mit kühlem Kopf handeln und keine Aufwiegelung betreiben. Liebermann gab zurück, er habe eine Sitzung verpasst, weil er da gerade in Berlin gewesen sei. Außerdem warf er Netanjahu vor, er sage Dinge, die er nicht umsetze, während er selbst immer schon das gesagt habe, was er nun fordere.

Kurz nach dem Schlagabtausch kündigte Liebermanns Partei Jisrael Beitenu dann Netanjahus Likud-Block das Wahlbündnis auf - es ist das allererste Mal in der Geschichte des Staates Israel, dass so etwas in einer Krise geschieht: Die bisherige Fraktion von 31 Abgeordneten hat sich damit in eine 20köpfige Likud- und eine elfköpfige Jisrael Beitenu-Fraktion aufgespalten. Die Knesseth hat 120 Sitze.

Dieser Regierung stehen stürmische Zeiten bevor. Denn zwar wollen die Liebermann-Leute weiterhin in der Regierung bleiben. Doch wie die Zusammenarbeit funktionieren soll, das weiß niemand so genau. Zudem knistert es auch zwischen der zentristischen Jesch Atid des ehemaligen Fernsehmoderators und derzeitigen Finanzministers Jair Lapid und der Siedlerpartei "Jüdisches Heim" von Handelsminister Naftali Bennett, seitdem Frau Bennett auf Lapids Facebook-Seite nach gefragt hat, wann Lapid denn endlich aufhöre, die Ideen von Herrn Bennett zu klauen und als seine eigenen auszugeben.

Mit der Ausweitung des Militäreinsatzes in Gaza hat Netanjahu nun zunächst einmal den Auszug der Parteien von Liebermann und Bennett abgewendet.

Riskanter Militäreinsatz und kein Plan

Doch es ist ein Militäreinsatz, der sehr viele Gefahren birgt: So wird Präsident Abbas bei den Palästinensern immer unbeliebter; einer Umfrage zufolge unterstützen ihn nur noch zehn Prozent der Palästinenser. Hauptkritikpunkt ist vor allem das, wofür er von Peres am Dienstag gelobt wurde: Er stehe Israel zu nahe, wird ihm vorgeworfen, was aber nicht bedeutet, dass die Palästinenser die Entführung und Ermordung der drei Jugendlichen gut heißen.

73 Prozent lehnen die Tat ab. Vielmehr wünscht man sich, dass er öfter mal Israels Regierung die Stirn bietet. Seine Werte waren am Besten, als er zu den Vereinten Nationen ging, sich später nicht vom israelischen Drängen auf eine Fortsetzung der Verhandlungen trotz der ständigen Ankündigungen weiterer Siedlungsbauten beeindrucken ließ, auch wenn seine politischen Lebenszeichen nie besonders deutlich zu spüren waren.

Es ist vor allem seine Kooperation mit Israels Regierung trotz der Militäreinsätze, die die Stimmung in der Öffentlichkeit zum Kochen gebracht hat. Die Ausschreitungen der vergangenen Tage in Israel und Ost-Jerusalem haben in seinem Team die Befürchtung wachsen lassen, dass sich eine weitere Intifada auch gegen den eigenen Präsidenten richten könnte.

Und weder Israel noch die Palästinensische Befreiungsorganisation haben einen erkennbaren Plan dafür, was nach Abbas und nach einem Aus durch Militäreinsatz für die politische Führung der Hamas in Gaza passieren soll. Man hat sich Jahre lang so sehr darauf verlassen, dass alles so bleibt wie es ist, hat zwar darüber geredet, dass die Hamas weg muss, aber nie einen Plan für den Ernstfall entwickelt.