Zahl oder stirb!

Das Gesetz des Dschungels in der griechischen Medizinversorgung

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Dass es mit Griechenlands medizinischer Versorgung nicht zum Besten steht, ist mehr oder weniger bekannt. Wie sehr gesundheitlich eingeschränkte Menschen unter den Folgen einer falschen Politik zu leiden haben, wird am Besten mit Praxisbeispielen deutlich. Die missliche Lage der Menschen ist nicht nur auf die Kreditgebertroika zurückzuführen. Vielmehr scheinen einige Menschen vor allem in der Krise die Mitmenschlichkeit sowie ethische Grundsätze vergessen zu haben. Wie immer in Griechenland musste es zu einem Todesfall kommen, damit ein chronisches Problem des Landes wirklich wahrgenommen wird.

Exemplarisch ist der Fall eines Rentners mit Herzproblemen. Der in den Medien aus Datenschutzgründen als "der Siebenundsechzigjährige" bezeichnete Mann hatte sich Ende Juni aufgrund starker Beschwerden am Herzen ins Evangelismos-Krankenhaus begeben. Dort diagnostizierte man vollkommen korrekt eine Arterien- und Herzkranzgefäßverengung sowie einen gerade eben überstandenen Herzinfarkt.

Der Mann erfuhr, dass nur eine Operation ihn retten könne. Die verengten Arterien sollten mit Ballonkatheder wieder erweitert und mit Stents gegen eine erneute Verengung abgesichert werden. Der Patient war versichert und hoffte auf baldige Linderung seines Leidens. Schließlich wurde er medizinisch als Notfall eingestuft. "Mit 1500 Euro kann die Operation durchgeführt werden", beschied ihn der Leiter der Kardiologie. Der Rentner versuchte sich zu wehren. Er habe das Geld nicht, erklärte er dem Mediziner. Schließlich sei seine Rente erheblich geringer als die verlangte Summe. Es half nichts. Der Arzt bestand trotz seines Hippokratischen Eids, der in Griechenland traditionell das Maß der Dinge bleibt, auf das Fakelaki. Der Rentner besann sich dagegen nach einer Tagung des Familienrats auf seine staatsbürgerliche Pflicht. Sein Neffe übernahm die Information der Behörden. Genau dies sollte sein Verhängnis werden.

Der Gang zur Polizei, zu dem jeder Grieche aufgefordert wird, wenn er zur Beamtenbestechung, insbesondere zum Fakelaki für Mediziner aufgefordert wird, brachte ein weiteres Abenteuer mit sich. Die Polizei präparierte 500 Euro in registrierten Scheinen und forderte den Rentner auf, der Erpressung zum Schein nachzugeben. Ein Termin mit dem Mediziner wurde vereinbart.

Der Rentner übergab bei diesem Termin in der vergangenen Woche dem Arzt das Geld. Der Klinikchef überzog ihn mit Tiraden, weil die 500 Euro nicht genug seien. Er würde auf den Rest des Geldes warten, meinte er und verabschiedete den Patienten. Kurz darauf schlugen die Fahnder zu und erwischten den Korrupten mit den registrierten Geldscheinen. Der Arzt leugnete standhaft seine Tat. Jedoch wurden in seinem Büro Notizen gefunden, welche belegen, dass der dreiste Erpressungsversuch kein Einzelfall war. Diese Aktion fand am 10. Juli statt.

Für den Arzt begannen in der vergangenen Woche damit, die Mühlen der Justiz zu mahlen. Seitens der griechischen Ärztekammer gab es eine scharfe Verurteilung des Arztes. "Das ist eine Schande für die Ärzteschaft", meinte Kammerchef Michalis Vlastarakos. Gesundheitsminister Makis Voridis höchstpersönlich sorgte für die Suspendierung des erpresserischen Klinikchefs. Trotz der Regel, dass eine Krähe der anderen kein Auge ausschlägt, meldeten sich auch die Kollegen des Klinikchefs zu Wort. "Das Fakelaki gab es Gestern und es wird es auch morgen noch geben", klagten sie. Seit Jahren gibt es im Internet Seiten, über die Patienten die Fakelaki anonym melden können. Geholfen hat es bislang wenig.

Dem wackeren Rentner wurden auch noch einige Auftritte im Fernsehen gewährt. Die großen Sender des Landes genehmigten ihm, seine Geschichte live zu erzählen. Erst am Sonntag durfte er sich auf den OP-Tisch legen. Vom OP-Saal ging es direkt in die Intensivstation.

Der Mann erholte sich nicht mehr. Am frühen Dienstagmorgen wurde sein Tod in den Medien verkündet. Verstorben war er bereits am Sonntagnachmittag. Die operierenden Ärzte hatten nach der Operation erklärt, es grenze an ein Wunder, dass der Mann mit seiner Herzerkrankung den OP-Saal nach der tagelangen Verzögerung überhaupt lebend erreicht und auch lebend verlassen habe.

Nach dem Todesfall geht es schneller

Wenn das Kind erst einmal in den Brunnen gefallen ist… sagt der weise Volksmund. Nirgends scheint diese Feststellung besser zu passen als für die griechische Bürokratie. Direkt nach Bekanntgabe des Todes des unglücklichen Rentners ordnete Gesundheitsminister Voridis eine so genannte "eidliche Verwaltungsinspektion" an. Die Staatsanwaltschaft verlangte eine schnelle Obduktion des Toten. Diese ergab, dass er in den vergangenen Tagen zwei weitere Herzinfarkte erlitten habe. Der Gerichtsmediziner befand, dass die achtzehn Tage Verzögerung des nötigen Eingriffs dem Rentner den Tod beschert hatten. Er setzt alles daran, diesen Befund mit weiteren histologischen Untersuchungen zu belegen.

Ein Nachmittag in einer Notaufnahme

Bereits am Montag machte Telepolis einen Praxistest in einer griechischen Notaufnahme. Das größte Unfallkrankenhaus Griechenlands, KAT, hatte Bereitschaftsdienst. Bereits kurz nach 16 Uhr waren die Gänge mit Patienten gefüllt.

Einige, vor allem diejenigen mit wenig Erfahrung, freuten sich über niedrige Nummern auf der Warteliste. "Ich habe nur 26 Patienten vor mir", freute sich ein grauhaariger älterer Mann. Gemeinsam mit Gattin und Tochter wartete er, dass sich jemand seines gebrochenen Mittelfingers annehmen würde. Eine junge Dame hatte eine um drei Nummern höhere Wartezahl. Sie konnte mit einem eingeklemmten Ischiasnerv weder stehen noch sitzen.

Glück hat, wer laut schreien kann und in Begleitung kommt

Was beide nicht wussten. Die Notaufnahme nahm auch sämtliche Unfälle auf, die mit Krankenwagen eingeliefert wurden. Niemand überprüfte, ob unter den selbst ins Krankenhaus gekommenen Notfällen nicht ein schwererer Fall als unter den Krankenwageninsassen war. So musste ein von einem Auto umgefahrener, älterer Roma in der normalen Warteschleife warten, während eine eher quietschfidel spaßende junge Dame schnell Linderung ihrer Leiden erhielt.

Der Roma kam im Endeffekt doch noch vor seiner Warteschleifennummer an die Reihe. Das lag nicht etwa an der sichtbar vom Unfall zerfetzten Kleidung, noch an den erkennbaren Verletzungen. Vielmehr half es ihm, dass er mitsamt seinem halben Clan ins Krankenhaus gekommen war. Gegen das geballte, wütende Gebrüll der Familie kam die Bürokratie des Krankenhauses nicht an. Die übrigen ruhigen Patienten warteten weiterhin brav in ihrer Reihe. Einen Arzt zu Gesicht bekam nur derjenige, der am privaten Wachmann des Untersuchungsraums vorbei kam. Einigen gelang dies auf scheinbar wundersame Weise.

"Klar, steck dem doch einen Fünfer zu, dann kommen wir endlich hier weg", keifte die Gattin des Weißhaarigen. Der Mann blieb standhaft. "Ich besteche nicht", beschied er seine Ehefrau. "Typisch. Mach Dir doch endlich klar, dass Griechenland kein Land ist, in dem Höflichkeit etwas zählt. Hier gilt das Recht des Stärkeren!", schrie die Frau.

Der werte Mann war im Ausland aufgewachsen und als Erwachsener wieder ins Vaterland zurückgekommen. Um kurz vor Elf verlor er endlich seine Contenance. Er drängte sich in den Untersuchungsraum und kam Minuten später mit einer Schiene und einen Verband um den malträtierten Finger zurück. "Den Rest muss ich beim Hausarzt machen lassen", erklärte er seiner immer noch wütenden Gattin. "Das hätten wir auch ohne die sieben Stunden hier machen können", erwiderte sie, "aber wer kein Geld hat, der kann auch keine medizinische Versorgung erwarten."

Währenddessen kam auch endlich ein älterer Herr an die Reihe. Der Mann hatte sich seit Stunden das Herz gehalten. Er befand sich jedoch in der Abteilung für Orthopädie. Das hätte irgendjemanden auffallen können, vielmehr auffallen müssen. Auch er war jedoch per Taxi und nicht mit Krankenwagen gekommen. Die Warteschleife in der Kardiologie war ihm noch länger erschienen. In der festen Überzeugung, dass Ärzte schließlich Ärzte sind, hatte er sich eine Abteilung mit weniger Patienten ausgesucht.

In diesen offenbar chaotischen Flur, in dem der erwähnte Wachmann ohne medizinische Ausbildung die Patienten "selektierte", platzte ein Mediziner herein. Auf die Frage, was der Sinn dieser Art von Notaufnahme sei, zuckte er mit den Schultern. "Ja, aber wenn ich darüber so schreibe, wie ich es wahrnehme, dann werden Sie sicherlich böse", lautete die nächste Frage an ihn. "Keineswegs! Schreiben Sie es auf, vielleicht hört der Irrsinn dann endlich auf!", meinte er und erkundigte sich, ob er irgendeinem Patienten eine schnelle Behandlung verschaffen solle.

Der bewachte Untersuchungsraum hatte nämlich einen Seiteneingang, durch den die Wachleute zahlreiche Patienten an der Reihe vorbei schleusen konnten. Eine ebenfalls anwesende Dame, die sich als Mitarbeiterin des Krankenhauses outete, bestätigte dies. Die Frau hatte sich für ihre Schwester in die Reihe gestellt. Sie wollte jedoch partout keine Vorzugsbehandlung in Anspruch nehmen. Auch sie war der Meinung, dass die Missstände im Gesundheitswesen endlich reformiert werden müssten.

Spuren von Rassismus wurden spürbar, als mehrere Polizeibeamte zwei durch die dunkle Hautfarbe als Immigranten erkennbare Männer in Handschellen in den Untersuchungsraum führten. Die Festgenommenen hatten sichtbare Verletzungen an Kopf und Gliedmaßen. Sie mussten nicht warten. "So ist Griechenland, als Mörder kommt man sofort an die Reihe", entfuhr es der vorher so geduldsamen Krankenhausmitarbeiterin.

So spät gebe ich keine Medizin aus!

Nach langem Warten kam auch endlich die junge Frau mit dem eingeklemmten Ischiasnerv an die Reihe. Frohen Muts schleppte sie sich in den Untersuchungsraum. Ohne Begleitperson konnte sie nicht auf fremde Hilfe hoffen. Denn nach wie vor müssen Patienten in Griechenland eine Begleitperson bei sich haben. Die öffentlich angestellten Krankenpfleger selbst sind in dem chaotischen System für andere Aufgaben zuständig.

Minuten später kam die junge Frau vollkommen entgeistert vom Arzt zurück. Sie hatte ein Rezept in der Hand. Auf die Frage, was los sei, kam die Antwort: "Ich habe die Krankenversicherung der Mittellosen. Eigentlich bekomme ich meine Medizin laut Gesetz vom Krankenhaus." Als einer der wenigen anerkannten Sozialfälle stünden der Patientin wegen nachgewiesener Mittellosigkeit sämtliche notwendige Medikamente sowie die medizinische Versorgung kostenlos zu. Weil dies nicht über die privaten Apotheken des freien Markts organisierbar ist, hat der Gesetzgeber bestimmt, dass der betreffende Personenkreis über die Krankenhausapotheken versorgt werden muss.

Im Fall der jungen Frau hatte sich der Arzt jedoch verweigert. "Er hat mir gesagt, ich könne um diese Uhrzeit nicht erwarten, dass er in die Krankenhausapotheke gehen würde", erklärte die Frau. Es war halb Zwölf und sie war seit fast sieben Stunden dort gewesen.