Gaza: Die Hölle, wieder einmal

Die israelische Armee nimmt die Peripherie von Gazastadt unter schweren Beschuss; berichtet wird von vielen zivilen Opfern

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Präzisionsschläge? Es ist die Hölle, berichtet der CNN-Korrespondent Ben Wedeman aus Gaza. Shaja'ia (bzw. Shuja'iyya) im Osten von Gaza-Stadt stehe am Sonntagvormittag unter andauerndem Beschuss. Auch gestern Nacht wurde von schweren Angriffen berichtet. Die Bewohner flüchten zu Hunderten; die, mit dener er gesprochen habe, stünden unter schwerem Schock; sie berichten von "vielen Toten und Verletzten, von einer massiven Zerstörung".

Wedeman ist einer der wenigen Journalisten, die sich in Gaza aufhalten und die Geschehnisse vor Ort verfolgen . Die für Medien zuständige israelische Behörde warnte gestern die Journalisten davor, sich in Gaza aufzuhalten. Für ihre Sicherheit am Kriegsschauplatz könne nicht garantiert werden, heißt es.

Israel ist in keiner Weise dafür verantwortlich, dass es infolge der Berichterstattung im Kampfgebiet zu Verletzungen und Schäden kommt.

Die Armeeführung wird über das Fehlen unabhängiger Berichterstatter nicht allzu unglücklich sein; und nicht nur, weil sie deswegen weniger auf die Unversehrheit der Medienbeobachter achten muss. Freilich liefern arabische Medien Bilder und Berichte, darunter al-Jazeera, das sich im Moment mit der Berichterstattung aus Gaza bemüht, seinen - u.a. durch die einseitige Syrienberichterstattung - schwer beschädigten Ruf wieder zu rehabilitieren und der arabischen Sicht auf die Konfrontation wieder eine Plattform gibt.

Screenshot al-Jazeera English; Online live stream

In der westlichen Öffentlichkeit, so der Eindruck, ist die Aufmerksamkeit einerseits mit dem Flugabsturz in der Ukraine beschäftigt, zum anderen dominiert die Darstellung, die die israelische Regierung der Eskalation in Gaza gibt. Wer einmal durch den Live-Blog von al-Jazeera scrollt, bekommt zumindest eine Ahnung davon, was den Unterschied ausmacht.

Es wird, wie schon im Gaza-Krieg zuvor, aber nicht lange dauern, bis auch die westliche Öffentlichkeit mit immer mehr Bildern von zivilen Opfern, besonders Kindern und Frauen, die aus Schutt und Asche herausgetragen werden, Bildern von zerbombten Krankenhäusern, verzweifelten Angehörigen und Helfern, Flüchtlingsmassen und und und konfrontiert werden - und die Empörung Dimensionen annimmt, die politisch dann den Druck aufbaut, um Netanjahus Kriegsmaschine zum Stoppen zu bringen. Das ist die Zeit, die den isaelischen Soldaten bleibt, "um Fakten zu schaffen".

Neu entdeckte Tunnel

Strategisches Ziel ist, wie die IDF immer wieder betonte, die Zerstörung des Tunnelsystems "der Terroristen". Über dieses Ziel wird weit hinausgeschossen. Davon abgesehen, dass die Tunnelsysteme nicht nur für die Angriffe auf Israel von bedeutung sind, sondern auch zur Versorgung eines abgeschotteten, dicht bewohnten Landstrichs dienen - was einmal mehr die heikle Frage der Verquickung von zivilen und militärischen Strukturen in Gaza aufwirft -, weist ein Bericht der New York Times auf das altbekannte, stets wiederkehrende Phänomen hin: Auch das konkrete militärische Ziel wird nicht so leicht erreicht, wie das in ersten selbstbewusst vorgetragenen Erklärungen des Vertiedigungsministeriums und der IDF anklingt.

So tauchten laut Bericht der US-Zeitung zur Überraschung israelischer Soldaten plötzlich Bewaffnete aus Tunnel auf, von denen die israelische Armee keine Ahnung hatte. Die Bewaffneten schossen sofort, es gab erste Todesopfer unter den israelischen Soldaten.

[Einfügung: Es heißt, dass einer der getöteten Palästinenser aus dem Tunnel eine Bombenweste trug, was die Befürchtung des israelischen Sicherheitsapparats bestätigt, wonach über die Tunnel Selbstmordattentäter nach Israel gelangen könnten.]

Nach Angaben eines israelischen Armeesprechers, den die New York Times zitiert, seien israelische Truppen dabei, auch die neuentdeckten Tunnel zu zerstören, im Zuge dessen würden sie auch in "urban warfare" verstrickt. Die Wahrscheinlichkeit, dass es dabei zu weiteren Toten unter israelischen Soldaten kommt, ist groß. Wie auch die Wahrscheinlichkeit gegeben ist, dass es noch weitere Tunnels gibt, die auf israelischer Seite trotz akribische Recherche, die man seit einem Jahr getätigt hat, nicht bekannt sind.

"Innere Fallen"

Die aus den Erfahrungen der letzten Kriege der IDF im Gazastreifen oder auch im Südlibanon resultierende Erwartung ist, dass es zu aufreibenden, auch für Israel verlustreichen Kämpfen kommen wird, aus denen die IDF nicht unbedingt als der Sieger heraustritt, wie es die Hardliner in der israelischen Regierung sich erhoffen.

Nimmt man das Buch des großen israelischen Schriftstellers David Grossmann aus dem Jahr 2003 zur Hand, dessen Titel "Diesen Krieg kann keiner gewinnen" schon alles sagt, dann kann mann sich nur darüber wundern, wie präzise sich auf jeder Seite der mehr als zehn Jahre alten Kommentare eine Situation beschrieben oder analysiert findet, die haargenau auf die gegenwärtige Lage zutrifft. Ob das in den nächsten zehn Jahren auch so bleibt?

Selbst wenn es den israelischen Streitkräften in der Zeit, die ihnen noch verbleibt, bis die internationale öffentliche Empörung ihren Shock&Awe&Destruction-Einsatz stoppt, gelingt, die Infrastruktur der Kassam-Brigaden und des islamischen Dschihad und anderer militärischer Gruppierungen im Gaza-Streifen bedeutend zu schädigen, bleibt die politische Unbekannte. Was kommt nach dem Einsatz? Wer soll Gaza regieren? Wer kann da noch politische Verantwortung übernehmen?

Wie berichtet wird, hat ein israelischer Angriff die Frau, den Sohn und einen Enkel des Hamas-Politbüro-Mitglieds Ismail Hanije getötet. Alles Terroristen? Hanije war einer derjenigen Politiker, die für Verhandlungen und Konzessionen mit der israelischen Regierung einstanden. So nährt die Politik von militärischer Entschlossenheit und Härte genau das Gegenteil dessen, was man beabsichtigt, den Rückgang von Terror.

Das ist vielleicht die deprimierendste Entdeckung der beiden letzten Jahre: die starke Anziehungskraft des Hasses und der Rachsucht. (…) Beim Anblick der Greueltaten, die diese beiden Völker einander antun, vergeht einem Menschen bisweilen nicht nur die Lust, in dieser Region zu leben, sondern die Lust am Leben überhaupt. (…)
Die Chance, uns aus diesen inneren Fallen zu befreien, hängt also auch wesentlich von der Fähigkeit ab, sich der Denkweise des "Wir haben keine Wahl" und "Wir haben keine Partner" zu erwehren.

David Grossmann, Dezember 2002

Nicht vergessen werden sollte, bei all den Wiederholungen im israelisch-palästinensischem Konflikt, dass sich schon etwas ändert: Das Gebiet der Palästinenser wird immer kleiner.

Nachtrag: Es soll an dieser Stelle nicht unter den Tisch fallen,dass es zu dem oben verlinkten Beitrag mit den Karten der Palästinensergebiete Gegenstandpunkte gibt. Die allerdings, wie sofort sichtbar wird, vor allem auf krachige Polemik setzen, während im oben verlinkten Beitrag der historische Kontext mit Quellen dargelegt wird und die Argumente mit weitaus mehr Sorgfalt ausgebreitet werden.