Gaza: Bis hierhin, wohin weiter?

"Gazagraffiti". Foto: ISM Palestine; Lizenz: CC BY-SA 2.0

Die Kampfgruppen der Hamas verlieren nun einen Großteil ihrer militärischen Fähigkeiten; wie es mit dem Gazastreifen nach dem Krieg weitergehen soll, darüber wird gerade nachgedacht

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Israels Militär hat am Sonntag im Gazastreifen für einige Stunden aus humanitären Gründen das Feuer eingestellt: Den Rettungsdiensten sollte damit die Möglichkeit gegeben werden, Verletzte und Tote zu bergen. Denn die Opferzahlen sind seit Beginn der Bodenoffensive in der Nacht zum Freitag rapide angestiegen: Das palästinensische Gesundheitsministerium sagt, seit Beginn des Einmarsches seien 87 Palästinenser ums Leben gekommen; insgesamt starben im Verlauf der israelischen Militäroperation mindestens 425 Palästinenser. Auf der israelischen Seite wurden nach Regierungsangaben bislang 18 Soldaten und mindestens zwei Zivilisten getötet.

Israels Militär macht die Hamas für die hohen Opferzahlen im Gazastreifen verantwortlich: Man habe die Menschen in den Einsatzgebieten vorab dazu aufgefordert, das Gebiet zu verlassen; die Hamas dränge die Leute dazu, in ihren Häusern zu bleiben. Allerdings haben bislang 55.000 Menschen Schutz in Einrichtungen der Vereinten Nationen gesucht. Die humanitäre Waffenruhe wurde am Sonntag bereits nach kurzer Zeit gebrochen: Immer wieder kam es zu Schusswechseln; auch Raketen wurden weiterhin abgeschossen.

Wie sind sie nur da hin gekommen? Es war eigentlich kein besonders langer Weg, den die Menschen im Gazastreifen zurück gelegt haben. Gerade einmal zwölf, vierzehn Jahre ist her, da war die Grenze zu Israel überwindbar: Morgens standen die Arbeiter am Kontrollpunkt Erez Schlange, um zur Arbeit nach Israel zu gelangen. Man verdiente nicht viel, aber man verdiente, genug um in Gaza zu überleben. Es war nicht toll, aber, sagen viele Leute in Gaza heute, es war besser als heute.

Die "Entzerrung"

Heute: Die Grenze ist nun ein hoher Zaun, gespickt mit Überwachungstechnologie und wer über Erez nach Israel will oder ins Westjordanland, der muss monatelang auf die Genehmigung warten. Zu schließen begannen sich die Türen, als 2000 die zweite Intifada losbrach, und auch den Gazastreifen mit sich riss.

Organisationen wie die Hamas und der Islamische Dschihad benutzten damals das undurchschaubare Straßengeflecht Gazas und der umliegenden Flüchtlingslager, um ihren Teil der Intifada zu planen (Machtkampf). Viele Menschen unterstützten sie dabei, weil die Hamas Kindergärten und Schulen betrieb, und eine Generation herangewachsen war, deren Ohren von Kindesbeinen an für die Rhetorik dieser Organisationen geöffnet worden waren.

2005 wurden dann die israelischen Siedlungen im Gazastreifen geräumt, und als das passiert war, ließen sich die Kommandeure der Räumungseinheiten dabei fotografieren, wie sie symbolträchtig das Tor zum Gazastreifen abschlossen. Viel war darüber geredet worden, was mit den Siedlern passieren soll; kaum ein Wort, auf keiner von beiden Seiten, wurde darüber verloren, was man mit dem Gazastreifen vorhat.

Viel wurde damals in Jerusalem, wo Regierung und Parlament sitzen, und in Tel Aviv, wo das Verteidigungsministerium zu Hause ist, davon gesprochen, dass die "Hitnakduth", die "Entzerrung", wie die Räumung offiziell genannt wurde, Israels Sicherheit verbessern werde: Künftig gebe es eben keine Siedler mehr dort, die unter Beschuss geraten könnten, und dementsprechend müsse man auch keine Truppen mehr nach Gaza schicken, um die Siedler vor dem Beschuss zu beschützen (Der Trennungskrieg).

Die Fehleinschätzung auf Seiten der Palästinenser

Bei der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah verweigerte man sich indes aller Gesprächsangebote: Man hoffe darauf die Räumung, ohne ein formelles Abkommen, als Sieg für den palästinensischen Widerstand beanspruchen zu können. Die von der Fatah geführte Regierung war damals, nach dem Tod von Jassir Arafat und dem Advent von Mahmud Abbas im Amt des Palästinenser-Präsidenten so unbeliebt, wie sie heute ist, und man brauchte dringend etwas, um sich zu stärken.

Nur: das war eine Fehleinschätzung. Es war die Hamas, die die Gaza-Räumung als Sieg für sich verbuchte, dafür von der Öffentlichkeit politische Zinsen bekam, und dann 2006 die Parlamentswahlen gewann, die dann in die Bildung einer Einheitsregierung mündete, die wiederum den nächsten Wegepunkt auf der Reise von damals nach heute markierte.

Der ausländische Boykott der neuen Regierung forcierte den Konflikt zwischen Hamas und Fatah, der bereits seit der Gaza-Räumung geschwelt hatte (Konflikt der Kulturen). Als Abbas dem Druck nachgab und die Einheitsregierung aufkündigte, übernahm die Hamas dann am Ende von bürgerkriegsähnlichen Zuständen die Macht im Gazastreifen (Hamastan, Fatahstan und Israel?).

Keine Euphorie mehr

Anfangs begrüßten die Menschen die neuen Machthaber, die das Leben in diesem Landesteil nach islamischen Maßstäben umgestalteten, gleichzeitig für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit sorgten. Doch das Leben wurde im Laufe der Jahre immer unfreier und lange hielt man sich daran fest, dass alles besser werden würde, wenn Israel nur ersteinmal besiegt sei. Deshalb bejubelte man, wenn Raketen auf Israel abgefeuert wurden, und jeder israelische Tote bei einem der Einsätze, die Israels Militär über die Jahre hinweg im Gazastreifen durchführte, wurde vielerorts gefeiert.

Nur irgendwann konnte die Hamas nicht mehr liefern: Die Waren in den Läden wurden weniger, weil Ägypten die Schmuggeltunnel zerstört hatte, und in den Suppenküchen der Hamas gab es immer öfter nichts mehr zu essen, weil Ägypten im Frühjahr auch den Geldfluss an die Organisation gestoppt hat. Und dann: Schon während des letzten Gaza-Krieges im November 2012 warfen Menschen immer wieder die Frage auf, was es bringt, ein solcher Krieg, während die Aufpasser der Hamas jeden zurechtwiesen, von dem sie mitbekamen, dass er etwas gesagt hat, das nicht der offiziellen Linie entsprach.

Und so sind die Menschen heute hierhin gekommen: Es gibt keine Euphorie mehr, und wenn Israels Militär "am Dach anklopft", wie man dort die Praxis nennt, ein leeres Geschoss auf das Dach eines Hauses abzufeuern, um die Bewohner vor einem Angriff zu warnen, dann werden sie von Kämpfern der Essedin al-Kassam-Brigaden nach oben gescheucht, damit die Luftwaffe den Angriff abbricht.

Doch auch dieser Druck hat für viele die Kraft verloren: Nachdem Israels Militär nach Beginn der Bodenoffensive in der Nacht zum Freitag die Bewohner der potentiellen Kampfgebiete zum Verlassen der Häuser aufgefordert hatten, hielten sich längst nicht mehr alle, wie bei vorangegangenen Warnungen, an die Aufforderung der Hamas zu Hause zu bleiben. Bis Sonntag abend hatten 81.000 Menschen Schutz bei den Vereinten Nationen gesucht, sagt UNRWA, die UNO-Hilfsorganisation für palästinensische Flüchtlinge.

Israel baut auf den Stimmungswechsel gegen die Hamas-Führung

Beim israelischen Militär hat man mit dem Beginn der Bodenoffensive der Strategie eine "humanitäre Komponente" hinzugefügt. Die Soldaten sind angewiesen, im Zweifelsfall nicht zu schießen, zudem werden Lazarette für die Zivilbevölkerung aufgebaut, und große Mengen an Hilfsgütern in den Gazastreifen eingeführt.

Dabei, sagen Mitarbeiter des israelischen Verteidigungsministeriums, gehe es zum einen darum, sich so viel Zeit wie möglich für den Militäreinsatz zu verschaffen. Denn internationaler Druck entscheidet maßgeblich mit, wann man einem Waffenstillstand zustimmen muss. Außerdem: Die Kosten des Militäreinsatzes sind enorm - im Raum stehen umgerechnet an die drei Milliarden Euro, die der Einsatz bis jetzt gekostet hat, wobei man hierbei dazu sagen muss, dass ein großer Teil dieses Geldes so lange fiktiv ist, bis die verwendeten Rüstungsgüter vom Militär ersetzt werden müssen. Hier hofft man darauf, dass eine möglichst weitreichende Unterstützung durch die internationale Politik zu Preisnachlässen oder gar Gratis-Lieferungen führen könnte.

Allerdings hofft man auch, und genauso stark darauf, dass die humanitäre Komponente das Verständnis der Zivilbevölkerung für die aktuellen Ereignisse beeinflusst: Man möchte gerne den Stimmungswechsel gegen die Hamas-Führung, der sehr deutlich nach der Bekanntgabe der Einheitsregierung in Palästina sichtbar wurde, dafür nutzen, eine Perspektive anzubieten. Dabei sind in Gaza Anzeichen dafür erkennbar, dass zumindest Teile der Bevölkerung die Dinge durchaus differenziert betrachten.

So kam es, berichten ausländische Journalisten vor Ort, im Gaza-Stadtteil Schujaiyyah zu Handgemengen zwischen Zivilpersonen und Kämpfern der Kassam-Brigaden, als diese am Sonntag eine ursprünglich auf zwei Stunden ausgelegte Feuerpause nach nur gut einer dreiviertel Stunde brachen. Israel und die Hamas hatten sich unter Vermittlung des Internationalen Roten Kreuzes, dem auch der palästinensische Rote Halbmond und der israelische Rote Davidstern angehören, auf diese humanitäre Feuerpause geeinigt.

Trotz der Zwischenfälle wurde diese Feuerpause später bis in den Abend hinein ausgeweitet: Den Rettungsdiensten sollte damit die Gelegenheit gegeben werden, Verletzte und Tote zu bergen; außerdem nutzten große Menschenmengen die Gelegenheit, um das Kampfgebiet zu verlassen.

Die Tunnel

Für Israels Militär ist Schujaiyyah ein sehr schwieriges Einsatzgebiet: Das östlich von der eigentlichen Stadt Gaza gelegene Gebiet ist einer der wirtschaftlichen Mittelpunkte des Großraums. Hier befindet sich einer der größten Märkte; gut 100 000 Menschen leben hier normalerweise. Aus Sicht Israels ist, der Stadtteil indes eines der Zentren des Raketenbeschusses. Die palästinensischen Kampfgruppen schießen die Geschosse mitten aus dem dicht bevölkerten Gebiet heraus ab. Jene Fernsehbilder, die Raketen zeigen, die über den Dächern von Gaza aufsteigen, zeigen in der Regel Schujaiyyah oder einen der benachbarten Stadtteile.

Ein weiteres offizielles Ziel der Bodenoffensive ist, Tunnel zu finden und zu zerstören. Nach Ansicht des israelischen Militärs erstreckt sich unter Gaza ein möglicherweise sehr weitläufiges Tunnelnetzwerk, das auch mehrere Ausgänge auf israelischem Gebiet haben soll. Das tatsächliche Ausmaß dieser Tunnelsysteme, ihre Anzahl, sowie die Zahl der Ausgänge in Israel, all' dies ist weitgehend unbekannt. Die israelischen Sicherheitsorgane sagen offen, dass sie nur sehr wenig darüber wissen; gewisse Dinge könne auch die beste Überwachungstechnik nicht erfassen.

Bis zur vergangenen Woche spielten diese Tunnel unter der israelischen Grenze zumindest offiziell kaum eine Rolle. Nur selten gelangten palästinensische Kämpfer auf israelisches Gebiet; der israelische Soldat Gilad Schalit, der 2006 von militanten Palästinensern über einen solchen Tunnel nach Gaza entführt worden war, ist der wohl prominenteste Fall - bis Mitte vergangener Woche nach Angaben des israelischen Militärs 13 Kämpfer beim Verlassen eines solchen Tunnels aufgehalten worden waren. Bislang war es stets so, dass das Militär solche Tunnel zerstörte, wenn man davon erfuhr; darüber hinaus waren die Tunnel offiziell selten ein Thema.

Mit dem erklärten Ziel, die Zahl der Raketen zumindest drastisch zu reduzieren, sind allerdings auch die Tunnel ins Augenmerk des Militärs gerückt: Man geht davon aus, dass dort ein Großteil der Arsenale gelagert werden - weitab vom Auge israelischer Spione entfernt, und dem Blick der Überwachungstechnologie entzogen.

Außerdem, so die Annahme, werde über die Tunnel nach Israel Material geschmuggelt, das für den Bau vor allem der Kassam-Raketen, einem vor Ort gebauten Kurzstreckengeschoss benötigt wird. Denn die meisten der benötigten Produkte sind in Israel leichter zu beschaffen, als in Ägypten, wo beispielsweise größere Wagenladungen Düngemittel, die in eine Wüstenregion transportiert werden, auffallen würden.

Hamas: Moderate Forderungen

Die Bemühungen um eine Waffenruhe, die letzte hielt gut 19 Monate, gehen auch jetzt weiter. Vor allem Ägyptens Regierung versucht weiterhin, beide Seiten zur Annahme eines Vorschlages zu bewegen, den man bereits vor einer Woche vorgelegt hatte. Doch es sind schwierige Gespräche, die schwersten, die man jemals geführt habe, heißt es aus dem ägyptischen Außenministerium. Und das liegt nicht allein daran, dass Kairo kaum noch Einfluss auf die Hamas hat, während Israel andere Vermittler ablehnt (Vermittlung im Gaza-Krieg: Keiner will wirklich). Ein Grund für die Schwierigkeiten ist auch und vor allem, dass mit dem nächsten Waffenstillstand die Weichen für die Zukunft gestellt werden.

An vielen verschiedenen Orten werden momentan Pläne gemacht, Wege gesucht, auf denen die Palästinenser im Gazastreifen in die Zukunft zurück finden könnten. Und bei der Hamas ist man sich bewusst, dass man in vielen dieser Pläne nicht stattfindet. Ihr Rückhalt ist zurückgegangen, ihre Reihen sind ungeordnet. Die Essedin al-Kassam-Brigaden verlieren nun einen Großteil ihrer militärischen Fähigkeiten: Israels Militär schätzt, dass nun gut die Hälfte der Raketen entweder verbraucht oder zerstört sein dürfte, auch wenn der Beschuss derzeit noch anhält.

Dementsprechend wird die Hamas nach dem Ende der Militäroffensive nicht mehr die Durchsetzungskraft, auch gegenüber einer zunehmend kritischen Bevölkerung haben, so lange das politische Klima in Ägypten so bleibt, wie es aktuell ist. Es dürfte schwer fallen, die verbrauchten oder zerstörten Waffen zu ersetzen.

So hofft man bei der Hamas darauf, so bald wie möglich einen Waffenstillstand schließen zu können. Die Forderungen, die die Organisation stellt, sind gerade deshalb eher moderat: Man will eine Aufhebung der Blockade, gerne auch unter internationaler Aufsicht, Zugang zum Haram al-Scharif (besser bekannt als Tempelberg) in Jerusalem / Al Kuds und die Freilassung der Gefangenen, die einst im Gegenzug für Gilad Schalit freigelassen und dann im Juni bei einem Militäreinsatz im Westjordanland wieder festgenommen worden waren.

Israel müsste zurück an den Verhandlungstisch

Doch Israels Regierung ist der Ansicht, dass durch einen solchen Waffenstillstand Fragen, die dort noch offen sind, in die Zukunft verschoben werden: Aktuell hält man sich noch offen, künftig auf eine Hamas-Dominanz in Gaza zu bauen. Gleichzeitig denkt man aber auch darüber nach, ob eine komplette Übernahme der Kontrolle durch palästinensischen Regierung und ihrer Sicherheitskräfte ohne Beteiligung der Hamas möglich wäre.

Das aber würde von einer massiven Verbesserung der Lebensumstände im Gazastreifen und einer nachhaltigen Stärkung der Führung von Präsident Mahmud Abbas abhängen: Israel müsste zurück an den Verhandlungstisch, und es müssten Ergebnisse erzielt werden. Die allerdings nicht möglich sind, so lange in der israelischen Regierung zwei rechte Parteien sitzen, die ein solches Vorgehen massiv ablehnen. Im Raume steht auch der Gedanke einer Blauhelm-Mission in Gaza.

Zwar haben sich solche Missionen sowohl auf dem Sinai als auch auf dem Golan und im Süden des Libanon bewährt - doch der Gazastreifen ist anders strukturiert: Die Kampfgruppen stehen mitten in dicht besiedelten Gebieten; Eskalationen könnte eine solche Mission wohl nicht verhindern.

Sicher ist dementsprechend: Was immer auch passiert, wer oder was auch die Grenze zum Gazastreifen passieren will, wird wohl auf lange Zeit sehr streng kontrolliert werden.