Die verdrängte Realität des Gaza-Kriegs

500 zivile Opfer bisher. Die Rede vom schmutzigen Krieg, wie sie US-Außenminister John Kerry führt, ist Teil einer Wirklichkeitsverleugnung

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Über 500 Tote im Gazastreifen zählte Gaza Youth Break Out (Von Israel in einem Gefängnis gehalten, von der Hamas verprügelt..) heute Morgen (offensichtlich nach Angaben der palästinensischen Gesundheitsbehörde) und zeigt die verdrängte Realität des Krieges, den die israelische Armee dort führt, in einer langen Kette von Kurzmitteilungen über Angriffe und in brutalen Bildern von den Opfern (siehe dazu auch +972mag): Brennende Häuser, Häuser in Schutt und Asche, darin erkennbar Tote, immer wieder Kinderleichen, dazu die andauernde Aufzählung von einzelnen Angriffen auf Häuser, in denen Familien wohnten, dazwischen Nachrichten von der Not der unterversorgten Krankenhäuser, von den Sperren, die Hilfe von Außen, etwa aus Ägypten, verhindern.

Israelische Kampfjets hätten heute mehr als 50 Häuser angegriffen, so die Nachricht auf GazaYBO, dabei seien 39 Palästinenser getötet worden, "die meisten davon Kinder". Dass auch das sogenannte "Anklopfen" auf dem Dach eines Hauses durch eine Rakete, eigentlich zur Warnung gedacht, Tragödien nach sich ziehen kann, beschreibt der US-Reporter Jesse Rosenfeld. Der Link dazu findet sich in einem aktuellen Situationsbericht der israelischen Journalistin Amira Hass.

Sie hält sich seit Jahren im Gaza-Streifen auf und berichtet für die Zeitung Ha'aretz von dort. Sie ist eine Ausnahme, allein schon dadurch, dass sie sich als Journalistin in einer Welt bewegt, die im vorherrschenden Meinungsbild als "feindliche Welt" begriffen wird, die möglichst weit weggerückt wird. Natürlich nimmt sie Partei, wie das so aus der Distanz an Plätzen weit weg von dieser Realität von obenherab gesagt wird, um ihren Berichten das lästige, unangenehme Gewicht zu nehmen. Es geht auch hier um verdrängte Realität und Amira Hass schildert sie sehr genau, was ihr viele Animositäten einbringt. Dass aus jahrelanger Berührung mit der Lebenssituation der Menschen im Gazastreifen Teilnahme entsteht, ist zwangsläufig.

In ihrem aktuellen Bericht führt sie vor, dass sie mit den Sprachregelungen, mit den offiziell angelegten Wahrnehmungs- und Berichterstattungsschablonen nicht mehr zurecht kommt.

Ich hab genug von den gescheiterten Bemühungen, mit der Überfülle an orchestrierten Kommentaren zu den Zielen und den Handlungen der Hamas mitzuhalten, die von Personen geschrieben werden, die so tun als ob sie mit den Hamas-Führern zusammengesessen wären und nicht eben mit den paar Quellen aus der IDF oder dem Schin Bet.

Sie hat Freunde im Gaza-Streifen und vertritt dadurch eine andere Perspektive. Diesmal geht es ihr darum, zu dokumentieren, wie das ist, wenn man sich in einem "Schlachthaus" befindet und darauf wartet, bis man selbst an der Reihe ist. Dieses Gefühl sei ihr in unzähligen Gesprächen begegnet. Ihr bleibe angesichts der Unmöglichkeit, die Realität im Gaza-Streifen zu vermitteln, nur die Kapitulation schreibt sie in einem Satz, der den Abgrund beschreibt, der sich brutal zwischen der verdrängten Realität im Gazastreifen und der offiziellen Sichtweise auf den Gaza-Krieg auftut:

Ich hab die weiße Flagge schon gehisst. Ich hab aufgehört im Wörterbuch nach dem Ausdruck zu suchen, der die Situation beschreibt, wenn von einem Jungen der halbe Kopf fehlt und sein Vater schreit "Wach auf, wach auf, ich hab dir ein Spielzeug gekauft!" Wie sagt Angela Merkel, die Kanzlerin von Greater Germany dazu? Israel hat das Recht, sich selbst zu verteidigen.

Solche sich gegen eine bestimmte Wirklichkeit absichernde Kommentare von Spitzenpolitikern lassen sich mühelos finden, etwa beim US-Außenminister John Kerry. Bei einem Fernsehauftritt gestern tat er die eine Seite der Wirklichkeit mit einer verächtlichen Phrase ab - "War is ugly, and bad things are going to happen", während er die Machtverhältnisse des schmutzigen Krieges genau so darstellte, dass es den Opfern wie Hohn vorkommen muss. Israel werde von einer terroristischen Organisation belagert, so Kerry:

Israel is under siege by a terrorist organization.

Dass Kerry im OFF der offizellen Sprachregelung noch eine subjektives Gefühlsmoment hinterherschob - "It's a hell of a pinpoint operation, it's a hell of a pinpoint operation" - macht ebenfalls sichtbar, was üblicherweise alles aus der Öffentlichkeit gedrängt wird.

Nicht so leicht zu finden, sind diejenigen, die dem common sense der Sprachregelung und der verbreiteten Wahrnehmungsmuster der Spitzenpolitiker im Westen mit scharfem Blick begegnen. Dazu zählt beispielsweise auch Gideon Levy, ebenfalls ein in der israelischen Öffentlichkeit sehr umstrittener Journalist, der wie Amira Hass Sicht-und Berührungskontakt hat zur anderen Seite, zu den Palästinensern. Regelmäßig führt er der Öffentlichkeit die andere Seite vor. Vergangene Woche entzauberte er den Helden-Mythos der israelischen Kampfjetpiloten. Sie würden doch nur auf Knöpfe drücken, ohne eine direkte Begegnung mit dem Feind. Ob sie gut schlafen können, fragt Levy:

I would like to meet the pilot or the operator of the drone who pushed the death button. How do you sleep at night, pilot? Did you see the pictures of the death and destruction you sowed - on television, and not just in the crosshairs?(...) But are they really such robots? Do they understand what they are doing? Do they even know? After all, it’s harder to brainwash them with hatred and fear, it’s harder to convince them that all Gazans are animals.

Das gilt im offiziellen "politischen Diskurs" als naive Frage. Wer dagegen die Frage nach den Opfern mit der Phrase vom schmutzigen Krieg abtut, wird ernstgenommen. Das ist bei weitem nicht die einzige Asymmetrie in diesem Konflikt, aber eine kennzeichnende.