Rechtsstaat im Zweifrontenkrieg

Der in Österreich festgenommene Deutsche Josef S. ist vielleicht ein Krawalltourist - trotzdem wäre seine Verurteilung problematisch

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In Österreich ist der Rechtsstaat von zwei Seiten bedroht: Von gewalttätigen Autonomen, die ihn ablehnen, als "Mimimi" verhöhnen, und in einem Atemzug mit "Nazis" nennen - und von Polizisten und Staatsanwälten, denen ein Fall mit Abschreckungswirkung möglicherweise wichtiger ist als die Unschuldsvermutung.

Das zeigt sich im Prozess gegen den Thüringer Studenten Josef S., der am 24. Januar 2014 bei den Akademikerball-Krawallen festgenommen wurde, bei denen gewalttätige Autonome in der österreichischen Bundeshauptstadt Wien Sachschäden von über 500.000 Euro verursachten und zahlreiche Polizisten verletzten. Mit der Suche nach den individuell verantwortlichen Tätern waren die österreichischen Behörden offenbar überfordert: Von 14 Festgenommenen mussten 13 wieder auf freien Fuß gelassen werden.

Polizei und Staatsanwaltschaft in Wien behielten lediglich einen einzelnen Festgenommenen - Josef S. - in Untersuchungshaft und klagten ihn wegen Landfriedensbruchs, Sachbeschädigung und Körperverletzung an. Der bisherige Prozessverlauf erweckte allerdings den Eindruck, dass nicht sicher feststeht, ob man mit Josef S. (der bestreitet, ein Krawalltourist zu sein) wirklich einen Rädelsführer erwischt hat - oder nur einen Pechvogel, der sich auffällig kleidete und am Tatort verweilte, nachdem sich die wahren Täter längst verzogen hatten.

Im Laufe des Prozesses stellte sich nämlich durch ein Stimmgutachten heraus, dass die S. von einem Zivilpolizisten zugeschriebenen und mit deutschem Akzent geschrienen Kommandos "Tempo! Tempo! Weiter! Weiter!" gar nicht von ihm stammen konnten.

Der Zivilpolizist, der die (optisch nur bedingt aussagekräftige) Videoaufnahme mit dem Kommando machte, hatte auch zu Protokoll gegeben, er habe aus nächster Nähe beobachtet, wie S. ständig telefonierte und anscheinend Attacken koordinierte. Die Auswertung der Verbindungsdaten ergab jedoch, dass der Deutsche im fraglichen Zeitraum gerade einmal drei Telefonate tätigte. Zweimal versuchte er selbst jemanden anzurufen, ohne ihn zu erreichen. Und beim Anruf, den er annahm, befand sich eine unverdächtige Person am anderen Ende. Auch in den SMS, die S. während der Demonstration versandte, fand sich nichts Verdächtiges.

All das stellt die Glaubwürdigkeit (und damit auch andere Aussagen) des Zivilpolizisten infrage, der weiterhin behauptet, er habe eine Person mit einer auffälligen Jacke, wie sie S. trug, beim Einschlagen von Scheiben einer Polizeiwache und beim Demolieren eines Einsatzfahrzeugs beobachtet.

Josef S. hantiert im Zentrum der Krawalle mit einer Metallmülltonne

Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Hauptbelastungszeugen bedeuten jedoch nicht zwangsläufig, dass Josef S. unschuldig ist: Sein Verhalten und seine Erklärungen dafür erscheinen zumindest merkwürdig: Warum hantiert er auf einer ORF-Videoaufnahme mit einer Metallmülltonne? Warum trägt er dabei eine schwarze Kapuzenjacke, auf der neben dem Schriftzug "Boykott" auch die Kontur eines vermummten Autonomen abgebildet ist?

Warum fuhr er die 460 Kilometer (Luftlinie) von Jena nach Wien, um gegen einen Akademikerball zu demonstrieren, der außerhalb Österreichs kaum wahrgenommen wird? War sein eigentliches Ziel vielleicht doch die Randale, für die Fußball-"Ultras" jedes Wochenende viele Hundert Kilometer umherreisen?

Dafür spricht, dass S. nicht im räumlich und zeitlich abgegrenzten friedlichen Teil der Demonstration festgenommen wurde, sondern im Bereich des Schwarzen Blocks, dessen Teilnehmer sich durch Kleidung und Parolen zu erkennen gaben. Dass er zufällig dort hineingeriet, ist möglich. Doch warum entfernte er sich dann nicht umgehend, als Steine flogen und massenhaft Schaufenster eingeschlagen wurden? Immerhin war dies bei weitem nicht die erste Demonstration, an der er teilnahm. Und warum schweigt er dann zu Fragen über Demonstrationsteilnehmer in seiner Umgebung?

Beweise für Körperverletzungen und Sachbeschädigungen sind diese Merkwürdigkeiten aber nicht. Auch für eine "wissentliche Teilnahme" an einer Zusammenrottung zur Sachbeschädigung, die in Österreich Tatbestandsmerkmal des Landfriedensbruchs ist, gibt es bislang lediglich Indizien. Berücksichtigt man den Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten", sollte S. deshalb freigesprochen werden, wenn die Polizei nicht noch stichhaltigeres Material vorlegen kann. Selbst dann, wenn von solch einem Urteil ein problematisches Signal an Gewalttäter ausgeht, die den Rechtsstaat abschaffen wollen.

Die rechtsstaatlich saubere Reaktion auf das Aufklärungsversagen bestünde darin, den Akademikerball im nächsten Jahr abzuwarten und bis dahin die rechtlichen und technischen Voraussetzung für eine großflächige Videodokumentation und eine Farbmarkierung von Straftätern aus der Luft zu schaffen. Dafür muss man allerdings in Kauf nehmen, dass es im Januar 2015 erneut zu massiven Zerstörungen kommt. Und man setzt sich dem Risiko aus, dass die Politik die notwendigen Aufklärungsinstrumente verweigert.

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