"Endlich einmal etwas Handfestes gegen die Schuldigen unternehmen"

Deutsche Medien fordern entschlossenes Vorgehen gegen den Feind Russland und konstruieren (wie in der FAZ) Verschwörungstheorien

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Die europäischen Außenminister haben ein wenig dem Druck seitens der USA und von Großbritannien, den Niederlanden und einigen osteuropäischen Regierungen nachgegeben und erneut mit schärferen Sanktionen gedroht. Erst einmal "beschleunigt" man aber nur die Vorbereitung gezielter Strafmaßnahmen gegen Personen und Unternehmen und kündigt weitere Sanktionen an, die schnell verhängt werden können, falls Russland nicht voll kooperiert.

Auch deutsche Medien sind enttäuscht und verlangen mehr Gemeinsamkeit und Entschlossenheit gegen den wieder entdeckten Feind Russland, verkörpert in Putin. Zwar sind die Umstände des vermuteten Abschusses von MH17 noch nicht geklärt, auch über die Verantwortlichen gibt es noch keine hinreichend überzeugenden Beweise. Das stört aufrechte deutsche Journalisten aber nicht weiter. Vorgestern schon hatte der bekannte Transatlantiker Stefan Kornelius in der Süddeutschen "Russlands Schuld" testiert und den Westen zum Handeln aufgefordert, gestern Abend durfte Hubert Wetzel nach der Entscheidung der EU-Außenminister diesen noch einmal die Leviten lesen:

In der Ukraine, so haben die Juristen des Internationalen Roten Kreuzes nun festgestellt, herrscht Krieg. Vergangene Woche sind in diesem Krieg mehr als 200 europäische Bürger umgekommen - aus dem Himmel geschossen von einer Flugabwehrrakete. Grund genug, so könnte man meinen, für die europäischen Außenminister, sich nicht wieder einmal nur gegenseitig in ihrer Erschütterung, Empörung und Entrüstung zu bestätigen, sondern endlich einmal etwas Handfestes gegen die Schuldigen zu unternehmen.

Auch in der Zeit drängt man. Zwar schreibt Carsten Luther: "Der Abschuss von MH17 über der Ostukraine ist noch nicht endgültig aufgeklärt. Trotzdem darf der Westen nicht wieder den Fehler machen, zu lange auf Russland zu warten." Und folgt daraus: "Keine Sanktion ist zu hart." Dabei weiß der Zeit-Journalist genau, was passiert ist:

Mögen auch viele Details noch nicht geklärt sein, zeichnet sich immer deutlicher ab: Eine Rakete eines Flugabwehrsystems vom Typ Buk hat die Maschine getroffen, abgefeuert aus einem Gebiet, das komplett unter der Kontrolle der Separatisten ist; die ukrainische Armee hatte keine solchen Einheiten in der Nähe; erdrückende Indizien deuten darauf hin, dass die Separatisten dafür verantwortlich sind.

Da werden anderen schnell wieder Verschwörungstheorien vorgeworfen, die es auch reichlich gibt. Man ist immer wieder erinnert an die Zeit vor dem Irak-Krieg, wo auch in deutschen Medien ähnliche Erkenntnisse über die Gefährlichkeit von Saddam Hussein und seine imaginären Massenvernichtungswaffen vorherrschten. Anstatt etwas vorsichtiger zu sein, schlägt man auch jetzt wieder am liebsten im Verein und im Brustton der Überzeugung einander überbietend drauf und strickt selbst an Verschwörungstheorien über den russischen Schurken, der ähnlich mit schmutzigen Mitteln seine Interessen durchsetzt wie bei Bedarf die USA, die aber den Scharfmachern ebenso sakrosankt zu sein scheinen wie die aus der Maidan-Bewegung hervorgegangene politische Elite und Regierung in Kiew.

Aber ein Artikel in der FAZ macht deutlich, wie bemüht mitunter Journalisten sind, die an der Front der interessierten Wahrheit stehen, Erkenntnisse zu erzeugen, die fürs erste als Verschwörungstheorien gelten dürfen. Konrad Schuller hält sich offenbar für die FAZ in Donezk auf. Er hat, wie er schreibt, zwei separatistische Kämpfer ausgemacht, die eine Geschichte bestätigen, die der Corriere della Sera berichtet hat.

Der Reporter der italienischen Zeitung berichtet von einem Gespräch mit einem separatistischen Milizangehörigen, der sagte, er sei von seinem Kommandeur kurz nach der Explosion zum Absturzort des Flugzeugs geschickt worden. Offensichtlich handelte es sich nicht um einen russischen Söldner, sondern um einen jungen ukrainischen Mann aus der naheliegenden Stadt Torez. Zehn Minuten zuvor hatten sie mit Waffen und Munition auf Befehl einen Lastwagen bestiegen. Die Vorgesetzten sollen dann gesagt haben, die Separatisten hätten ein Flugzeug der "Faschisten" abgeschossen. Man sei an den Absturzort gekommen, um Piloten oder Besatzung festzunehmen oder zu kämpfen, aber nur tote Zivilisten gesehen. Man habe "weiße Objekte" gesehen, die Fallschirme sein können. Sie sollten dann die Leichen bergen und die Unglücksstelle sichern. Der Kämpfer habe sich auch überzeugt gegeben, dass nicht die Separatisten das Flugzeug abgeschossen haben.

Aus der Geschichte lässt sich "guten Willens" herauslesen, dass die lokalen Kommandeure gewusst haben müssen, dass bald ein Flugzeug abgeschossen wird, aber dass es ein ukrainisches Militärflugzeug sein wird. Man könnte sich auch fragen, woher die lokalen Kommandeure im Voraus hätten wissen sollen, dass ein ukrainisches Flugzeug in die Reichweite einer Flugabwehr kommt. Oder sollte gezielt die Passagiermaschine vom Himmel geholt werden, während man den einfachen Kämpfern vorflunkerte, sie würden auf eine abgestürzte Militärmaschine stoßen? Falls die vom russischen Verteidigungsministerium stammenden Informationen stimmen sollten, ist MH17 über der Ukraine vom vorgesehenen Kurs abgewichen. Sollten die Separatisten dafür verantwortlich sein? Oder hätten sie dies wissen können?

Egal, der deutsche Journalist aus dem Artikel des Corriere die Schlussfolgerung gezogen:

So eine Anordnung unmittelbar nach der Explosion würde zeigen, dass die Separatisten über den Abschuss umgehend Bescheid wussten, was wiederum darauf hinweisen könnte, dass sie selbst das tödliche Geschoss abgefeuert haben.

Das ist natürlich sehr viel Konjunktiv, auch zu viel für den Journalisten. Er hat anhand eines Fotos den Interviewten gefunden, der aber ihm nichts mehr erzählen wollte, wohl aber zwei seiner Kollegen, die ihm auch ihre Kampfnamen mitteilten, wie er stolz schreibt. Sie bestätigten die Schilderung, dass sie zur Absturzstelle geschickt worden seien, einer lieferte auch eine nachvollziehbare Begründung:

Lassen Sie mich erklären. Jedes Flugzeug, das hier auftaucht, ist ein feindliches Flugzeug. Weil wir selbst keine Flugzeuge haben. Und die Flugzeuge, die hier fliegen, sind feindliche Flugzeuge.

Er sagte zudem, dass sich zunächst auch die "Bevölkerung der Umgebung" über den Abschuss gefreut habe, was auch zeigt, dass die "Terroristen" einen Rückhalt in der Bevölkerung haben, was aber den FAZ-Journalisten nicht weiter interessiert. Die Menschen seien davon ausgegangen, dass ein Kampfflugzeug der ukrainischen Regierung abgeschossen wurde. Solche Kampfflugzeuge hätten kürzlich einen nahe gelegenen Ort "bombardiert". Warum der FAZ-Journalist "bombardiert" in Anführungszeichen setzt, erfahren die Leser nicht. Glaubt er dies nicht, dass ukrainische Kampfflugzeuge Ziele bombardieren? Oder würde er lieber ein anderes Wort vorziehen? Wir erfahren von ihm auch nichts über die beiden Kämpfer und ihre Motive, schließlich ist der Journalist investigativ auf der Jagd, seine Meinung zu bestätigen und der Welt Neues zu verkünden. Und das lautet, die gesetzten Anführungszeichen korrekt falsch reproduziert, so:

Den Kämpfern wurde während des Gesprächs mit der F.A.Z. anscheinend deutlich, dass sie im Begriff waren, ihrer eigenen Sache zu schaden. Einer sagte jedenfalls einschränkend, statt von einer Suche nach Piloten zu sprechen, "wäre es richtiger zu sagen: wir wurden hingeschickt, um die Sache zu klären, und notfalls jemanden festzunehmen." Er fügte hinzu: "Sonst wäre es eindeutig so, als wären wir schuld".

Diese Darstellung widerspricht nicht der Äußerung des ersten Kämpfers, dass man schlicht davon ausgeht, dass Flugzeuge in dem Gebiet solche des Feindes sind. Für den FAZ-Journalisten - "Dahinter steckt immer ein kluger Kopf"? - bestätigt dies aber die Behauptung des ukrainischen Geheimdienstes, der ein Gespräch zwischen Separatisten abgehört habe will. Ob man dem ukrainischen Geheimdienst unbedingtes Vertrauen entgegenbringen kann, darüber macht sich der Journalist keine Gedanken. Es ist ja der richtige Geheimdienst auf der richtigen Seite. Aber auch was er bestenfalls herausbringt, ist nicht sonderlich viel:

In einem dieser Gespräche taucht genau der Aspekt auf, über den die Rebellenkämpfer mit der F.A.Z. und dem "Corriere della Sera" gesprochen haben: die Tatsache, dass die Aufständischen unmittelbar nach dem Abschuss überzeugt waren, ein ukrainisches Kampfflugzeug sei von der eigenen Flugabwehr getroffen worden, weswegen sie nun in erster Linie an der Festnahme der Piloten interessiert waren.

Allerdings wird aus dem abgehörten Gespräch nicht klar, wann es geführt wurde, auch nicht, ob die Separatisten es abgeschossen haben. Aber nun ist der FAZ-Journalist so tief in die Analyse eingestiegen, dass immer weiter der Faden gestrickt werden muss, ohne nach rechts und links zu schauen:

Der ukrainische Geheimdienst SBU hat zuletzt zahlreiche Telefonmitschnitte und Videoaufnahmen veröffentlicht, die bestätigen sollen, dass das malaysische Passagierflugzeug von den Separatisten des Donbass mit Hilfe einer aus Russland gelieferten Flugabwehrrakete des Typs Buk M abgeschossen worden sei. Eine dieser Videoaufnahme zeigt angeblich, wie die Rebellen das Raketensystem nach dem Abschuss nach Russland zurückbringen.

Weil er es selbst natürlich nicht nachprüfen kann, wird dann von "angeblich" und "sollen" gesprochen. Und dann heißt es auch noch: "Die Authentizität solcher Aufnahmen konnte bisher nicht überprüft werden." Ja, das ist der Stand der Dinge, der auch mit Behauptungen der anderen Seite bezweifelt wird. Mit einer gewagten Wende, die jedem Verschwörungstheoretiker zur Ehre gereichen würde, kommt der Journalist des deutschen Qualitätsmediums dann zu seinem Fazit, das seine Arbeit gebührend herausheben soll:

Die Aussagen der Kämpfer am Dienstag bestätigen nun immerhin einige Details. Dazu gehört das Interesse der Rebellenführer an den "Piloten", von denen man glaubte, sie hätten sich am Fallschirm gerettet. Dass die Rebellen ungewöhnlich schnell an der Unglücksstelle eintrafen, also möglicherweise von Anfang an über den Abschuss Kenntnis hatten, geht auch aus Aussagen von Anwohnern des Absturzortes hervor. Eine Familie, deren Name der F.A.Z. bekannt ist, gab an, die Kämpfer seien schon 10 bis 15 Minuten nach dem Unglück da gewesen.

Die Explosion und der Absturz dürften in einem weiten Umkreis gehört worden sein. Dass lokale "Kämpfer" dann schnell vor Ort waren, weist eigentlich in keiner Weise darauf hin, dass sie schon vorher Bescheid gewusst haben. Aber so werden Stories fabriziert, die natürlich keine Verschwörungstheorien sein wollen. Die haben selbstverständlich in Qualitätsmedien auch keinen Platz, die behaupten, dass hinter ihrer Zeitung ein kluger Kopf steckt und damit auch suggerieren, dass die Autoren noch klüger als die Leser sind. Kleine Erinnerung an Februar 2003, kurz vor dem Beginn des Irakkriegs: Die Pocken am Frühstückstisch. Nicht gesagt ist damit, dass Verschwörungstheorien wie im Fall von MH17 auch zutreffen können, aber vor Beweisen sollte für nicht staatlich eingespannte Medien kritische Distanz zu allen Seiten gelten. Das ist aber offensichtlich gegenwärtig im Erregungszustand und der von US-Außenminister ausgerufenen und von der FAZ wiederholten "Stunde der Wahrheit" einfach zu viel verlangt.