Welt als Gehirnversuch, Unsicherheit zu reduzieren

Thomas Metzinger über "das Selbst", psychoaktive Drogen und die Dimension der Zukunft in der ethischen Debatte. Teil 2

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Der Philosoph Thomas Metzinger erblickt aufgrund der rasanten Entwicklung der Neurowissenschaften einen erhöhten Reflexionsbedarf in der Philosophie und eine nicht minder drängende Notwendigkeit, politisch zu handeln.

Zu Teil 1: "Ein physikalisch determiniertes System könnte einen hohen Grad an Autonomie besitzen"

Herr Metzinger, welche Kritikpunkte an ihrer "Philosophie des Selbst" fanden Sie am unangebrachtesten - und gab es welche, aus denen Sie etwas lernen konnten?

Thomas Metzinger: Eine Sache, die in Being No One1 und auch in der überarbeiteten Neufassung des "Ego-Tunnels" fast vollständig fehlt, ist die Theorie des so genannten Predictive Coding, die zu großen Teilen von dem britischen Mathematiker Karl Friston entwickelt wurde und die mich und viele junge Leute in meiner Gruppe sehr beschäftigt.

Diese Theorie sagt, dass alle geistigen Inhalte kontrafaktische Inhalte sind, eine vom Gehirn dargestellte Wahrscheinlichkeitsverteilung, immer nur eine Möglichkeit, eben die beste Hypothese, die das System im Moment über die Außenwelt hat - oder auch über seinen eigenen Zustand.

Es gibt im Moment in der Kognitionswissenschaft und den informierten Teilen der Philosophie des Geistes eine regelrechte Hysterie, weil viele kluge Leute den Eindruck haben, dass dies die Anfänge des übergreifenden formalen, begrifflichen Rahmens sein könnten, nach dem wir so lange gesucht haben. Zum Beispiel lässt uns diese Theorie auf einer tieferen mathematischen Ebene verstehen, warum Handeln und Wahrnehmen im Grunde dasselbe sind, nämlich die kontinuierliche Minimierung eines Vorhersagefehlers.

Sie liefert uns aber auch ein neues Verständnis davon, was Aufmerksamkeit eigentlich ist: Was wir als "die Welt" erleben, ist in Wirklichkeit ein generatives Modell in unserem Gehirn, das kontinuierlich versucht, Unsicherheit zu reduzieren und "hässliche Überraschungen" zu vermeiden, indem es automatisch immer neue Vorhersagen erzeugt, testet und auf diese Weise die kausale Struktur der Außenwelt extrahiert. Das Problem: Die notwendige Mathematik ist für Philosophen mit einer normalen universitären Ausbildung nicht zu beherrschen. Wir brauchen in der Philosophie des Geistes jetzt auf einmal junge Leute, die nicht nur empirisch gut informiert sind, sondern auch solche, die Mathematik studiert haben.

Ich lerne viel von den kritischen Zuschriften wissenschaftlich gebildeter Leser aus aller Welt (die ich leider nicht mehr alle beantworten kann), aber es gibt natürlich auch das Rauschen an der Oberfläche, die klassischen Missverständnisse: Wenn es doch gar kein Selbst gibt, wer ist es denn dann, der sich täuscht oder die ominöse "Illusion des Selbst" aus dem Esoterikbuchladen hat?

Nun, es ist die Person als Ganzes, und sie wird vom Organismus zur Person genau dadurch, dass sie in einen sozialen Kontext eingebettet ist, der evolutionär und kulturgeschichtlich eben genau dadurch entstanden ist, dass Wesen das subpersonale Selbstmodell in ihrem Gehirn zu großen Teilen nicht als ein Modell erleben konnten und sich deshalb mit seinem Inhalt identifiziert haben. Das transparente Selbstmodell war die Brücke von der Biologie in die Kultur.

Ein anderes ganz besonders tolles Missverständnis lässt sich wie folgt formulieren: "Wenn es ein Selbstmodell gibt, dann muss es ja auch ein Selbst geben, von dem das Modell ein Modell ist!" Nein, Selbstmodellierung ist ein kontinuierlicher Vorgang, mit dem ein informationsverarbeitendes System globale Eigenschaften seiner selbst überwacht und in einem einheitlichen Datenformat darstellt. Es gibt das System, es gibt das Selbstmodell, das nicht als solches erlebt wird, es gibt die Ganzheit aus beiden, aber es gibt kein Selbst. "Das Selbst" ist eine sprachliche Verdinglichung, die dadurch entsteht, dass wir eine Zeitscheibe eines permanenten dynamischen Vorgangs behandeln, als wäre sie ein Gegenstand oder auf ein statisches Objekt gerichtet.

Das "Ich" - von dem Journalisten so gerne reden - gibt es natürlich auch nicht. "Ich" - das Personalpronomen der ersten Person Singular - bezeichnet immer den Sprecher, der es aktuell verwendet. Seine logische Funktion ist nicht die eines Gattungsbegriffs, sondern die der Selbstlokalisation eines Sprechers in einem Äußerungskontext. Trotzdem verwenden viele Leute bei der sprachlichen Selbstbezugnahme den indexikalischen Ausdruck "Ich" sehr häufig so, als ob es sich dabei um einen Namen für ein inneres Ding oder eine Form von Bezugnahme auf einen Gegenstand handelt. Es gibt aber keine spezielle Gattung von Dingen ("Iche" oder "Selbste"), die man in sich tragen könnte wie ein Herz oder besitzen könnte wie ein Smartphone oder einen Fußball.

Wo wir gerade dabei sind: Das in lebensweltlichen Kontexten allgegenwärtige Reden von unserem oder "meinem" Selbst ist natürlich auch in sich widersprüchlich, weil es dann ja schon jemanden geben müsste, der das Selbst "hat", also ein Selbst hinter dem Selbst, das zu diesem in einer Besitzrelation steht. Das Selbst kann selbstverständlich auch nichts "in mir" sein, weil dann ja das, mit dem ich identisch bin, nur ein konstituierender Teil von mir wäre. Da hört es dann schon wieder auf mit der Mediengängigkeit, oder?

Thomas Metzinger

"Evolutionär sehr erfolgreich"

Ich finde ja, dass Ihr letzter Satz durchaus Sinn macht, wenn man das "Selbst" als Prozess begreift, welcher die sich schneller und langsamer verändernden Komponenten in einer Art Fließgleichgewicht einigermaßen zusammenhält. Können Sie mit diesem Gedanken etwas anfangen?

Thomas Metzinger: Dieser Prozess ist der Vorgang der Selbstmodellierung. Er besitzt bewusste Schichten und unbewusste Schichten. Es ist ein repräsentationaler Vorgang, der verschiedene Teile und Aspekte des Systems dynamisch zu einer höherstufigen Ganzheit verbindet. Zu jedem einzelnen Zeitpunkt erzeugt er das, was ich die unit of identification nenne, also die Einheit der Identifikation, genau den Bewusstseinsinhalt, zu dem wir sagen: "Das bin ich!" Weil das System den Inhalt seines Selbstmodells nicht als Inhalt eines Darstellungsvorgangs in seinem eigenen Nervensystem erkennen kann, identifiziert es sich mit diesem Inhalt. Das war evolutionär sehr erfolgreich, hat aber auch sehr viel Leiden und Verwirrung in die Welt gebracht.

Das Interessante an diesem Prozess ist aber nicht nur, dass er zu einer ganzheitlichen und integrierten Darstellung des Systems in diesem System selbst führt, sondern auch, dass er der biologischen Integrität, den Zusammenhalt und dem Überleben des physischen Organismus ganz direkt dient. Auch Optimismus, Selbstgefälligkeit und Sterblichkeitsverleugnung oder die vielen anderen Formen der Selbsttäuschung dienen letztlich dem biologischen Erfolg und dem Kampf gegen die Entropie. Selbstmodellierung ist nicht automatisch Selbsterkenntnis und das philosophische Streben nach Selbsterkenntnis ist in diesem Sinne ein anti-biologisches Ideal, das uns möglicherweise evolutionär untauglich macht.

Den Vorgang, den Sie beschreiben, gibt es also auf jeden Fall. Was es nicht gibt, ist eine ontologische Substanz oder ein nicht-physikalisches Einzelding, welches man dann als "das" Selbst bezeichnen könnte. Dieser einfache Punkt ist deshalb intuitiv so schwer zu verstehen, weil er eine Gefahr für die eben erwähnten Mechanismen der Sterblichkeitsverleugnung darstellt.

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