Schwache Staaten schaffen

Destabilisierung von strategischen Regionen als Ansatz westlicher Außenpolitik

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Ukraine, Syrien, Irak, Libyen. In den vergangenen Monaten verstand die breite Öffentlichkeit, dass die politischen Verhältnisse um Europa herum sich dramatisch verschlechtert haben. Aus der Ukraine zieht der Rauch der Gefechte direkt bis in die deutschen Wohnzimmer. Und der Schock darüber, dass ein Krieg in Europa möglich ist, überraschte viele Menschen ebenso wie die Geschwindigkeit der Eskalation. Ähnlich wie schon beim Angriff der NATO auf Jugoslawien im Jahr 1999 wird Krieg erstmals wieder aus der Nähe erfahrbar.

Viele Europäer stehen durch die erneute gewalttätige Eskalation in unmittelbarer Nachbarschaft vor neuen Herausforderungen. So ist bisher kaum jemand ein gesellschaftliches Klima gewohnt, in dem die Meinungen derartig polarisiert sind, dass von beiden Seiten tödliche Auseinandersetzungen selbstverständlich akzeptiert werden. Auch die Anwesenheit von bewaffneten Uniformierten im Alltag erscheint gewöhnungsbedürftig. Nicht zuletzt verursachen Bilder von toten Weißen, von Europäern, die sich gegenseitig umgebracht haben, ein beunruhigendes Identifizierungsmoment, das geeignet ist, konkretere Ängste auszulösen, als wenn es sich um die üblichen Kriegsopfer jenseits der OECD-Grenzen handelt.

Diese besondere kulturelle Nähe zum Ukraine-Konflikt verdeckt möglicherweise, dass zahlreiche andere Konflikte in ähnlicher geographischer Entfernung stattfinden. Georgien, Tschetschenien, Syrien, der Irak oder Libyen sind, realistisch betrachtet, nicht viel weiter von den Außengrenzen der Europäischen Union entfernt als etwa Donezk, wo gegenwärtig Kampfflugzeuge komplette Häuserblocks zerstören. Tatsächlich hält die Eskalation im unmittelbaren Umfeld der EU schon seit einer geraumen Weile an. Selbst die Umbrüche, welche seit 2011 in der arabischen Welt ablaufen, stellen bei genauerer Betrachtung nur eine neue Welle in einem Meer von sich verschärfenden Konflikten dar.

Das subjektive Empfinden der Fernsehzuschauer, dass die gewalttätigen Konflikte weltweit zunehmen, ist durchaus begründet. Das australische Institute for Economics and Peace kommt in seinem Jahresbericht 2014 zu dem Ergebnis, dass global seit sieben Jahren ein Prozess stattfindet, der die 60jährige Periode relativer Friedlichkeit beendet. Nach Ansicht von Steve Killelea, einem Mitbegründer des Instituts, wird sich diese Entwicklung in naher Zukunft fortsetzen. "Es besteht die Gefahr, dass wir in einen negativen Zyklus hineingeraten", so Steve Killelea bei der Präsentation des Berichts. Geringeres Wirtschaftswachstum führe zu einer höheren Gewaltbereitschaft und Maßnahmen zu deren Eindämmung führen zu einem geringeren Wirtschaftswachstum.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung zu weltweiten Protesten zwischen 2006 und 2013. Die Autoren stellen die aktuellen Unruhen allerdings in eine Reihe mit den großen Protestzyklen von 1848, 1917 und 1968: "Gegenwärtig erleben wir eine weitere Periode der zunehmenden Empörung und Unzufriedenheit, und einige der größten Proteste in der Weltgeschichte", so das Fazit. Und bis zum Abschluss der Untersuchungen stieg die Zahl der Proteste weltweit kontinuierlich weiter.

Zwar machten gewalttätige Auseinandersetzungen unter den Protesten insgesamt nur 13 Prozent aus, diese konzentrierten sich jedoch auf bestimmte Regionen und hatten vielfach eine klar zu benennende Ursache. "Es ist bemerkenswert, dass die meisten gewalttätigen Proteste in der Region Sub-Sahara-Afrika und in der Gruppe von Ländern mit niedrigem Einkommen auftreten."

Zudem zeigte sich, dass viele Riots mit der Preisentwicklung für Nahrungsmittel und Energie zusammenhängen. Gerade bei diesen Hungerrevolten tauchen einige bekannte Länder auf: So kam es in Ägypten, Jemen und Somalia bereits im Sommer 2008 zu Unruhen, als der globale Index für Lebensmittelpreise einen ersten Höhepunkt erlebte. Im Winter 2010/2011 folgten auf dem nächsten Höhepunkt der Preisskala außerdem Tunesien, Syrien, Algerien, der Sudan und der Ölstaat Bahrein.

Auch das Institute for Economics and Peace stellt die soziale und wirtschaftliche Entwicklung als einen der wichtigsten Faktoren heraus. Den gefährlichsten Einfluss haben aktuell demnach die wirtschaftlichen Auswirkungen der globalen Finanzkrise, die Folgen des Arabischen Frühlings sowie die anhaltende Ausbreitung des Terrorismus. Auf der anderen Seite benennt das Institut auch die fehlenden positiven Faktoren, die "Säulen des Friedens". Dazu zählen solide Institutionen, eine gut funktionierende Regierung und niedrige Korruptionsraten.

Die für Europa besonders Besorgnis erregende Dimension der Analysen liegt in der geographischen Verteilung der Krisenstaaten. Die meisten gehören zu einer gemeinsamen Kategorie an, die sich im engeren und weiteren Umfeld der Europäischen Union befindet und deren innere Verhältnisse entsprechend von außerordentlicher Bedeutung für jeden Europäer sein sollten. Allerdings, und das macht das Problem umso beunruhigender, scheint die europäische Außenpolitik nicht ansatzweise in der Lage zu sein, die nachbarschaftlichen Beziehungen des Kontinents positiv zu beeinflussen.

In seiner Studie zur europäischen Nachbarschaftspolitik kommt der ehemalige Direktor beim Europäischen Rat, zuständig für den Balkan, Osteuropa und Zentralasien, Stefan Lehne, zu deutlichen Ergebnissen. "Unsere benachbarten Regionen erlebten Diktaturen und Staatsversagen, Drangsalierungen durch große Nachbarn, internationale und Bürgerkriege, Revolutionen, Aufstände, politische und religiöse Auseinandersetzungen, Militärputsche und Terroranschläge."

Im Rahmen der European Neighborhood Policy (ENP) versuchte die EU seit 2004 über zehn Jahre, insgesamt 16 Länder in Osteuropa, Nordafrika und im Mittleren Osten zu unterstützen - etwa die Ukraine, Syrien und Libyen -, um sie perspektivisch der EU anzunähern. Das hieß vor allem, Formen des "guten Regierens" zu fördern, dessen Kriterien sich in etwa mit den vom Institute for Economics and Peace genannten "Säulen des Friedens" decken.

Insgesamt investierte die EU dafür zwischen 2007 und 2013 zwölf Milliarden Euro, was in etwa dem Staathaushalt Nigerias entspricht, einem der größten Länder Afrikas. Das Fazit von Lehne, inzwischen Mitarbeiter der Carnegie-Stiftung, lautet: "Es ist klar, dass die europäische Nachbarschaftspolitik gescheitert ist." Inzwischen kann von den Anrainerstaaten nur noch ein einziger, ausgerechnet das autoritär regierte Algerien, als "politisch stabil" bezeichnet werden.

Scheiternde Staaten: Gefallen oder gestoßen?

Wichtig für das Verständnis außenpolitischer Strategien ist zunächst, dass die EU in ihrer Nachbarschaftsidee davon ausgeht, dass sie die staatliche Entwicklung in den gefährdeten Nachbarstaaten positiv beeinflussen könnte. Seit die Debatte um schwache, scheiternde oder gescheiterte Staaten geführt wird, also in den vergangenen 20 Jahren, stehen vor allem die inneren Bedingungen der betroffenen Länder im Zentrum. Politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungen werden zudem gerne in Form von Naturereignissen diskutiert, in der die Akteure - kurz: die Verantwortlichen - nicht thematisiert werden.

Wie sich äußere und innere Einflussmöglichkeiten auswirken können, lässt sich am Beispiel des aktuell problematischsten Krisenkandidaten verdeutlichen, am Fall des Irak. Eine positive soziale Entwicklung, wie sie etwa am Pro-Kopf-Einkommen oder an der Lebenserwartung abzulesen ist, setzte im Irak erst mit der formalen Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1939 ein. Zu diesem Zeitpunkt wurden Iraker im Durchschnitt 31 Jahre alt und verdienten knapp 3.000 US-Dollar im Jahr. Bis 1979 hatte sich das Durchschnittsalter verdoppelt, die Einkommen stiegen um fast das Sechsfache auf durchschnittlich 20.000 Dollar jährlich. Damit lag der Irak als ein quasi sozialistischer Ölstaat zu diesem Zeitpunkt, was den Nahen und Mittleren Osten betraf, in einer Spitzengruppe mit Libyen, Saudi-Arabien, Kuweit und Katar.

Im Nachbarland Iran, damals noch von der westlichen Marionette Schah Pahlavi regiert, betrug es weniger als 7.000 Dollar, obwohl das Land hinsichtlich seiner Größe und seiner Ressourcen dem Irak sehr ähnlich ist. Die Differenz von 13.000 Dollar pro Kopf stellte sozusagen die jährliche Abgabe eines jeden Iraners an den Westen dar, der mit dem Sturz von Präsident Mossadegh im Jahr 1953 die Ausrufung der Republik und die Nationalisierung der iranischen Ölvorkommen rückgängig gemacht hatte.

Diese Umstände trugen wesentlich dazu bei, dass die iranische Bevölkerung im Jahr 1979 den Schah stürzte. In dieser Situation hatte der Westen ein Ass im Ärmel, um die befürchtete sozialistische Revolution im Iran zu verhindern. Washingtons Horrorvorstellung bestand darin, dass sich nach dem Irak noch eine zweite potentielle Regionalmacht in der Region außenpolitisch Richtung Moskau orientiert.

Frankreich ließ den schiitischen Geistlichen Ajatollah Chomeini, der sich wie die meisten Islamisten zu dieser Zeit mit freundlicher Unterstützung im Westen aufhielt, in den Iran zurückreisen, wo er statt einer sozialistischen dann eine islamische Republik gründete.

Diese erwies sich zwar den USA gegenüber als beinahe noch unfreundlicher, allerdings verhinderte eine islamistische Regierung erfolgreich die befürchtete Blockbildung. Zbigniew Brzeziński, damals außenpolitischer Berater des demokratischen Präsidenten Jimmy Carter, zog sogar eine direkte militärische Intervention der USA im Iran in Betracht. "Wir begannen, günstiger über Saddam Hussein als potentielles Gegengewicht zu Ajatollah Chomeini zu denken", beschrieb Howard Teicher, Direktor im Nationalen Sicherheitsrat der USA, das Vorgehen.

Ein bemerkenswerter Umstand wollte es, dass Hussein mitten in diesen turbulenten Jahr 1979 zum irakischen Staatschef wurde und damit Ahmad Hasan al-Bakr ablöste, der 1972 den Bündnisvertrag mit der Sowjetunion unterzeichnet hatte. Brzeziński sei davon ausgegangen, dass Saddam Hussein "mit der richtigen Kombination von Schmeicheleien" von Moskau getrennt und zur "Säule der Stabilität im Persischen Golf" aufgebaut werden könne.

Dieser Plan gelang und Saddam Hussein startete nach nur einem Jahr an der Macht mit Milliarden schwerer Unterstützung aus den USA, unter anderem in Form von Chemikalien für Chemiewaffen, im September 1980 einen Krieg gegen den Iran, den Ersten Golfkrieg.

[D]ie Vereinigten Staaten unterstützten aktiv die irakischen Kriegsanstrengungen, indem sie dem Irak Milliarden von Dollar an Krediten einräumten, der US-Militärgeheimdienst beriet die Iraker, wir ersuchten Drittstaaten um Waffenlieferungen an den Irak, um sicherzustellen, dass das irakische Militär über die erforderlichen Waffen verfügt. Die Vereinigten Staaten boten den Irakern auch strategische operative Beratung an, um ihre Kampffähigkeit zu verbessern.

Aussage von Howard Teicher vor dem US-Bezirksgericht Southern District of Florida, 31. Januar 1995

Der irakischen Bevölkerung bekam diese neue Nähe zum Westen gar nicht gut. Der Erste Golfkrieg kostete bis 1988 etwa 300.000 Irakerinnen und Iraker das Leben. Die kriegsbedingten Staatsausgaben beliefen sich auf ungefähr 450 Milliarden US-Dollar, wovon hauptsächlich Waffenhersteller in den USA und in China profitierten. Die Einkommen begaben sich in den freien Fall und landeten 1990 zunächst auf dem Niveau des Iran im Jahr 1979, nämlich bei 7.500 Dollar. Ein Jahr später, als die USA eine erneute Kehrtwende in ihrer Außenpolitik vollzogen hatten und mit dem Zweiten Golfkrieg selber in den Irak einmarschierten, rutschten sie auf das Niveau zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit von 1939.

Auf eine verbindliche Zahl der Opfer konnte sich nach dem Zweiten Golfkrieg niemand einigen, ein solider Mittelwert liegt bei 75.000 Menschen, darunter 25.000 Zivilisten, welche hauptsächlich bei der Bombardierung Bagdads ums Leben kamen. Zwar verbesserte sich die Lebenssituation nach Ende des Krieges ab 1992 leicht. Bedingt durch das von den USA verhängte Wirtschaftsembargo verblieb sie in den folgenden zehn Jahren jedoch mit 4.500 US-Dollar pro Kopf im Jahr auf dem untersten Niveau in der Region. Nur der Jemen konnte in den 1990er Jahren schlechtere sozialökonomische Eckwerte aufweisen.

Wenn die Irakerinnen und Iraker angenommen hatten, dass sie nicht tiefer fallen könnten, hatten sie sich getäuscht: Durch den Dritten Golfkrieg, in dem die USA und eine "Koalition der Willigen" im März 2003 unter abstrusen Vorwänden erneut einmarschierten, wurde der Irak als soziale, kulturelle und politische Formation endgültig zerstört. Kurdische Peschmerga zogen die "Säule der Stabilität im Persischen Golf" nach einem halben Jahr des Versteckspiels aus einem Dreckloch und lieferten Hussein - gegen unbekannte Gegenleistungen - an die US-Streitkräfte aus. Der Teil der Verhörprotokolle, der sich auf die Zusammenarbeit zwischen Saddam Hussein und den USA in den 1980er Jahren bezieht, ist von der US-Regierung bis heute als geheim eingestuft.

Laut den von Wikileaks veröffentlichten Unterlagen des US-Militärs kamen alleine nach dem Ende des Krieges, also zwischen 2004 und 2010, circa 110.000 Iraker durch direkte Kampfhandlungen ums Leben, darunter 66.000 Zivilisten. Seriöse Aussagen über die aktuelle Einkommenssituation sind nicht möglich.