"Gene drive" - ein Eingriff in das Erbgut frei lebender Organismen

Forscher stoßen die Diskussion um eine potentiell folgenschwere Methode an, die schon bald ganze Populationen verändern könnte

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Die Manipulation des Erbguts von wild lebenden Organismen könnte dabei helfen, Krankheiten zu besiegen und invasive Arten zurückzudrängen. Was vor gut zehn Jahren als utopische Idee formuliert wurde, ist durch den Fortschritt der Gentechnologie in greifbare Nähe gerückt. Renommierte Forscher suchen einen gesellschaftlichen Konsens, bevor die Entwicklung der entsprechenden Methoden beginnt.

Insekten übertragen tödliche Krankheiten, Schädlinge entwickeln Resistenzen gegen Pestizide, invasive Arten bedrohen lokale Ökosysteme - mit konventionellen Methoden hat man diese Probleme bislang nicht in den Griff bekommen. Ein neuartiger Lösungsansatz könnte darin bestehen, gezielt in das Erbgut von frei lebenden Populationen einzugreifen. Die Mittel dazu werden wohl bald zur Verfügung stehen. Renommierte Forscher sind überzeugt, dass diese dann auch unweigerlich zur Anwendung kommen.

Dieser Eingriff in die Natur könnte weitreichende Folgen haben. Ein gesellschaftlicher Konsens über Einsatz und Grenzen dieser Methode wäre dringend notwendig, doch dafür bleibt vermutlich wenig Zeit. In der jüngsten Ausgabe des Journals eLife haben Forscher um den US-amerikanischen Genom-Pionier George Church einen Artikel veröffentlicht, der die Grundlagen dieses radikalen Konzepts darstellt und zu einer öffentlichen Diskussion aufruft (Esvelt et al., Concerning RNA-guided gene drives for the alteration of wild populations, eLife, Juli 2014).

Egoistische Gene

Die Idee ist jetzt etwas mehr als 10 Jahre alt. Der britische Forscher Austin Burt veröffentlichte 2003 einen Fachartikel, indem er einen möglichen Ansatz für die genetische Manipulation von wild lebenden Populationen beschrieb (A. Burt, Site-specific selfish genes as tools for the control and genetic engineering of natural populations, Proceedings Biological sciences / The Royal Society, März 2003). Das Verfahren - unter dem Begriff "gene drive" bekannt geworden - setzt auf die Eigenschaften von sogenannten egoistischen genetischen Elementen. Diese können gewünschte Eigenschaften - etwa Resistenzen gegen Krankheitserreger - in frei lebende Organismen einbringen und schnell in der gesamten Population verbreiten.

Egoistische Elemente umgehen dabei die Regeln der normalen geschlechtlichen Vererbung. Tiere und Pflanzen tragen von jedem Gen meist zwei Varianten, doch bei einer sexuellen Fortpflanzung gibt jedes Elternteil nur eine dieser Varianten an die Nachkommen weiter. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Variante vererbt wird, beträgt also 50 %. Ob sich eine Genvariante in den folgenden Generationen durchsetzt, hängt von ihrem Einfluss auf die Fitness des Individuums ab: Vorteilhafte Varianten werden sich über die Zeit in der Gesamtpopulation anreichern, nachteilige Varianten werden letztlich aussterben.

Im Gegensatz dazu werden egoistische Elemente mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 % vererbt. Sie können sich deshalb selbst dann in einer Population durchsetzen, wenn sie die Fitness der Individuen beeinträchtigen. Ein einfacher Trick macht dies möglich - egoistische Elemente vervielfältigen sich im Genom.

In der Natur gibt es mehrere Varianten von egoistischen Elementen. Eine davon nutzt ein Enzym, das den DNA-Strang des Erbguts an einer definierten Stelle schneidet. Diese Schädigung löst einen Reparaturmechanismus aus, der vom egoistischen Element genutzt wird, um eine Kopie von sich in die Schnittstelle einzufügen. Das Element hat sich damit verdoppelt, befindet sich im Optimalfall auf beiden homologen Chromosomen und wird mit Sicherheit an die Nachkommen weitergegeben.

Der Schnitt des DNA-Strangs ist dabei ein entscheidender Schritt. Das entsprechende Enzym - Nuklease genannt - sollte idealerweise nur an einer einzigen Stelle im Erbgut schneiden, um unkontrollierbare Nebenreaktionen auszuschließen. Und die Struktur der Nuklease sollte nicht allzu kompliziert sein, da sonst eine getreue Vererbung über viele Generationen nur schwer möglich ist.

An diesen beiden Anforderungen - hohe Spezifität und stabile Vererbung der Nuklease - scheiterten bisherige Bemühungen, das Konzept eines gene drive in die Tat umzusetzen. Denn schon bald nach der Publikation von 2003 begannen einige Forschergruppen, genetische Elemente zu entwickeln, welche die Übertragung von Malaria durch Moskitos verhindern sollten. Im Labor waren diese Versuche teilweise erfolgreich, doch die verwendeten Nukleasen waren entweder instabil oder schnitten nicht an der gewünschten Stelle im Erbgut. Für den Einsatz in frei lebenden Populationen waren sie nicht geeignet.

Erfolgversprechende Methode gefunden

Doch ein Durchbruch in der Gentechnologie hat die Erfolgsaussichten erheblich verbessert. Forscher haben in Bakterien einen Schutzmechanismus gegen Viren entdeckt, der auf hochspezifischen Nukleasen beruht. Dieses CRISPR/Cas-System nutzt kurze Stränge aus RNA (ein Schwestermolekül der DNA), um geeignete Schnittstellen in der DNA zu definieren. Praktisch jede beliebige Sequenz im Erbgut lässt sich damit anvisieren. Im Jahr 2013 wurde dieses System erstmals für die Manipulation von Genen benutzt; es hat sich dabei als so erfolgreich erwiesen, dass es sich rasch in Forschungslabors auf der ganzen Welt durchgesetzt hat.

Das CRISPR/Cas-System erfüllt alle Anforderungen, die zur Verwirklichung eines gene drive notwendig sind. Die Autoren der eLife-Publikation sind daher überzeugt, dass entsprechende Methoden bald entwickelt und dann auch in die Tat umgesetzt werden. Sie sehen vor allem drei mögliche Anwendungsgebiete:

  • Tödliche Infektionskrankheiten wie Malaria oder Dengue könnten eingedämmt werden, indem die Übertragung durch Moskitos unterbrochen wird. Dazu könnte ein gene drive Gene in das Erbgut der Moskitos einführen, die eine Immunität gegen den Erreger erzeugen. Der Moskito wäre als Zwischenwirt ausgeschaltet und der Mensch vor einer Infektion geschützt.
  • Die zweite mögliche Anwendung wird in Europa auf massiven Widerstand stoßen: Ein gene drive könnte die Entwicklung von Resistenzen gegen Pflanzenschutzmittel rückgängig machen. Das zielt vor allem auf Herbizide und Pestizide, die von gentechnisch veränderten Nutzpflanzen produziert werden.
  • Letztlich könnte ein gene drive auch die Ausbreitung von invasiven Arten verhindern. Da sich egoistische Elemente selbst dann ausbreiten, wenn sie die Fitness der Individuen verringern, ermöglichen sie eine Kontrolle der Populationsgröße oder sogar deren Ausrottung. Als Beispiel wird hier die Aga-Kröte genannt, die nach Australien eingeschleppt wurde und dort das natürliche Ökosystem bedroht.

Die Gefahren dieses Ansatzes liegen auf der Hand: Die Folgen für den manipulierten Organismus und dessen Umwelt sind schwer vorhersehbar, im schlimmsten Fall ist auch eine unkontrollierte Ausbreitung des genetischen Elements möglich. Ein gene drive wäre ein tief greifender und riskanter Eingriff in die Natur.

Doch der Eingriff wäre nicht unumkehrbar. So wie ein gene drive ein genetisches Element in das Erbgut einführen kann, so kann er es auch wieder entfernen. Auch ist eine Art von Impfung denkbar, mit der negative Folgen von vornherein ausgeschlossen werden können. Bei unerwarteten Entwicklungen bestände also eventuell die Möglichkeit zu einer Korrektur.

In der Theorie bietet ein gene drive die Möglichkeit, präzise und gezielt in die Natur einzugreifen und dabei schädliche Nebenwirkungen zu minimieren. Ob sich das in der Praxis bestätigt, werden wir wohl bald erfahren: Die technischen Hürden scheinen mittlerweile überwindbar, und in vielen Ländern stoßen Genmanipulationen auf höhere Akzeptanz als bei uns. Die Initiative der Wissenschaftler, die frühzeitig eine öffentliche Diskussion anstoßen wollen, ist lobenswert. Die Gesellschaft muss nun bald darauf reagieren.