Gaza: Geschichten von Macht und Geld

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Obwohl mittlerweile mehr als 1.200 Menschen starben, ist ein Waffenstillstand immer noch nicht in Sicht. Israels Regierungschef Netanjahu gibt derweil den besonnenen Landesvater und die Hamas erklärt sich zur Befreiungsorganisation

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In keinem der beiden vorangegangenen Gaza-Kriege im November 2012 und zum Jahreswechsel 2008/2009, auch nicht im Libanon-Krieg 2006, kamen auf der arabischen Seite so viele Menschen ums Leben wie im jetzigen Konflikt. Mindestens 1.200 Menschen waren es bis Mittwochabend im Gazastreifen; 56 israelische Soldaten und mindestens drei Zivilisten starben auf der israelischen Seite.

Zudem sitzen die Einwohner des Gazastreifen mittlerweile weitgehend im Dunkeln: Am Dienstag ging das einzige Kraftwerk in Flammen auf. Auch die Vereinten Nationen geraten zunehmend zwischen die Fronten: Bereits zum dritten Mal wurden nun in Einrichtungen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNWRA Raketen gefunden; zwei Mal wurden UN-Anlagen von der israelischen Luftwaffe angegriffen.

Zwischen Jerusalem und Washington ist nun offener Streit ausgebrochen: So veröffentlichte ein Fernsehsender eine angebliche Mitschrift eines Telefonats zwischen Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu und US-Präsident Barack Obama; beide Seiten tauschen öffentlich Spitzen aus, während Diplomaten versuchen zu retten, was zu retten ist.

Die Spindoktoren

Da ist er wieder. Pünktlich zum Nachmittagskaffee um kurz nach vier kommt er in das Café spaziert, die Aktentasche unter dem Arm, fragt, ob da noch ein Platz frei ist, während er sich schon setzt, ein spitzbübisches Lächeln im Gesicht. Es ist mittlerweile ein Spiel: Er würfelt Fakten und Fragmente auf den Tisch und schaut, wie das Ergebnis beim Gegenüber ankommt, wie es auf das Gegenüber wirkt, ob es sein "Narrativ" beeinflusst.

David, ein Mann um die 35, Akademiker, Politologie, Nahostwissenschaftler, sprachgewandt, arbeitet bei einer der vielen, vielen, vielen Organisationen, die es in der Region gibt. Seine sei eher ein wissenschaftlicher Think Tank sagt er, doch sein Job dort ist, eher Wissen zu schaffen, als Wissenschaft. David ist ein professioneller Spin Doctor und seine Aufgabe ist es, Meinung zu verändern.

Bei vielen Journalisten reicht es, wenn man sie einen Raketenalarm miterleben lässt, ihnen einen von der Hamas gegrabenen Tunnel zeigt oder sie eine Iron-Dome-Anlage anfassen lässt. Bei denjenigen, die das alles schon gesehen haben, die schon länger dabei sind, die möglicherweise auch analytisch arbeiten, müssen schon schärfere Geschütze ran: Man muss ihnen die Politik erklären, und zwar so, wie man sie gerne verstanden haben möchte.

Wer dafür zahlt? Es muss nicht unbedingt die Regierung sein. Auch politische Parteien oder Lobbyorganisationen zahlen für solche Dienste. "Narrativ", das ist das Wort, mit dem steht und fällt, ob die Auftraggeber ihr Ziel erreichen: die Sicht auf die Dinge.

Zwei Menschen können ein und dasselbe Ereignis auf völlig verschiedene Art und Weise auffassen. Beispiel: Für jüdische Israelis war das Jahr 1948 das Jahr der Unabhängigkeit des Staates. Für Palästinenser hingegen ist es das Jahr der Nakba, der Katastrophe.

Und damals wie heute bedeutet das Narrativ nicht unbedingt, dass eine der beiden Seiten Unrecht hat. Dass die Unwahrheit gesagt wird, Tatsachen auch aus dem Kontext gerissen oder ganz einfach weg gelassen werden, um ein Ereignis dem eigenen Narrativ anzupassen, steht dabei auf einem eigenen Blatt.

Heute geht es um Katar. Denn Katar ist plötzlich sehr wichtig hier in der Region. Vor einiger Zeit, der Gaza-Krieg hatte gerade angefangen, haben die Regierungen von Katar und der Türkei einen gemeinsamen Vorschlag für einen Waffenstillstand vorgelegt (Ja. Nein. Vielleicht). Darin heißt es, dass die Blockade des Gazastreifen aufgehoben, die Grenzen geöffnet, die Infrastruktur entwickelt und, natürlich, die Kampfhandlungen eingestellt werden sollen.

Israels Regierung lehnte das umgehend ab, weil ihr darin zu starke Spuren von Hamas enthalten sind. Das Papier verschwand im mittlerweile recht großen Stapel von Initiativen, Brandbriefen, Resolutionen, Mahnungen und Mitteilungen zum Gaza-Krieg.

Die Narrative

Bis US-Außenminister John Kerry am Freitag eine eigene Waffenstillstandsinitiative vorlegte, die dem Doha/Ankara-Entwurf ziemlich ähnelt. Seitdem brennt die Erde: Israelische Politiker und Medien werfen Kerry Realitätsverlust vor, Kerry gibt sich beleidigt ("Ich habe im Kongress zu 100 Prozent für Israel gestimmt") und US-Präsident Barack Obama rief am Sonntag bei Regierungschef Benjamin Netanjahu an: Es soll ein sehr hartes Telefonat gewesen sein.

Und an diesem Punkt kommen die Narrative ins Spiel. Aus Sicht der Vereinigten Staaten ist Katar geradezu prädestiniert dafür, in der Region zu vermitteln. Nach Ansicht von US-Diplomaten gibt es so sogar keinen anderen Vermittler, der Zugang zur Hamas und den Essedin al-Kassam-Brigaden finden und ihnen sehr weitreichende Zugeständnisse im Gegenzug für sehr weitreichende Zugeständnisse abringen könnte.

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Denn in Katar ist nicht nur das Politbüro der Hamas ansässig. Das Land sucht auch traditionell, mal mehr, mal weniger, den Dialog mit islamistischen Gruppierungen - und hat dementsprechend Zugang, den Regierungen in Ländern wie Ägypten nicht mehr haben. Dort hat man im Laufe der vergangenen Monate die Hamas verboten, ihren Besitz in Ägypten beschlagnahmt und ihr den Geldfluss abgeschnitten. Israel hätte Ägypten gerne als Vermittler. Doch die Hamas will mit der dortigen Regierung nichts mehr zu tun haben.

Das ägyptische Narrativ, um einen ganz kurzen Schlenker zu machen, geht in die Richtung, dass Katar und die Türkei Kairo in den Rücken gefallen sind. Im Team Kerry ist man jedoch der Ansicht, dass da nie ein Rückgrat war: Es sei unrealistisch, an eine Initiative zu glauben, die eine Seite vollständig leer ausgehen lässt.

Die israelische Sichtweise hingegen ist die, dass ein Eingehen auf die Zugeständnisse Israel vor massive Probleme stellen würde: Die Bedenken sind dabei vor allem wirtschaftlicher Natur - und, wie auch Spin Doctor David einräumt, hausgemacht. Die Gesamtkosten des Krieges liegen bisher, mit Militärausgaben und wirtschaftlichen Schäden, bei umgerechnet mindestens zehn Milliarden Euro in Israel.

Das Geld

Das ist eine Summe, die Mitarbeiter der Zentralbank in Jerusalem für viel zu niedrig angesetzt halten: Die Auswirkungen auf die Wirtschaft seien aus Erfahrungswerten des Libanon-Krieges 2006 berechnet worden. Damals seien aber die Ausgangsvorraussetzungen andere gewesen: Das Wirtschaftswachstum vor Kriegsbeginn lag damals bei um die sechs Prozent. Für dieses Jahr wurden maximal 2,5 Prozent prognostiziert. Hinzu komme, dass dieses Mal vor allem die Tourismusbranche stark leide - damals war das Zentrum des Landes vom Krieg überhaupt nicht betroffen gewesen. Damit ist auch die Arbeitslosigkeit gestiegen, was die Kosten indirekt weiter erhöhe.

Nach israelischer Lesart ist nach Kriegsende mit sehr großen Geldsummen zu rechnen, die aus dem Ausland in den Gazastreifen fließen werden. Durch eine Öffnung, so sieht man es jedenfalls hier, bestünde die Gefahr, dass diese Geldschwemme den israelischen Schekel unter Druck setzt und damit die wirtschaftliche Lage weiter verschlechtert. Die israelische Währung ist weiterhin auch Zahlungsmittel im Gazastreifen.

Aber: Durch die andauernde Blockade herrscht im Gazastreifen eine große Knappheit an Bargeld. Niemand weiß genau, wie groß die Bargeldmenge ist, die sich dort im Umlauf befindet; Israels Zentralbank kalkuliert die Bargeldmengen auch bereits seit Jahren ohne den Gazastreifen, weshalb die Bargeldmenge im Schekelraum gemessen an der Einwohnerzahl ohnehin zu gering ist.

Und die Einführung einer eigenen Währung scheitert schon in der Vorstellung. Wenn man nur im Gazastreifen eigenes Geld einführen würde, würde dies bedeuten, dass zumindest geldtechnisch eine Drei-Staaten-Lösung entstehen würde, was für die palästinensische Führung in Ramallah inakzeptabel ist. Die Einführung einer eigenen Währung in Gesamt-Palästina ist hingegen für Israel tabu, weil dies ein weiterer Schritt zur palästinensischen Eigenstaatlichkeit wäre. Und über alledem müssten die Palästinenser dann darauf hoffen, dass ihre eigene Wirtschaft eine solche Währung aushält.

Alternativ steht auch die Befürchtung im Raum, dass Gelder für den Wiederaufbau von der Hamas oder Gruppierungen wie dem Islamischen Dschihad für die Wiederbewaffnung verwendet werden oder aber die Herrschaft der Hamas dadurch mindestens wieder gefestigt wird. Israels Premier hätte es aber am liebsten, wenn Präsident Mahmud Abbas und seine Autonomiebehörde/Regierung des Staates Palästina dort wieder auch in der Realität die Macht übernehmen würden. Wie weggeblasen ist die Zeit, als man keine Schlacht um Gaza, sondern gegen die UN-Bemühungen von Abbas und seiner Regierung führte: "Abbas ist Netanjahus wieder gefundende Liebe", schlußfolgerte vor einigen Tagen ein Kommentator der Zeitung Jedioth Ahronoth.