Die Ukraine: Objekt der Begehrlichkeit

Eine unendliche Geschichte ausländischer Interventionen

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Ein Ende der blutigen Konflikte in der Ukraine ist nicht abzusehen, Anzeichen für eine politische und wirtschaftliche Sanierung des Landes sind nicht zu erkennen. Die Meinungsführer in den deutschen Medien klagen den russischen Präsidenten als den Alleinschuldigen an. Soweit überhaupt nach historischen Hintergründen der gegenwärtigen Schrecklichkeiten gefragt wird, kommt russischer Imperialismus in den Blick, vom Zarenreich bis zu Stalins mörderischer Politik gegen die Kulaken. Diese Sicht auf osteuropäische Geschichte ist selektiv, sie verdeckt: Schon seit den Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg war die Ukraine ein Objekt der Begehrlichkeit auch für staatliche Machtinteressen, die nicht in Russland beheimatet waren.

"Die reichen Felder der Ukraine locken" - schrieb Joseph Goebbels am 16.6. 1941 in sein Tagebuch. Gemeint war damit nicht nur die Aneignung agrarischer Flächen, sondern auch der Zugriff auf industrielle Ressourcen in dem zu unterwerfenden Terrain. Zudem wollte Hitlerdeutschland seine Verfügung über die Ukraine geostrategisch nutzen, als Durchgang zur Kaukasusregion und zum zentralasiatischen Raum. Die Krim sollte zur "germanischen Siedlung" werden, als deutsche Militärstation das Schwarze Meer beherrschen. Und die Besetzung der Ukraine galt als der entscheidende Schlag zur "Dekomposition" des "Russischen Reiches". Dieses sollte - nicht nur in seiner kommunistischen Form - aus dem Rang der Großmächte ein für allemal verdrängt werden, durch "völkische" Zergliederung, die Vernichtung von Massen "rassisch minderwertiger Untermenschen" einbegriffen.

Imperialistische Ukrainepolitik im kaiserlichen Deutschland

In ihrem geopolitischen Grundmuster war die deutsche Ukrainepolitik keine Erfindung des NS-Regimes. Sie hatte ihre Geschichte schon im Wilhelminischen Deutschland, damals freilich noch nicht in jener extremen weltanschaulichen Ausformung und mörderischen Praxis, wie sie sich im "Dritten Reich" durchsetzte.

Das von Bomben zerstörte im Kiew im 2. Weltkrieg. Bild: Public Domain

Als im August 1914 das Deutsche Reich dem Russland den Krieg erklärte, stellte die staatliche Propaganda dies als unschuldigen, durch russische Aggressivität erzwungenen Akt der Landesverteidigung heraus. Hinweggetäuscht wurde damit über längst bei den deutschen Eliten verbreitete, expansive ostpolitische Ambitionen. In diesen hatten Pläne für die Ukraine eine Schlüsselfunktion.1

"Wer Kiew hat, kann Rußland zwingen" - so ein Leitspruch von Paul Rohrbach (1869 - 1956), eines vor und während des Ersten Weltkrieges hochgeachteten deutschen Publizisten mit dem Thema Geopolitik. Rohrbach, ausgebildeter protestantischer Theologe und Nationalliberaler, warb für den deutschen "Platz an der Sonne" als "ethischer Imperialist" (so Walter Mogk, der 1972 eine der wenigen Studien über ihn verfasst hat).

Der weitgereiste und kenntnisreiche Rohrbach hatte praktische Erfahrungen in der Kolonialverwaltung, und von 1914 bis 1918 war er für das Auswärtige Amt tätig. Sein stärkstes Interesse galt der Ukraine. Ohne deren Terrain, so sein Kalkül, sei Russland ohnmächtig, nicht mehr ausgestattet "mit Eisen, Kohle, Korn, Häfen" - reif für eine "Zertrümmerung". Eben deshalb müsse Deutschland eine "ukrainische Bewegung" in Gang setzen.

Das leuchtete auch dem Reichskanzler von Bethmann Hollweg ein. Schon Mitte August 1914 machte er sich Gedanken über "Insurging der Ukraine", als "Kampfmittel gegen Russland". Und der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger verlangte im September 1914, dass Russland "auch vom Schwarzen Meer abgeschlossen" werde, im Wege einer "Befreiung der nichtrussischen Völker vom Joch des Moskowitertums". In Berlin war man seitdem darauf aus, ukrainisch-nationalistische Geheimbünde zu fördern und unter Kontrolle zu bringen - eine dann langfristig beliebte Methode deutscher Ostpolitik.

Erzberger übrigens gab im Verlauf des Krieges seine Hoffnung auf einen deutschen "Siegfrieden" auf und setzte sich für ein Ende der Kampfhandlungen "ohne Annexionen" ein; die militärischen Führer Deutschland schoben ihm 1918 die undankbare Rolle zu, das Waffenstillstandsabkommen zu unterzeichnen. So konnte er später als der "Erfüllungspolitiker" geschmäht werden. 1921 ermordeten ihn deutschnationalistische Terroristen. Zwischendurch schien es für kurze Zeit, als würden deutsche Ukraineträume in Erfüllung gehen.

Der revolutionäre Umbruch im Zarenreich machte 1917 dessen militärischen Fähigkeiten ein Ende. Das Deutsche Reich wirkte auf einen eigenständigen ukrainischen Staat hin und versuchte, dessen politische Leitung unter deutsche Regie zu bringen. Dabei waren noch die Interessen Österreich-Ungarns zu beachten, aber Berlin gab den Ton an. "Großdeutsches" Militär besetzte das südwestliche Terrain des bisherigen Russischen Reiches bis hin zur Krim. Diese Eroberung war nach dem Zusammenbruch der Mittelmächte im Herbst 1918 nicht mehr zu halten, das deutsche und österreichische Militär musste abrücken, der als "Hetman" der Ukraine eingesetzte zaristische Offizier und Agrarmagnat Pawel Skoropadski nach Berlin ausgesiedelt werden.

Der neue polnische Staat okkupierte einen Teil Galiziens, im anderen Teil des ukrainischen Territoriums herrschte für einige Jahre ein Bürgerkrieg mit verwirrenden und wechselnden Fronten, zwischen "Roten" und "Weißen", Russlandanhängern und ukrainischen Nationalisten, Machno-Anarchisten und Protofaschisten. Am Ende stand die Eingliederung der Ukraine, ohne das vom polnischen Staat angeeignete Gebiet, in das Sowjetsystem, formal eigenständig ab 1922 als ukrainische Republik in der Föderation UdSSR. Die Krim war bis 1954 nicht Teil der Ukraine.

Deutsche Ukrainepolitik nach 1918 und im "Dritten Reich"

In der Zeit der Weimarer Republik lebten deutsche geopolitische Interessen an der Ukraine weiter, teils in der Politikszene und Publizistik präsent, teils in nachrichtendienstlicher Verborgenheit. Paul Rohrbach mit seinen Ideen fand weiter Gehör, Berliner politische Akteure leisteten Hilfe für die Sammlung ukrainischer Autonomisten im Exil, die rechtsgerichtete, antibolschewistische, dem Antisemitismus zuneigende "Organisation Ukrainischer Nationalisten" (OUN) wurde 1929 gegründet, die sich später auch terroristischer Mittel bediente. Mit Unterstützung der Reichswehr erhielten ukrainische Emigranten Ausbildung an Waffen. Allerdings richtete sich deutsche Förderung des ukrainischen Nationalismus nun auch auf dessen erhoffte Sprengwirkung im polnischen Staat.

Das "Dritte Reich" bot eine neue Machtbasis für die Absichten, das ukrainische Terrain (sowie die Krim) unter deutsche Herrschaft zu bringen, ökonomisch auszubeuten und damit zugleich einen entscheidenden Schritt für die "Dekomposition" russischer, nunmehr sowjetischer Staatlichkeit zu tun. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt von 1939 war nur ein taktisches, von vornherein befristetes Zwischenspiel. Mit dem Angriff von 1941 sollte auch der ukrainische Nationalismus wieder in deutsche Dienste genommen werden.

Banderas OUN und NS-Regierungsangehörige bei einer gemeinsamen Feier zur Gründung des eigenständigen ukrainischen Staates am 7. Juli 1941 (West-Ukraine). Bild: OUN Propaganda

Stepan Bandera als Chef der OUN proklamierte eine "unabhängige Ukraine in enger Zusammenarbeit mit dem nationalsozialistischen Deutschland unter der Führung Adolf Hitlers", ukrainisch-nationalistische Einheiten beteiligten sich an den Gewalttaten beim Einmarsch der deutschen Truppen und unter der Besatzung, vor allem jüdische Ukrainer kamen ins Schussfeld. Aber in dieser Kollaboration steckte eine Problem: Das NS-Regime dachte nicht daran, den ukrainischen Nationalisten so viel Selbstverwaltung zuzugestehen, wie diese es wünschten, und die deutsche Besatzungspolitik wirkte abschreckend, sie gefährdete die Akzeptanz der OUN unter der ukrainischen Bevölkerung. Die NS-Führung zog Stepan Bandera aus dem Verkehr und steckte ihn bis 1944 in "Schutzhaft".

Viele antisowjetische und antirussische Ukrainer wurden auch weiterhin von der Wehrmacht und der Waffen-SS für Hilfsdienste eingesetzt, aber andere organisierten sich im Untergrund und führten Partisanenkämpfe gleichermaßen gegen "Bolschewiken" wie gegen "deutsche Unterdrücker". Nach dem Rückzug der deutschen Truppen aus dem sowjetischen Staatsgebiet und nach dem Untergang des "Dritten Reiches" blieb für einige Jahre der militante ukrainische Untergrund ein erhebliches Problem für die sowjetische Politik. Rückhalt bei Teilen der Bevölkerung hatte er auch durch die Deportationen, die nun von den sowjetischen Staatsorganen in der Ukraine massenhaft und brutal vorgenommen wurden.

Nach 1945: Die Ukraine als Operationsfeld US-amerikanischer Politik

Der prominente US-amerikanische Publizist James Burnham, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein Verfechter des Konzepts einer Politik, die der Welt die "Befreiung vom Sowjetismus" bringen sollte, wies 1949 hoffnungsfroh auf die Existenz "einer untergründigen aufständischen Armee von Ukrainern" hin; sie schien ihm ein Beleg dafür, dass die UdSSR bald zu ruinieren sei.2

Die CIA unterstützte den ukrainischen antisowjetischen Untergrund, auch die damit liierten Exilgruppen im Westen. Bei solchen Operationen griffen die USA auf Personal zurück, das Hitlerdeutschland hinterlassen hatte.3 Die Kriegskoalition zwischen den Westmächten und der UdSSR gegen das "Dritte Reich" war ein Zweckbündnis auf Zeit. Schon in den 1920er bis 1940er Jahren hatten französische und britische Politiker und Militärs Überlegungen angestellt, wie das "Reich des neuen Zaren" zerschlagen werden könnte, notfalls auch mit Waffengewalt, vielleicht in Stellvertreterkriegen. Nach 1945 übernahmen Vordenker der US-amerikanischen Politik diese Planungsarbeit, zum Konzept für den "verdeckten Krieg" gehörten geheimdienstliche Operationen, Förderung von Aufständen und der Import von "Revolutionen". Ein zentraler Bestandteil solcher Pläne war wiederum die "Zerlegung" des sowjetrussischen Staatsverbandes durch nationale Verselbständigung seiner Randgebiete.4

In die Logik dieser Politik fügte sich das Interesse an einer Steuerung der inneren Vorgänge speziell in der Ukraine ein. Für diejenigen oppositionellen Gruppen und Bewegungen in der Machtsphäre der UdSSR, die dem Weg zur "nationalen Identität" oberste Priorität gaben, lag es nahe, das Bündnis mit kalten Kriegern im Westen zu suchen - eine Verbindung, die aber "gleiche Augenhöhe" nicht bedeuten konnte und zumeist dahin führte, dass ein Streben nach nationaler Unabhängigkeit sich verwandelte in neue Abhängigkeit von externen Mächten. Hinzu kam häufig eine zerstörerische Fixierung der "nationalen Rebellen" auf Mittel der Gewalt.

Ein Beispiel: Jaroslaw Stetzko, nach der Ermordung Banderas Führer der OUN und Präsident des Emigrantenverbandes "Antibolschewistischer Block der Nationen" (mit dem Sitz in München ), proklamierte den bewaffneten "Befreiungskampf jenseits des Eisernen Vorhanges", den der Westen "politisch und technisch unterstützen" müsse, ohne sich "auf irgendwelche Verhandlungen mit den bolschewistischen Tyrannen einzulassen". Die führenden Kommunisten in westlichen Ländern" seien "vor Gericht zu stellen und zum Tode zu verurteilen".5 In dieser Ideenwelt war die Hinwendung zu faschistischen Vorstellungen angelegt.

Und heute?

Die weltpolitischen Konstellationen im Jahre 2014 sind nicht gleichzusetzen mit denen in der Epoche des Ersten Weltkrieges, auch nicht mit denen nach dem Ende des Zweiten. Unverändert aber ist die Neigung der Machtstaaten, ihre Interessen auch mit gewalttätigen Methoden durchzusetzen und dabei oppositionelle Akteure in anderen Ländern als Gewalthelfer zu benutzen, "Revolutionen" zu importieren, auf diese Weise verdeckte Kriege zu führen. Für die Mehrheit der Menschen in den derart behandelten Ländern hat das zerstörerische Folgen, und "nationale Unabhängigkeit" kommt so nicht zustande.

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