Wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst

63-wall-street. Foto: Americasroof; Lizenz: CC BY 3.0

Wie Deutschlands Medien und Ökonomen mit der Tatsache der säkularen Stagnation des spätkapitalistischen Weltsystems umgehen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der Glaube an ein ewig fortdauerndes Wirtschaftswachstum gehört zu den wichtigsten Dogmen des kapitalistischen Glaubensbekenntnisses (Das Schisma von 2013). Generationen von Wirtschaftswissenschaftlern und Publizisten haben ihrem Publikum eingetrichtert, dass der Kapitalismus all seine ungeheuren Widersprüche, all das massenhaft produzierte Elend durch die beständige Expansion der Wirtschaft überwinden werde.

Aus all dem werde man einfach "herauswachsen". Das Wirtschaftswachstum bildete die materielle Grundlage des fernen Glücksversprechens des Kapitalismus: Eines idealen Gesellschaftszustandes, der "das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl von Menschen" (Jeremy Bentham) herbeiführen würde.

Und dennoch sehen sich derzeit Ökonomie und Publizistik mit der Notwendigkeit konfrontiert, die Öffentlichkeit mit der Tatsache eines langfristigen Erlahmens der Wachstumsdynamik, einer dauerhaften konjunkturellen Stagnation auf globaler Ebene, zu versöhnen. Trotz historischer Tiefststände bei den Zinsen, deren Niveau so niedrig sei, wie es "seit Jahrhunderten" nicht mehr der Fall gewesen wäre, "lahmt das Wachstum in vielen westlichen Ländern", klagte Henrik Müller, seines Zeichens Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Universität Dortmund, in einem Beitrag für Spiegel-Online.

Auch Deutschland müsse sich "auf Jahrzehnte mit Mini-Wachstum gefasst machen," sekundierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

"Eine Ökonomie, die Blasen benötigt"

Die Einsicht in die evidenten Tendenzen zur Stagnation innerhalb des spätkapitalistischen Weltsystems ist nun beileibe nicht neu oder originell. Zumeist kaut die deutsche Publizistik mit mehrmonatiger Verspätung nur das wieder, was im angelsächsischen Raum längst in aller Munde war.

Ausgelöst wurde die Diskussion im vergangenen Februar durch einen Vortrag des ehemaligen US-Finanzministers Larry Summers, der eine lang anhaltende Periode der Stagnation (Secular Stagnation) im gegenwärtigen kapitalistischen Weltsystem konstatierte, die durch stockendes Wachstum, ein schwaches Beschäftigungsniveau und ein "problematisch niedriges Zinsniveau" geprägt sei (siehe hierzu: Aufwachen im Blasenland).

Einige der an der angelsächsischen "Stagnationsdebatte" beteiligten Akteure konnten tatsächlich eine Ahnung der tieferen Ursachen der kapitalistischen Systemkrise gewinnen. Der Ökonomie-Nobelpreisträger Paul Krugman erkannte immerhin, dass die kapitalistische Weltwirtschaft schon längst am Tropf der Finanzmärkte hängt und immer neue Finanzmarktblasen samt der dadurch generierten Verschuldung benötigt, um zumindest in deren Zentren "nahezu Vollbeschäftigung zu erzeugen".

Handelt es sich bei der derzeitigen Weltwirtschaft um "eine Ökonomie, die Blasen benötigt", fragte Krugman auf seinem Blog. Näher dran an der Tatsache, dass der Kapitalismus aufgrund eskalierender innerer Widersprüche nur noch auf Pump laufen kann, ist bislang kaum ein anderer bekannter Ökonom gekommen.

Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. ... Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.

Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort, 1859, MEW 13, S. 9

"Deutschland schrumpft, Demographie bremst Wachstum"

Von solchen Einsichten ist die deutsche Debatte über die Grenzen des kapitalistischen Wachstums noch weit entfernt. Die FAZ verweist in ihrem Text unter Bezugnahme auf Studien der Commerzbank und der OECD auf die demografische Entwicklung in Deutschland - hier wirken wohl noch die Ideen des jüngst verstorbenen FAZ-Mitherausgebers Fank Schirrmacher nach, der in seinem Bestseller "Das Methusalem-Komplott" die Folgen der "Vergreisung" der deutschen Gesellschaft thematisierte. Die FAZ wirft hier munter die Tendenzen in der Bundesrepublik mit denen in der OECD zusammen:

"Deutschland schrumpft, Demographie bremst Wachstum", überschreiben die Volkswirte der Commerzbank ihre Langfristprognose. Mit dem sich abzeichnenden deutlichen Rückgang der arbeitenden Bevölkerung sei ein niedrigeres Wirtschaftswachstum programmiert. Nur wenige Tage zuvor hatte die Industriestaatenorganisation OECD gewarnt: "Das globale Wachstum wird in den kommenden Jahrzehnten sinken." Besonders betroffen sind Industrieländer wie Deutschland. Beide Langfristprognosen - die naturgemäß mit großen Unsicherheiten behaftet sind - attestieren Deutschland in den kommenden Jahrzehnten ein Mini-Wachstum um durchschnittlich weniger als 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahr.

Dass diese Diagnose (kein Bevölkerungswachstum = kein Wirtschaftswachstum) offensichtlich falsch ist, wird allein an dem Umstand ersichtlich, dass in der OECD kein dermaßen ausgeprägter demografischer Schrumpfungsprozess stattfindet wie in der Bundesrepublik, die überdies in den letzten Jahren aufgrund zunehmender Einwanderung ein Bevölkerungsplus verzeichnete. Die OECD geht davon aus, dass im OECD-Raum die Bevölkerung bis 2040 sogar leicht wachsen werde.

Hier werden in altbekannter Manier die deutschen Zustände einfach auf die globale Entwicklung projiziert. Vollends absurd wird dieses Argument, wenn berücksichtigt wird, dass die OECD-Warnungen vor einem Absinken des globalen Wachstums in den kommenden Dekaden gerade mit einem - wenn auch verlangsamten - Anstieg der Weltbevölkerung einhergehen sollen.

Wenn es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Wirtschaftswachstum geben sollte, dann müsste ja die Weltwirtschaft in einem ewigen Boom verfangen sein, wobei gerade die Länder mit dem stärksten Bevölkerungswachstum die beste Konjunkturentwicklung der vergangenen Jahrzehnte aufweisen müssten - das wären die Staaten des subsaharischen Afrika. Auch China bildet hier keine Ausnahme: Chinas kometenhafter Aufstieg zur Werkstatt der Welt ging ja mit der "Ein-Kind-Politik" einher, die von der chinesischen Führung durchgesetzt wurde.

Wie widerspruchsvoll der herrschende Krisendiskurs inzwischen ist, wird allein daran ersichtlich, dass bei anderer Gelegenheit die Welt als "überbevölkert" begriffen wird. Wenn es um die Rationalisierung der ökologischen Verehrung der kapitalistischen Produktionsweise geht, dann wird gerne auf die Thesen des britischen Pfarrers Thomas Robert Malthus zurückgegriffen, der schon im 18. Jahrhundert eine "Bevölkerungsexplosion" als Ursache allen Elends ausgemacht hat.

Wenn es also um die massenmediale Diskussion der ökologischen Krise des Kapitals geht (Die äußere Schranke des Kapitals), dann scheinen zu viele Menschen den Planeten Erde zu bevölkern, wenn die ökonomische Krise diskutiert wird, dann kann es anscheinend nicht genug Menschen geben. Diese Absurditäten markieren die finale Phase der ideologischen Verdinglichung gesellschaftlicher Widersprüche oder Prozesse in dem massenmedialen Diskurs, bei dem nur noch isolierte "Sachverhalte" betrachtet werden.

"Die Gesellschaften des Westens sind zu alt und haben keine Ideen mehr"

Während die FAZ das Ende der "fetten Jahre" hauptsächlich in der "demographischen Entwicklung" verortet, scheinen SPON-Autor Henrik Müller bei der Ursachensuche schlicht die Ideen ausgegangen zu sein. Das erlahmende Wachstum in vielen westlichen Ländern könnte womöglich damit zusammenhängen, "dass uns die Ideen ausgehen", spekulierte Müller:

Die innere Antriebsschwäche der Wirtschaft hat offenkundig tiefer liegende Gründe. Werden die Gesellschaften des Westens schlichtweg zu alt, um noch dynamisch wachsen zu können? Gibt es keine schöpferischen Unternehmer mehr? Fällt niemandem mehr etwas Sinnvolles ein, das den Fortschritt vorantreibt? Das mag alles sein. Schwerer aber wiegt, dass die Schulden der Unternehmen immer noch zu hoch und die Finanzierungsspielräume eng sind.

In dieser Projektionsleistung werden nicht mehr - wie bei der FAZ - die deutschen Zustände (demografische Entwicklung) auf die Weltwirtschaft projiziert, sondern die eigene Ideenlosigkeit zum Charaktermerkmal der spätkapitalistischen Ökonomie erklärt. Der Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Universität Dortmund - der noch vor wenigen Wochen davon sprach, dass die Lage der Weltwirtschaft womöglich besser sei, als wir glauben - sieht in den "Schuldenexzessen" der Vergangenheit die Ursache für die Wachstumsschwäche der Gegenwart.

Damit wiederholt Müller zum gefühlt millionsten Mal das tautologische Standardargument deutscher Neoliberaler: Die Schulden sind schuld an der Schuldenkrise. Selbst die Einsicht, dass es "tiefer liegende Gründe" für die "Antriebsschwäche der Wirtschaft" geben müsse, fördert nur die einschlägig bekannten Floskeln zutage. Nicht mal eine Ahnung dessen, dass die "Schuldenexzesse" der Vergangenheit maßgeblich die Konjunktur der Vergangenheit gestützt haben (wie von Krugman und Summer richtig erkannt), streift des Professoren hermetisch abgeschlossene Weltanschauung.

Angesichts der ungeheuten Umwälzungen, die mit der Dritten Industriellen Revolution der Mikroelektronik und Informationstechnik einhergehen, nimmt sich Müllers Spekulation über die "Ideenlosigkeit" der kapitalistischen Produktionsweise eigentümlich deplatziert aus. Wenn man dem Kapitalismus etwas nicht vorwerfen kann, dann ist es der Mangel an Innovation. Um den Krisenursachen auf die Spur zu kommen, müssen wir Henrik Müller folglich vom Kopf auf die Füße stellen.

Immer neue Ideen für eine immer effizientere Warenproduktion

Das aussagenlogische Gegenteil dessen, worüber Müller spekuliert, bildet den Kern der Systemkrise des Spätkapitalismus - samt der Wachstumsschwäche, die nur ein Symptom ist. Gerade weil "schöpferischen Unternehmern" und Investoren immer wieder was Neues "einfällt", stößt das kapitalistische System an die "innere Schranke" (Robert Kurz) seiner Entwicklungsfähigkeit. Alle ökonomischen Akteure tun genau das, was das System von ihnen verlangt - und genau deswegen befindet es sich in der Krise.

Es ist gerade die Fähigkeit der einzelnen Marktteilnehmer, mit immer neuen "Ideen" die Warenproduktion immer effizienter zu gestalten und die Potenzen der Produktionsmittel zu steigern, die dem System auf gesamtgesellschaftlicher Ebene - auf der Ebene der Produktionsverhältnisse - das Genick bricht (Die Krise kurz erklärt).

Schon seit dem Beginn der Industrialisierung im 18. Jahrhundert sind Unternehmer bemüht, durch Innovationen ihre Produktivität zu steigern und so Vorteile - höhere Profite - bei der Marktkonkurrenz zu erzielen. Die Tendenz zu konkurrenzvermittelter Steigerung der Produktivität in etablierten Industriezweigen führt dazu, dass deren Beschäftigungsniveau mit der Zeit immer weiter absinkt. Der zentrale Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise besteht somit darin, dass das Kapital tendenziell danach strebt, die Lohnarbeit aus der Warenproduktion zu verdrängen, obwohl die Lohnarbeit die Substanz des Kapitals darstellt.