"Rettet unsere Männer!"

Protestkundgebungen gegen die Einberufung von Wehrpflichtigen in der Zentral- und Westukraine gehen weiter

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Die ukrainische Regierung hat einen neuen Gegner. Es sind die Frauen und Mütter von ukrainischen Soldaten und Wehrpflichtigen. Die neue Protestbewegung der Frauen lässt sich nicht einfach mundtot machen. Mit ihren Forderungen für Frieden und minimalen sozialen Schutz der Soldaten widersetzen sich die Frauen zwar den Erfordernissen der Kriegsmaschinerie, gegen Gesetze verstoßen sie jedoch nicht.

Am Dienstag protestierten Frauen in Kiew gegen den Krieg.

Die vom ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko am 23. Juli verfügte dritte Mobilmachung hat der Protestbewegung von Frauen gegen die Einberufung und gegen den Krieg in der Ost-Ukraine überhaupt neuen Auftrieb gegeben. Seit Juni gab es in der Zentral- und Westukraine zahlreiche Blockaden von Straßen und Brücken sowie Kundgebungen vor Regierungsgebäuden oder humanitären Organisationen.

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hatte am 23. Juli ein Gesetz über eine Teilmobilmachung unterzeichnet. Diese Mobilmachung betrifft 20.000 Personen, die in die ostukrainischen Kampfgebiete geschickt werden können. Eine vollständige Mobilisierung - davon wären 20 Millionen Ukrainer betroffen - ist bisher nicht vorgesehen.

Forderung nach Hilfskorridor für eingekesselte ukrainische Soldaten

Proteste der Frauen gab es in den letzten Wochen im gesamten Gebiet der Zentral- und Westukraine. Im südukrainischen Melitopol protestierten bereits Ende Juni aufgebrachte Frauen gegen die Einberufung vor einer Militärbehörde und kletterten auf Armeefahrzeuge.

Im südukrainischen Nikolajew blockierten am 26. Juli Frauen und Mütter von Soldaten acht Stunden lang eine Brücke. Die Frauen, deren Männer in der ukrainischen 79. Fallschirmjäger-Brigade dienen, forderten die Bildung eines "Korridors", über den ihre von den Aufständischen eingekesselten Männer mit Munition und Nahrungsmitteln versorgt werden.

Aufgabe der Soldaten der 79. Brigade war es im Gebiet Lugansk, einen Keil zwischen den Aufständischen und der russischen Grenze zu treiben, was jedoch misslang. Die ukrainischen Soldaten wurden von den Aufständischen eingekesselt, ein Großteil ihrer Fahrzeuge wurde zerstört (Video vom 24. Juli). Den Soldaten gingen außerdem Munition, Treibstoff und Nahrung aus.

Ebenfalls im Lugansker Kessel waren nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur Ria Novosti ukrainische Soldaten der 24. Fallschirmjägerbrigade, der 72. mechanisierten Brigade sowie Bataillone der Nationalgarde "Asow" und "Schachtjorsk".

Wie bekannt wurde, brachen in der Nacht auf Montag 438 Soldaten der 72. Brigade zusammen mit ukrainischen Grenzschützern aus dem Kessel aus und desertierten nach Russland. Zuerst sei ihnen noch Lebensmittel aus Flugzeugen abgeworfen worden, doch dann sei keine Unterstützung mehr gekommen, berichteten nach Russland desertierte ehemalige eingekesselte Soldaten der 72. Brigade. Man fühlte sich "alleine gelassen", berichteten mehrere Desertierte. Die meisten der Soldaten konnten mittlerweile wieder zurück in die Ukraine reisen.

Protestherd Transkarpatien

Besonders stark ist die Protestwelle gegen den Krieg im Gebiet Transkarpatien, dem südwestlichen Zipfel der Ukraine. Das Gebiet grenzt an Rumänien, Ungarn und die Slowakei. In Transkarpatien wohnt ein buntes Völkergemisch, darunter 12 Prozent Ungarn und 2,6 Prozent Rumänen.

In der transkarpatischen Stadt Mukatschowo gab es am 29. Juli einen lautstarken Frauen-Protest gegen die Einberufung von Soldaten. Zwei Tage zuvor waren bereits alle Straßen aus dem Gebiet Tschernovtsi nach Rumänien blockiert worden, berichtet das ukrainische Internetportal ua-reporter. Die Protestierenden stellten Betonblöcke auf die Straßen und ließen nur Erste-Hilfe-Wagen durch. Die Protestierenden fragten, warum man einfache Bauern zum Kriegsdienst einziehe und nicht professionelle Militärs.

"Sollen doch die an die Front, die den Maidan gemacht haben. Wir wollten den Maidan nicht", rief eine Frau, die sich am 27. Juli an einer Straßenblockade im Dorf Priprutje - der Ort liegt nahe der Grenze zu Rumänien - beteiligte. Ein Vertreter der ukrainischen Streitkräfte versuchte die Frauen zu beruhigen, was jedoch misslang. Die Protestierenden warfen die hellblauen Einberufungsbescheide ihrer Söhne mitten auf die Fernstraße und zündeten sie unter Gelächter an.

In einigen Medien Transkarpatiens wird spekuliert, dass die Proteste im äußersten Westen der Ukraine von Russland gesteuert seien. Die örtliche Internetportal Mukachevo.net schreibt, es gäbe in der Region separatistische Stimmungen, die von russischer Seite gefördert werden. "Russischen Agenten" würden absichtlich Gerüchte über hohe Zahlen von in der Ost-Ukraine gefallenen ukrainischen Soldaten verbreiten.

Demonstrantinnen in Kiew werden vom Rechten Sektor bedroht

Viele Kundgebungen von Soldaten-Müttern und Anti-Kriegs-Aktivistinnen finden in Kiew statt. Das ist nicht immer ohne Risiko. Als am Dienstag Frauen aus Charkow vor dem Parlament in Kiew gegen den Krieg demonstrierten, kamen sofort Aktivisten des Rechten Sektors. Sie riefen "Ruhm der Ukraine - Tod den Feinden!". Den protestierenden Frauen wurde ein Plakat entrissen. Ein Fotoapparat wurde zerstört. Ob ihre Männer überhaupt an der Front kämpften, wurden die Frauen gefragt.

Bereits am 16. Juli demonstrierten in Kiew vor der Präsidialverwaltung hunderte Mütter und Frauen, deren Männer bei den Kämpfen in der Ost-Ukraine eingekesselt wurden. Sie hielten Plakate wie "Gebt uns unsere Söhne zurück!" und "Abgeordnete nach vorne!" Mit fordernden Rufen "Präsident, Präsident" wollten sie durchsetzen, dass das Staatsoberhaupt mit ihnen spricht.

Was fordern die Frauen, die in der Zentral- und Westukraine Straßenblockaden und Kundgebungen durchführen? Das Spektrum der Forderungen ist weitgefächert:

  • Die Soldaten sollen, wie eigentlich vorgesehen, alle 45 Tage ausgewechselt werden. Viele sind aber schon seit vier Monaten ununterbrochen im Einsatz.
  • Die Soldaten sollen besser ausgerüstet und versorgt werden. Viele haben keine modernen schusssicheren Westen. Die Lebensmittelversorgung funktioniert schlecht.
  • In Schnellkursen ausgebildete junge Soldaten dürften nicht in den Krieg geschickt werden. In den Krieg sollen nur gut ausgebildete Berufssoldaten.
  • Teilweise werden auch Forderungen laut, die Abgeordneten der Werchowna Rada, dem Parlament, sollten ihre Söhne in den Krieg schicken.
  • "Verräter" und korrupte Beamte in den militärischen Strukturen der Ukraine müssten entlassen werden. Diese Leute seien für Katastrophen, wie den Abschuss einer ukrainischen Transportmaschine am 14. Juni bei Lugansk (49 tote Soldaten), durch die Aufständischen verantwortlich.
  • Es gibt jedoch auch generelle Forderungen gegen den Krieg und für Friedensverhandlungen. In Kiew erklärten Frauen bei einer Kundgebung vor dem Büro des Roten Kreuzes, in der Ost-Ukraine gäbe es keinen Krieg der Ukrainer, sondern einen "Krieg der Oligarchen".

Langsam begreifen die Menschen, welches Risiko Soldaten eingehen und wie wenig sie vom Staat geschützt werden. Ein Mann in Odessa - er wollte seinen Namen nicht in einer Zeitung sehen - schilderte dem Autor dieser Zeilen einen dramatischen Fall. Ein Freund sei mit einem zerschossenen Kiefer von der "Antiterroroperation" zurückgekommen und sei nun ohne soziale Unterstützung. Die Behörden hätten ihm gesagt, er habe sich freiwillig gemeldet und damit keine Ansprüche auf vollständige medizinische Versorgung.

Wehrpflichtige flüchten zur Großmutter

Manche jungen Männer im wehrpflichtigen Alter versuchen die Einberufung zu umgehen, indem sie eine Zeitlang zu Verwandten in eine andere Stadt ziehen. "Ich habe einen Einberufungsbescheid im Briefkasten gefunden und mich nicht gemeldet", erzählte ein Student in Odessa dem Autor dieser Zeilen. Gefährlich werde es erst, wenn ihm der nächste Einberufungsbescheid persönlich übergeben wird, erzählte der junge Mann. Damit das nicht passiert, überlegt der Student eine Zeitlang in eine andere Stadt zu Verwandten zu ziehen.

Eine weitere Möglichkeit, sich der Einberufung zu entziehen, ist das Vortäuschen von Untauglichkeit, wie etwa eine gerade erst erlittene Gehirnerschütterung. Der Mindestpreis für diese "Diagnose" durch einen Arzt liegt zurzeit bei umgerechnet 600 Euro.

Die Antikriegs-Bewegung in der Ukraine ist zwar noch schwach, für die Regierung jedoch äußerst lästig. Denn sie stört das von den Medien verbreitete Bild der einigen Nation, die mit Raketen und Granaten einen Überlebenskampf gegen einen äußeren Feind führt. Die vor allem von Frauen getragene Bewegung verstärkt auch das Misstrauen über die Informationspolitik der Regierung und der Medien, die keine toten Soldaten zeigen und zerstörte Gebäude in der Ost-Ukraine allein den "Terroristen" (gemeint sind die Aufständischen) zuschreiben.

Ukrainischer Geheimdienst will Websites abschalten

Ein wichtiges Instrument der Antikriegs-Bewegung ist das Internet, wo täglich neue Videos von Demonstrationen und Straßenblockaden gepostet werden. Der ukrainische Geheimdienst SBU kündigte in einem Schreiben an , man werde Websites schließen, welche die territoriale Integrität der Ukraine gefährden.

Der Berater des ukrainischen Innenministers, Anton Geraschenko, sagte in einer Fernsehsendung zudem, man werde "sehr genau beobachten", wer in den sozialen Netzwerken zu Protestaktionen gegen die Mobilisierung von Soldaten aufruft. "Ich denke, mit der Zeit werden wir die Leute, welche sie (die Aufrufe, U.H.) auf dem Territorium der Ukraine verbreiten, festnehmen."

Kiew bis Oktober ohne Warmwasser

Während sich die Menschen im ostukrainischen Lugansk ihr Teewasser auf einem Lagerfeuer vor ihrem zerschossenen Plattenbau bereiten müssen, geht es in Kiew noch vergleichsweise glimpflich ab. Der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, gab bekannt, dass die Stadtverwaltung die Warmwasserversorgung - ein seit Sowjetzeiten arbeitendes zentralisiertes System - bis zum Oktober abgestellt hat. Die Maßnahme wird damit begründet, dass Gas und Öl für den Winter gespart werden muss. Wer sich jetzt mit Warmwasser waschen will, muss es also auf dem Herd warm machen oder sich einen Elektroboiler kaufen, was sich aber nur wenige leisten können.

Dass es in der Ukraine keine großen Proteste gegen den Krieg gibt, hat vor allem mit der einseitigen Medienberichterstattung zu tun. Das Fernsehen vermeidet das Zeigen von gefallenen Soldaten. Zerstörte Mehrfamilienhäuser in der Ost-Ukraine werden zwar gezeigt, die Zerstörungen werden aber "den Terroristen" (gemeint sind die Aufständischen) zugeschrieben.