Wenn Wohlstand keinen Frieden bringt

Die Staaten in Nahost waren relativ wohlhabend und sicher

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Es ist bisher das mächtigste Credo des Kapitalismus: Wirtschaftswachstum bringe steigenden Wohlstand für alle. Wohlstand aber, so die Verheißung, führt zu innerem und äußerem Frieden und zu Stabilität. Doch es sind nicht die Verhungernden in armen Staaten, die mit Massenvernichtungswaffen anstatt mit Kalaschnikows die verlustreichsten Kriege und Bürgerkriege der Gegenwart führen. Israel-Palästina, Libanon, Syrien, Libyen und der Irak waren vergleichsweise wohlhabende Staaten mit studierten Bevölkerungen, mit Klimaanlagen, Gewächshäusern und breit verteiltem, wenn auch nicht westeuropäischem Wohlstand.

Warum gefährden deren Regierungen und Bürger diesen Wohlstand durch Krieg und Bürgerkrieg? Ein Blick auf Statistiken vor Ausbruch der jüngsten Kriege.

Öffentlicher Wohlstand wurde oberstes Ziel der Gesellschaft

Seit der Nürnberg-Ankläger, Soziologe und Wirtschaftsphilosoph John Kenneth Galbraith 1958 mit "The Affluent Society" zum ersten Mal öffentlichen Wohlstand in Gestalt des Sozialstaates als Inhalt und Ziel der Gesellschaft beschrieb, galt Wohlstand als unwiderstehliches Argument für "Regime change". Wahlweise wurde er als Voraussetzung, zumindest aber als sicheres Ergebnis von Demokratie beschrieben.

Ob dann 1985 die Russen und 1990 die Ostdeutschen in ihren friedlichen Revolutionen tatsächlich mehr Demokratie oder aber nur mehr privaten und öffentlichen Wohlstand wünschten, ließ sich nicht mehr klären. Eines aber ist sicher: Unter Krieg und Bürgerkrieg litten in den postsozialistischen Staaten Europas nur die ehemals jugoslawischen Staaten - und die waren bereits zu Zeiten der brüderlichen Solidarität zwischen Marschall Tito und der UdSSR relativ wohlhabend, insbesondere die kriegführenden Serben und Kroaten.

Die Gesellschaften der heute kriegführenden Staaten in Nahost konnten ihren Bürgern noch vor wenigen Jahren nicht nur kostenlose Bildung und Gesundheitswesen, sondern auch Reisefreiheit und relativ hohe innere Sicherheit bieten (siehe Grafik).

So lag etwa die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern in Libyen 2010 bei stattlichen 72,9 Jahren. Die syrischen Männer wurden im Schnitt gar 75,1 Jahre alt. Zum Vergleich: In der Ukraine betrug die Lebenserwartung im gleichen Jahr nur 64,5 Jahre.

2011 lag die Mordrate in Libyen mit 2,9 je 100.000 Einwohner auf dem Niveau von Liechtenstein (2,8). Im Irak gar bei 2,0 (Indonesien: 8,1), in Syrien bei 2,3. Die USA, selbst ernanntes Mutterland der Menschenrechte und der Sicherheit, verbuchten 2011 eine Mordrate von 4,2.

Warum zerstören sich Gesellschaften, die jahrzehntelang in Frieden und Wohlstand lebten? Diese Frage stellte sich in der deutschen Geschichte zuletzt 1914 und 1939. Eine Antwort darauf gab und gibt es nicht. Der Beginn des Ersten und Zweiten Weltkriegs harrt noch immer einer ökonomischen, psychischen oder religiösen Interpretation, die über die vorgezeichneten Erklärungsmuster der jeweiligen Ideologien hinausgeht.

Screenshot aus dem Video vom 20.7.2014, das eine Bombardierung im Gazastreifen festhält. Bild: moi.gov.ps

In Nahost werden indes scheinbar noch Religionskriege ausgetragen. Dies widerspricht aber jeder ökonomischen Vernunft. Die Erlöse der versiegenden Öl- und Gasquellen fließen fast nur noch in Krieg und Wiederaufbau. Allein die Kosten der Zerstörungen in Gaza in den letzten Wochen werden auf etwa 4,5 Milliarden Euro geschätzt.

Paradox: Niedrige Mordrate und hohe Lebenserwartung in den Kriegsstaaten

Ob Islamischer Staat oder IDF, ob SAA oder NSA, Hamas, Hisbollah oder Al-Nusra - sobald ihnen Waffen und Ausbildung finanziert werden, legen sie Wohnviertel und Infrastruktur ohne Rücksicht auf zivile Verluste in Schutt und Asche.

Die hier vorgestellten Zahlen wecken Zweifel an der in Entwicklungsökonomie und politischer Ökonomie verbreiteten Ansicht, eine starke Wirtschaft und breiter Wohlstand trügen automatisch zu innerem und äußerem Frieden bei, weshalb Wirtschaftshilfe gleichzeitig politische Stabilisierung bedeute.

Insbesondere die mit gigantischem finanziellen und publizistischen Aufwand von der UN auf Betreiben des US-Ökonomen Jeffrey Sachs zum Hauptziel erklärten Millennium Development Goals , nach denen für 2,2 Milliarden Menschen die Armut vermindert werden soll, werden durch die Fakten in Frage gestellt: Wenn wohlhabende Staaten mit Billionenaufwand Kriege führen, die Billionenschäden hinterlassen und ganze Weltregionen für Jahrzehnte zerstören, müsste doch das erste UN-Ziel darin bestehen, diese Kriege zu beenden und die Mittel für die Armutsbekämpfung einzusetzen.

Allein: Die kriegführenden Staaten, allen voran die USA selbst, lassen sich von der UNO nichts sagen.

So sollte sich etwa Israel laut einer Resolution des UN-Sicherheitsrates vom 22. November 1967 aus den besetzten palästinensischen Gebieten zurückziehen und deren territoriale Souveränität anerkennen . Seit 47 Jahren.

Am 21. Juli 2014 hat Jeffrey Sachs in einem Artikel mit dem Titel "The Waste of War" selbst auf diesen Widerspruch hingewiesen und erstmals vom Doppelstaat "Israel-Palestine" gesprochen.

Weder Religion noch Wirtschaft können die Kriege erklären

Interessanterweise betrug auch in den Palästinensergebieten noch 2012 die durchschnittliche Lebenserwartung 73,02 Jahre. Wenn man die jüngsten 1900 Morde in Gaza Israel zurechnet, da die Besetzten ja eigentlich arabischstämmige Israelis sind, würde die Lebenserwartung in Israel-Palästina drastisch sinken, die Mordrate drastisch steigen.

Die Macher des Global Peace Index haben dieses Jahr Israel kurz vor Gaza in Sachen Friedlichkeit auf Platz 149 von 162 Staaten platziert. Nächstes Jahr, wenn die Massenmorde in Gaza mitbilanziert werden, ist ein vorletzter oder gar letzter Platz zu erwarten.

Warum aber versinkt fast der gesamte, einst wohlhabende, gebildete und kultivierte Nahe Osten in Krieg und Bürgerkrieg? Religion hat dort bereits zu Kolonialzeiten keine übergeordnete Rolle gespielt, auch der Islam nicht. Vielmehr lebten in Kairo, Beirut, Algier, Jerusalem und Damaskus wie in Teheran und Istanbul Gesellschaften, die wir heute auf Berlinerisch "Multikulti" nennen würden. Sie wurden nicht durch kolonialen Zwang, sondern durch Handel und Wandel zusammengehalten. Moscheen standen neben Kirchen und Synagogen. Kriegerisch waren allein die Kolonialherren.

Die Rückkehr zu fundamentalistischen Religionskulturen bietet in modernen Gesellschaften nur dann eine Erklärung für von Mehrheiten unterstützte Gewaltausbrüche, wenn eine große Bevölkerungsmehrheit diesen Kulturen angehört. Dies ist aber in keinem der fünf Staaten, also in Israel-Palästina, im Libanon, in Syrien, im Irak und Libyen, aber auch nicht in Ägypten, Tunesien, Algerien und der Türkei der Fall. Damit aber scheiden "Der Islam" oder "Das Judentum" als politisch-theologische Begründungen für die Gewaltausbrüche aus.

Auch die zynische Erklärung, Krieg sei eine Wirtschaftsbranche, hilft dann nicht weiter, wenn dabei die eigene Infrastruktur zerstört, die Nachbarn und damit Geschäftspartner und Kunden ermordet, die Geldgeber verprellt werden. Staaten wie Israel-Palästina, Syrien, Libanon, Irak und Libyen wenden längst die Hälfte ihrer Wirtschaftsleistung zur Finanzierung von Krieg und Kriegsfolgekosten auf. Die eigentliche Rüstungsindustrie macht dabei nur einen kleinen Teil der Kosten aus. Nein, die Kriege in Nahost sind in jeder Hinsicht unwirtschaftlich.

Worum aber kämpfen die Kriegsparteien, wenn nicht um religiöse Wahrheit oder ökonomische Dominanz?

Der politische Beobachter steht vor dem Nahostkrieg wie ein Bewährungselfer vor einem Jugendlichen, der in der Gruppe einem verletzt am Boden Liegenden womöglich den tödlichen Tritt gab und nun vor Gericht sagt "Es waren andere" oder "Er hat mich angegriffen". Ein selbst subjektiver Grund, eine rationale Begründung für die Mitwirkung an der Tat gar sind ihm nicht zu entlocken.

Auch unsere Großeltern konnten nicht erklären, warum sie 1914 und 1939 mit großer Euphorie einen Krieg anzettelten. Niemand hat ihnen zum Zeitpunkt des Kriegsbeginns ihr Haus, ihren Garten oder ihren Job streitig gemacht.

Leider stehen die heutigen Kriegsherren in Nahost und ihre Unterstützer vor keinem Gericht. Den Haag, der Sitz des Internationalen Strafgerichtshofes, liegt in einer anderen, einer "zivilisierten" und "westlichen" Welt, der die Vereinigten Staaten von Amerika, Israel-Palästina, Syrien, Libyen und der Irak bisher leider nicht angehören möchten.