Überwachung und Zensur

Russlands Internet massiv unter Druck

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In Russland werden mittlerweile fast täglich neue Vorgaben zur Regulierung des Internets bekannt. Jetzt soll Schluss sein mit anonymer Nutzung von offenen WLAN-Netzen. Bei genauerem Hinsehen erweist sich das als Nebeneffekt eines viel breiteren Angriffs aufs Web - der eine bizarre Mischung aus Überwachung, Zensur und Selbstzensur offenbart.

Bild zur Internetzensur von der Website kasparov.ru, die in Russland blockiert wird.

"Nein, wir haben das noch nicht", sagt der Mann am Tresen freundlich. "Aber wenn es kommt, wird es sicher kein Problem sein." Die Hysterie, die in diesen Tagen wegen einer neuen gesetzlichen Regelung zum Internet durch die sozialen Netzwerke in Russland schwappte, ließ das Personal in diesem Café zwischen Kreml und Leninbibliothek mitten in Moskau erst einmal kalt.

Grund für die Aufregung im Web: Für den Zugang zu offenen WLAN-Netzen sollen Internetnutzer künftig ihre persönlichen Daten angeben. Noch herrschen geradezu paradiesische Zustände in den großen Städten des Landes. WLAN-Netze, ob in einem Restaurant oder Park, sind so gut wie immer frei Zugänglich - häufig dafür unverschlüsselt und überlastet. Eine Authentifizierung von Nutzern, wie sie auch in einigen EU-Ländern über den Mobilfunkanbieter oder den Hotspot-Betreiber üblich und praktizierbar sind, soll das ändern. Das regt die Leute auf.

Dabei gibt es längst viel weitreichendere Vorschriften und Gesetze zum Web, die im Alltag bislang nur weniger greifbar sind. Aus Internetsperrgesetzen, Überwachungspraktiken und Vorratsdatenspeicherung sowie novelliertem Presserecht teils auch für Blogger (Putin verschärft Internetgesetz in Russland) ist zuletzt ein umfassendes Regulierungssystem geschaffen worden, das den Internetnutzer im Russland unter Präsident Wladimir Putin gläsern und angreifbar macht. Offiziell wird mit Sicherheitsinteressen argumentiert, allen voran mit dem Kampf gegen Terrorismus, aber auch gegen Kinderpornographie.

Internetaktivist Artjom Kosljuk, der auf der Web-Plattform "Roskomsvoboda" den Gesetzgebungsprozess dokumentiert, warnt: "Mit allen gesammelten Daten lassen sich Informationen über ganz konkrete Personen erstellen, ohne dass unsere Sicherheitsbehörden darin gebremst werden."

Russlands Gerichte gelten als anfällig für Korruption sowie politisch steuerbar. Die Menschenrechtler vom russischen Zentrum "Memorial" zählen aktuell 45 (2) ihrer Meinung nach aus politischen Gründen weggesperrte Andersdenkende und Kritiker. Sie haben gerade den einflussreichen Blogger Alexej Nawalny in die Liste aufgenommen, der unter Anklage und Hausarrest steht.

Geheimdienst will Zugriff auf die Server sozialer Netzwerke

Die Vorstöße, das Internet weiter zu reglementieren, kommen im Moment bald täglich: So werden zum Beispiel von diesem Dienstag an soziale Netzwerke in Russland dazu verpflichtet, das Abzapfen ihrer Daten durch den Inlandsgeheimdienst FSB direkt per Datenkabel von ihren Servern zuzulassen. Gegenüber der "Deutschen Welle" erklärt der anerkannte Internet- und Geheimdienstexperte Andrej Soldatow, für wie weitreichend er die Neuregelung hält: "Bisher gibt es ein Monitoring-System, mit dem das Web nach bestimmten Wörtern durchforstet werden kann, aber ohne Zugang zu geschlossenen Accounts. Das soll aufgebrochen werden."

Die Überwachung der Daten laufe derzeit über die Webprovider, so dass die Kommunikation aus sozialen Netzwerken noch herausgefiltert werden müsse. Das aber sei eben "sehr arbeitsintensiv", macht Soldatow deutlich. Das Grundprinzip dieses Spionagesystems mit der Abkürzung SORM wurde seit Sowjetzeiten stetig weiterentwickelt und ist den von Whistleblower Edward Snowden enthüllten Methoden des amerikanischen Geheimdienstes NSA ähnlich.

SORM soll Soldatows Einschätzung nach genau auf diese Weise auch den Zugang zu Daten russischer Nutzer erleichtern, die westliche Dienste nutzen. Dort fühlen sich zivilgesellschaftliche Aktivisten und oppositionelle Politiker in Russland bislang ironischerweise noch gut aufgehoben. Soldatow verweist in diesem Zusammenhang auf ein weiteres Gesetz, das im Juli in einem rasenden Tempo von nur wenigen Tagen durchs Parlament gepeitscht worden war. Es soll diese Dienste ab 1. September 2016 verpflichten, russische Nutzerdaten allein auf Servern innerhalb Russlands zu speichern. "Das Ganze geschieht unter der Androhung von Internetsperren, zum Beispiel gegen Twitter oder Facebook."

Zensur, Selbstzensur und Kollateralschaden von zehntausenden Domains

Zugleich geraten in Russland die noch wenigen unabhängigen Medien und Journalisten insbesondere unter dem Eindruck des Ukraine-Konflikts immer stärker unter Druck: Chefriegen wechseln, kritische Sendungen werden über Nacht aus dem Programm gestrichen - das setzt sich bei Onlinemedien fort.

Beim Facebook-Pendant "Vkontakte", das wichtigste soziale Netzwerk in Russland, haben längst kremlnahe Großinvestoren das Sagen. Und durch systematisch ausgeweitete Gesetze zur Blockierung von Webseiten geht der Kampf gegen Internetkriminalität und Extremismus außerdem Hand in Hand mit politischer Zensur unliebsamer Meinungen.

Seit kurzem können Gerichte einfacher denn je umgangen werden, so dass sich in der "schwarzen Liste" durch den Generalstaatsanwalt blockierter Seiten neben Videos rechtsextremer neonazistischer Gruppen zum Beispiel seit Monaten drei liberal orientierte, oppositionelle Nachrichtenportale aus der russischen Medienlandschaft finden, die offen Kritik gegen Putins politischen Kurs erheben. Das sind kasparov.ru, die Website des Kremlkritikers und einstigem Schachweltmeister Garri Kasparow, grani.ru und ej.ru. Gerichte lehnten Beschwerden ab. Aktuell steht noch eine weitere von ej-Chefredakteur Alexander Ryklin aus, der auch Organisator von Protesten gegen die Ukraine-Politik des Kremls ist.

Die Drohkulisse von Websperren hilft der Medienaufsicht, Zensurwünsche durchzusetzen. Vor wenigen Tagen hat ein Fall besonders viel Aufsehen erregt, weil die Zensoren ihren Arm bis nach Deutschland zum Webhoster Hetzner Online ausstreckten.

In Reaktion auf die Berichterstattung teilte der Hoster am Montag auf seiner Facebook-Seite mit, der Beschwerde aus Russland nach Prüfung des Falls nicht statt zu geben. Dabei ging es um die Ankündigung für eine Demonstration "Zur Förderalisierung Sibiriens" am 17. August, mit der ein Künstler auf Ungleichverteilung von Gewinnen aus dem Rohstoffhandel unter den Regionen im Riesenreich Russland aufmerksam machen will.

Angesichts von Krim-Angliederung und pro-russischen Separatisten in der Ostukraine ist Russlands Führung bei solchen Schlüsselwörtern innerhalb des eigenen Landes gerade sehr empfindlich. Laut "Reporter ohne Grenzen" wurden mehr als ein Dutzend Nachrichtenseiten im In- und Ausland abgemahnt, die über den geplanten Protestzug in Sibirien berichtet hatten. Auf "Vkontakte" wurde eine Gruppe geschlossen. Weil die meisten russischen Medien nicht dasselbe Schicksal wie Kasparow oder Ryklin erleiden wollen, sind sie der Aufforderung gefolgt, die Information zu entfernen, mindestens aber zu ändern, wie die russischsprachige BBC. Auch Blogs waren betroffen. Das Ergebnis: Erzwungene Selbstzensur zum Schutz vor Zensur.

Gleichzeitig scheren sich die Behörden wenig um technische Raffinessen bei ihrem Vorgehen, wie das Portal Roskomsvoboda dokumentiert. Demnach sind bei bisherigen Websperren zehntausende eigentlich unbescholtene Seiten mit vom Netz gegangen, weil umfassend über IP-Adressen geblockt wird. "Darunter sind Webseiten von Schulen, Kindergärten und Sportclubs. Es kann Jahre dauern, bis das wieder behoben ist. Vielen bleibt nur der Umzug auf eine andere IP-Adresse", kritisiert Aktivist Artjom Kosljuk.

Er sieht auch ganz frische Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung kritisch, weil das Gesetz soziale Netzwerke, Foren und praktisch jede Seite, "auf der irgendeine Form von Austausch, Zuschrift oder Unterhaltung stattfindet, vom Portal mit Kontaktformular bis zu einemChat-Dienst wie Skype", dazu verpflichte. Oder eben auch Anbieter von WLAN-Hotspots, was - so glauben Kosljuk und Soldatow beide - der eigentliche Kern bei der geplanten Authentifizierung von Nutzern offener WLAN-Netzwerke sein könnte, der die Netzgemeinde ganz aktuell so aufgeregt hat. Die soll im Herbst starten, in welcher konkreten Form, ist noch offen - außerdem, wie umfassend es wird und ob es dann am Ende tatsächlich jedes Café so wie das zwischen Kreml undLeninbibliothek betrifft.