Ukraine: Todesstrafe und Lizenz zum Töten

Gab es den Angriff auf eine Flüchtlingskolonne aus Lugansk - und wer ist verantwortlich?

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Der russische Hilfskonvoi steht weiter an der Grenze. Das ICRC hat zwar die Leitung der Hilfslieferungen und deren Verteilung zugesagt, aber offenbar gibt es von den kämpfenden Parteien noch keine ausreichenden Sicherheitsgarantien. Das ICRC hält sich zurück, den Schuldigen zu nennen. Inzwischen ist die Verteilung der Hilfsgüter, nach dem ICRC vor allem Obst und Gemüse, des ukrainischen Hilfskonvois in einigen Städten der Ostukraine angelaufen.

Andriy Lysenko, der allgegenwärtige Sprecher des ukrainischen Verteidigungs- und Sicherheitsrats.

Nach Berichten aus Kiew sollen Separatisten gestern um 9:40 Uhr Ortszeit eine Flüchtlingskolonne aus Lugansk mit Granatenwerfern und Grad-Raketenwerfern beschossen haben. Es habe viele Opfer gegeben, die in ihren Autos verbrannt seien. Der unermüdliche Sprecher des Verteidigungs- und Sicherheitsrats Lysenko bestätigte die Berichte, ohne allerdings Belege vorzulegen. Mit Waffen, die ihnen von Russland übergeben worden seien, hätten die Separatisten, genannt "Banditen", auf eine Flüchtlingskolonne auf der Schnellstraße zwischen Khriashchuvate und Novosvitlivkoya gefeuert. Es seien auch viele Frauen und Kinder ums Leben gekommen.

Weiter werden von Lysenko Erfolge der ukrainischen Streitkräfte gemeldet und zeigte mitunter ein Video, dass die Waffenlieferungen aus Russland beweisen soll. Angeblich zeigt es einen Schützenpanzer des Typs BTR 80A, über den nur die russische Armee verfügen soll.

Die Separatisten weisen die Beschuldigungen zurück. Sie verfügten gar nicht über die Mittel, hier einen solchen Angriff auszuführen. Reuters sagte der "Vize-Ministerpräsident" der "Volksrepublik Donezk" Purgin: "Die Ukrainer selbst beschießen diese Straße aus der Luft und mit Mehrfachraketenwerfern. Wir haben keine Möglichkeit, Grad-Raketenwerfer in diese Region zu entsenden." Wie immer beschuldigen sich Westukraine und Separatisten gegenseitig, in diesem Fall ist allerdings noch gar nicht klar, ob wirklich eine Flüchtlingskolonne beschossen wurde. Immer wieder ist erstaunlich, wie wenig die Öffentlichkeit über die Vorgänge am Rande Europas weiß und wie oft es trotz oder wegen der Geheimdienste und ihrer Aufklärungskapazitäten kaum klare Beweise gibt. Offenbar leben alle beteiligten Parteien davon, den "fog of the war" zu verbreiten. Nach einem interessanten Bericht eines Reporters der New York Times scheint es oft so zu sein, dass ukrainische Streitkräfte und Separatisten jeweils die Orte beschießen, von denen auf sie gefeuert wird. Dabei scheint es beiden Seiten egal zu sein, ob Zivilisten, Krankenhäuser oder andere ziviele Gebäude ins Ziel geraten.

Die Meldung hat jedenfalls auch UN-Generalsekretär Ban Ki-moon erreicht, der sich zutiefst besorgt zeigte und alle aufforderte, die Sicherheit von Flüchtlingen zu gewährleisten. Ban Ki-moon erklärte, der Vorfall wiese darauf hin, wie wichtig ein sofortiger Waffenstillstand und eine diplomatische Lösung des Konflikts seien. Beim Treffen der Außenminister der Ukraine, Russlands, Deutschlands und Frankreichs am Sonntag in Berlin war es zu keinen Fortschritten gekommen.

Die Handschuhe werden ausgezogen

Sowohl Kiew als auch die Separatisten haben allerdings beschlossen, gegen die jeweiligen Feinde skrupelloser vorzugehen. Der ukrainische Präsident Poroschenko hat ein Gesetz unterzeichnet, nach dem nun Polizisten in dem wenig genau definierten Gebiet der "Antiterroroperation" Schusswaffen ohne vorherige Warnung gegen mutmaßliche Terroristen einsetzen können. Poroschenko verwies gestern auch darauf, dass angeblich die Separatisten durch 1200 Mann aus Russland mitsamt Panzern verstärkt worden seien. Er wiederholte, was weiterhin unbelegt bleibt, dass ein Militärkonvoi aus Russland teilweise zerstört worden sei.

Man müsse nun die Streitkräfte neu ordnen. Der Vorstoß der Streitkräfte sei zwar erfolgreich, aber sehr verlustreich: "Jeden Tag verlieren wir ukrainische Helden." Das sagte er wohl auch im Hinblick darauf, dass sich die Proteste gegen die Einberufung von jungen Männern verstärken. Als neue Strategie gibt Poroschenko aus, die von Separatisten kontrollierten Gebiete so einzuschließen, dass keine neuen Kämpfer und Waffen mehr in sie gelangen können. Die großen Städte seien bereits eingekesselt.

Die Separatisten hingegen wollen die Todesstrafe einführen. Vladimir Antyufeyev, einer der Führer der Separatisten in Donezk, kündigte die Aufstellung von Militärtribunalen an, die bei Sabotage, Anschlägen, Hochverrat und Spionage, möglicherweise auch bei Plünderungen die Todesstrafe verhängen können. Offenbar ist das Chaos in den von Separatisten kontrollierten Gebieten groß, Kriminalität wuchert, wo es keine normalen Sicherheitskräfte mehr gibt, um Recht und Ordnung durchzusetzen, wobei die Kriminalität auch schon vor dem Krieg hoch gewesen ist. Antyufeyev sagte, die Todesstrafe sei keine Rache, sondern die "höchste Stufe des sozialen Schutzes".