Gaza: Die Waffen sprechen wieder

Foto: palästinensische Nachrichtenagentur Wafa

Die Bemühungen um eine dauerhafte Feuerpause sind gescheitert; auf beiden Seiten gibt es internen Streit

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Im Gazastreifen und in Israel sind die Kampfhandlungen wieder in vollem Gange: Palästinensische Kampfgruppen schossen seit Dienstagnachmittag so viele Raketen wie nie zuvor in so kurzer Zeit ab; Israels Militär fliegt wieder Luftangriffe auf Ziele im Gazastreifen. Neu ist, dass nun auch die Kommandeure der Kampfgruppen gezielt angegriffen werden: Am Mittwoch wurden drei Offiziere der Essedin al-Kassam-Brigaden getötet; unklar ist das Schicksal des Oberbefehlshabers des bewaffneten Flügels der Hamas, Mohammad Deif. Bei einem Luftangriff waren seine Frau und zwei seiner Kinder ums Leben gekommen; die Hamas sagt, er selbst sei unverletzt davon gekommen.

Mindestens 70 Menschen kamen seit dem Zusammenbruch einer insgesamt sechstägigen Feuerpause am Dienstagnachmittag im Gazastreifen ums Leben; in Israel kam ein Kind ums Leben, mehrere Menschen wurden teils schwer verletzt.

Eine neue Verhandlungsrunde scheint im Moment unmöglich, und das auch, weil auf beiden Seiten der interne Dissenz immer deutlicher wird: In Israel hat der Krieg zu einer ernsten Koalitionskrise geführt; in Palästina ringen die einzelnen Fraktionen um den größtmöglichen Einfluss. Mehrere europäische Länder bemühen sich nun um eine UNO-Resolution.

Das "Phantom von Gaza"

Plötzlich brandet Applaus auf. Es ist Mittwoch, und im Radio, das in diesem Café im Herzen Tel Avivs im Hintergrund läuft, hat der Sprecher gerade bekannt gegeben, dass die Luftwaffe einen Angriff auf Mohammad Deif, den Oberbefehlshaber der Essedin al-Kassam-Brigaden geflogen hat; sein Schicksal sei unklar. Doch die Menschen, Linke wie Rechte, sind trotzdem begeistert: Schon der Anschein einer Erfolgsmeldung reicht, um in diesem an Erfolgen armen Krieg den Menschen zu bedeuten, dass es irgendwie voran geht.

Und Mohammad Deif, das "Phantom von Gaza", wie er hier auch genannt wird, ist in Israel das Synonym für die Raketenangriffe, die Tunnel, für diesen Krieg. Kurz darauf wird die Regierung bekannt geben, es sei ein großer logistischer Aufwand gewesen, das "Phantom von Gaza" ausfindig zu machen; Militär und Geheimdienste hätten eng miteinander kooperiert; ein "Drama" sei der Entscheidungsprozess gewesen, weil es ja viele Faktoren zu bedenken gegeben habe, und sich zudem auch noch die Gelegenheit bot, kurz darauf auch noch drei Kommandeure der Essedin al-Kassam-Brigaden im Süden des Gazastreifen zu töten.

Auch dies hebt die Stimmung: Im Laufe der vergangenen Wochen haben viele in Israel das Vertrauen in die Sicherheitsdienste und das Militär verloren. Wie konnte es passieren, dass man nichts vom Ausmaß der Tunnel wusste, die Israels Militär dann im Rahmen einer Bodenoffensive zerstörte, die 64 Soldaten das Leben kostete? Das ist eine der Fragen, die in diesen Tagen immer wieder gestellt wird. Und auch: Wieso haben die palästinensischen Kampfgruppen immer noch Raketen, die sie auf Israel abfeuern können?

Netanjahu braucht einen Sieg

"Gezielte Tötungen" sind in Israel sehr beliebt, weil sie kein ganzer Krieg sind, in dem man den Überblick verliert, und am Ende Sieg und Niederlage nicht wirklich auseinander halten kann, weil die diplomatischen Lösungen, die stets am Ende stehen, immer ein bisschen von beidem sind, und sich oft erst nach Jahren zeigt, ob das alles Erfolg gehabt hat. "Gezielte Tötungen" sind, wenn sie erfolgreich sind, ein Sieg in sich selbst, und lassen sich leicht in einen Sieg umdeuten, wenn unklar ist, ob die Zielperson tatsächlich getötet worden ist.

So wie im Fall Mohammad Deifs: Sein Schicksal war noch am Freitagabend unklar. Sicher ist, dass seine Ehefrau und zwei seiner Kinder sowie mehrere weitere Personen dabei umgekommen sind. Doch die Hamas sagt, Deif selbst sei unverletzt, während sich Israels Militär sicher gibt, dass er tot ist. Warum sonst habe er sich nicht umgehend mit einem Lebenszeichen gemeldet, fragt man dort.

Dass Regierungschef Benjamin Netanjahu diese Angriffe nun angeordnet hat, liegt vor allem daran, dass er selbst auch einen Sieg braucht: Im Wochen langen Poker um Feuerpausen und Waffenstillstandsvereinbarungen hat er selbst massiv an Unterstützung eingebüßt (Der kleinste gemeinsame Nenner). In seinem Team deutet man immer wieder seine "Zurückhaltung" aus. Er habe den rechten Koalitionspartnern, "Kriegstreibern, die Israel in eine langwierige Besatzung zwingen wollen", sagen manche Berater ganz offen, die Stirn geboten.

"Seine Entscheidungen haben Israel nicht den versprochenen Frieden gebracht", kommentierte ein Polit-Analyst des Militärrundfunks und sprach aus, was auch in der Öffentlichkeit immer wieder zu hören ist: nicht zurückhaltend, zögerlich sei er, und das Sicherheitskabinett ein Debattierclub, dessen Beschlüsse keine klare Linie erkennen lassen.

Denn mittlerweile ist sehr deutlich, dass die dazu gehörenden Minister massiv gegeneinander arbeiten, und das aus Gründen, die nichts mit dem Krieg zu tun haben: Man hat ganz offensichtlich den Wahlkampf eröffnet, schmiedet neue politische Allianzen. In einer Sitzung in der vergangenen Woche kam es einmal mehr zum Eklat, dieses Mal zwischen Außenminister Avigdor Liebermann und Netanjahu.

Netanjahu hatte einen Entwurf für ein Waffenstillstandsabkommen am Sicherheitskabinett vorbei gemogelt, und Liebermann, dessen Partei Jisrael Beitenu noch bis vor Kurzem mit Netanjahus Likud-Block in einem Wahlbündnis verbandelt war, hatte dies mit bekommen. Am Ende habe Netanjahu dann den Raum verlassen, berichtete die Zeitung Ha'aaretz: Im Nebenzimmer warteten Bürgermeister aus dem Süden auf ihn, er komme gleich zurück. Er kam nicht zurück.

Schlechte Aussichten, dass der Krieg ein baldiges Ende finden wird

Der Dissenz ist nun auch längst nicht mehr auf das rechte und das zentristische Lager in der Koalition beschränkt. Im Likud-Block schlagen sich immer mehr Abgeordnete auf die Seite der Rechten, und fordern einen erneuten Einmarsch in den Gazastreifen. Und Abgeordnete der Zukunftspartei von Finanzminister Jair Lapid kritisieren die Zusammensetzung der israelischen Verhandlungsdelegation in Kairo: Neben dem Chef des für die palästinensischen Gebiete zuständigen Inlandsgeheimdienstes Schin Beth besteht die Delegation ausschließlich aus Militärs.

Die Befürchtung: Dass die Verhandlungen über ein Waffenstillstandsabkommen ausschließlich nach militärischen Gesichtspunkten geführt wurden (Und am Tag danach?). Doch die Sichtweise des Militärs lasse immer nur einen Teil des Gesamtbildes erkennen. "Aus militärischer Sicht mag am Ende ein Sieg stehen", sagt ein Abgeordneter:

Die Hamas könnte so massiv geschwächt sein, dass sie handlungsunfähig ist. Aber was werden die diplomatischen Konsequenzen sein? Die Beziehungen selbst zu engen Partnern wie den Vereinigten Staaten sind massiv belastet, und die internationale Gemeinschaft wird nicht akzeptieren, dass wir einen zerstörten Gazastreifen zurück lassen, und den Wiederaufbau verbieten, weil man mit den dafür benötigten Gütern Waffen und Tunnel bauen kann.

Die Diplomatie sei nicht stark genug einbezogen worden.

Es ist eine Situation, mit der auch der Regierungschef selbst unzufrieden zu sein scheint: In einer Pressekonferenz am Mittwochabend sprach er davon, nach Kriegsende werde es einen "neuen diplomatischen Horizont" geben - ein deutliches Zeichen dafür, dass eine Regierungsumbildung, möglicherweise sogar ein Austritt Netanjahus aus dem Likud bevorstehen könnte.

Auch dafür gibt es deutliche Anzeichen: In den vergangenen Tagen erhielten Israelis Anrufe von einem Meinungsforschungsinstitut, in denen die Frage gestellt wurde, wie man zu einer neuen Netanjahu-Partei stünde. Das Besondere: Das Meinungsforschungsinstitut arbeitet nahezu ausschließlich für das Umfeld Netanjahus; Medien, die solche Frage regelmäßig erörtern, gehörten bislang nicht zu den Kunden.

Doch zum Problem könnte Netanjahu ausgerechnet das werden, was ihm ursprünglich wohl Auftrieb verschaffen sollte: Die "gezielten Tötungen" der Kassam-Kommandeure. Denn trotz der weit verbreiteten Zustimmung zu der Entscheidung, werden Netanjahus Zukunftschancen vor allem vom weiteren Kriegsverlauf abhängig sein - und noch sehr viel mehr als dies, von der Frage, was die Menschen der Krieg am Ende kosten wird.

Denn nach dem Krieg werden wieder die Lebenshaltungskosten, die soziale Sicherheit, die gesellschaftlichen Probleme auf der Tagesordnung stehen. Und da ist es dann so, dass mit massiven Einschnitten in den Sozialhaushalt, mit steigenden Lebenshaltungskosten und höherer Arbeitslosigkeit gerechnet werden muss.

Zentralbank und Finanzministerium warnen bereits seit Wochen davor, dass sich die volkswirtschaftlichen Auswirkungen erhöhen werden, je länger der Krieg dauert. Und nach den Angriffen auf die Kommandeure scheint es sehr unwahrscheinlich, dass der Krieg ein baldiges Ende finden wird, denn die "gezielten Tötungen" haben den Konflikt zwischen israelischem Militär und palästinensischen Kampfgruppen auf eine neue Ebene gehoben.

Im Hintergrund arbeiten Hamas und Fatah wieder massiv gegeneinander

Diese Niederlagen für die Kassam-Brigaden haben bei ihren Kämpfern Wut erzeugt; es dürfte ihnen schwer vermittelbar sein, dass man sich wieder mit Israel zu Verhandlungen trifft, gar einer Entmilitarisierung zustimmt, zumal auch auf der palästinensischen Seite wieder ein Machtkampf entbrannt ist: Die einzelnen palästinensischen Fraktionen ringen um die Deutungshoheit über den Krieg, über mögliche Zugeständnisse Israels. Es geht um Einfluss.

Würde es so kommen, wie es in den Entwürfen für eine Waffenstillstandsvereinbarung stets vorgesehen war, würden die Kassam-Brigaden, aber auch der Islamische Dschihad im Gazastreifen massiv an Einfluss verlieren: Einheiten der palästinensischen Regierung in Ramallah würden dann künftig an den Grenzen Wache schieben; ausländische Zahlungen für den Wiederaufbau würden ebenfalls in Ramallah verwaltet.

Letzten Endes müsste die politische Führung der Hamas auch die politische Kontrolle an Ramallah weitergeben und zwar stärker, als es in der Vereinbarung über die Bildung einer Einheitsregierung Anfang Juni vorgesehen war. Damals hatte man fest gelegt, dass die Hamas im Gegenzug für eine Duldung der Regierung ohne eine direkte Beteiligung daran, einen Großteil ihres militärischen Einflusses behalten sollte. Viele Bedienstete von Ministerien, aber auch der Kassam-Brigaden wären in den Ramallah-Regierungsapparat integriert worden, und für die internationale Gemeinschaft wäre das auch so in Ordnung gewesen.

Doch der Krieg droht diese Machtverhältnisse nachhaltig zu verändern. Noch ist offiziell die palästinensische Regierung für alle Verhandlungen mit Israel zuständig, doch die Einheit ist am Wackeln. Im Hintergrund arbeiten Hamas und Fatah wieder massiv gegeneinander. Im Mittelpunkt steht dabei ausgerechnet die Forderung nach einem Flug- und einem Seehafen, zwei Projekten, die die Palästinenser neben der Aufhebung der Blockade unbedingt haben wollen.

Die Aufhebung der Blockade?

Im Grunde wäre Israels Regierung auch bereit, dem zuzustimmen, denn mit der Aufhebung der Blockade würde auch der Güterverkehr massiv zunehmen. Und die Straßenverbindungen in den Gazastreifen sind dafür nicht ausgelegt: Ein einziger Lastwagen wird durch An- und Abfahrt, Entladung und Kontrollen einen halben Tag gebunden. Das liegt auch daran, dass die Lastwagen nicht in den Gazastreifen hineinfahren, sondern die Güter umgeladen werden.

Schon zu Zeiten der Blockade gab es aber auf der anderen Seite gerade einmal genug Lastwagen, um die Lieferungen sofort abzutransportieren; sollte die Blockade aufgehoben, und sämtliche benötigte Güter geliefert werden, wird es in den Lagerhäusern an der Grenze knapp werden. Die andere Option wäre, die Lastwagen bis zu den Zielen im Gazastreifen fahren zu lassen. Nur würde es dann zu extremen Wartezeiten an den Kontrollpunkten kommen.

Dementsprechend ist man sich auch in Israel relativ einig, dass zumindest der Seehafen schon allein aus logistischen Gründen gebraucht wird. Geplant wird hier mit vorgefertigten, schwimmenden Pieren, die auch kurzfristig antransportiert werden können. Der Flughafen hingegen ist eher ein nationales Symbol für die Palästinenser. Die palästinensische Fluglinie Palestinian Airlines, die GZA, so der Flughafen-Code in den Jahren seiner Öffnung anflog, besitzt offiziell gerade einmal zwei Maschinen; es ist unbekannt, ob sie funktionstüchtig sind. Aktuell bietet die Airline keine Flüge an.

Im Grunde hatten sich beide Seiten bereits darauf geeinigt, einen Monat nach der Unterzeichnung eines dauerhaften Waffenstillstandes über Flug- und Seehafen zu verhandeln. Doch als es dann darum ging, die Zustimmung der einzelnen palästinensischen Fraktionen, also nicht nur der von der Fatah dominierten Regierung von Präsident Mahmud Abbas, sondern auch des Islamischen Dschihads, der Kassam-Brigaden, der politischen Hamas-Führung in Gaza und des Politbüros der Hamas in Katar einzuholen, geriet alles ins Stocken.

...die Frage, wer den Erfolg für sich verbuchen darf

Khaled Maschal, Chef des Politbüros, blockierte, forderte plötzlich, die beiden Projekte müssten sofort vereinbart werden, und Israel, wo zudem auch noch der Streit im Sicherheitskabinett dazwischen kam, änderte daraufhin sein Angebot von "in einem Monat" in "irgendwann" um, und erklärte sich nur noch zu einer teilweisen Aufhebung der Blockade bereit. So will Israel die Blockade nur teilweise aufheben, und die Verhandlungen über Flug- und Seehafen auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschieben.

Grund für den Kurswechsel dürfte die Frage gewesen sein, wer diese wichtigen Zugeständnisse als Erfolg für sich verbuchen darf. So will die palästinensische Regierung Flug- und Seehafen im Kontext der Osloer Übereinkünfte gesehen wissen: Beides war damals vereinbart, aber nur im Falle des Flughafens wenigstens zeitweise umgesetzt worden.

Auch Israel besteht darauf, dass dieses Zugeständnis ausdrücklich auf das Konto von Abbas geht. Man hofft darauf, dass er und seine Regierung dadurch gestärkt werden, um dann die ihnen zugedachten Sicherheitsaufgaben im Gazastreifen erledigen zu können. Doch Maschal scheint bemüht, Flug- und Seehafen als Erfolg für die Hamas zu beanspruchen, um sie selbst zu stärken: Man hofft auf, auch internationale Legitimität, indem man sich als Befreiungsorganisation darstellt (Gaza: Geschichten von Macht und Geld).