Putin verteidigt die Kämpfer von "Noworossija"

Putin im Interview

Mit seinen Äußerungen zu Neurussland erhöht Putin den Druck auf Kiew und die westlichen Länder, welche die ukrainische Regierung unterstützen

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Der russische Präsident rückt jetzt öffentlich näher an die Aufständischen in der Ost-Ukraine heran. Bisher hatte der Kreml-Chef "Noworossija", den Staat im Südosten der Ukraine, für den die Aufständischen in der Ost-Ukraine kämpfen, nicht erwähnt.

Seit Freitag hat sich das geändert: In einer Presseerklärung des Kreml taucht in der Überschrift das erste Mal das Wort Noworossija auf. Und am Sonntagabend konnte man in einem Interview, welches der staatliche russische Fernsehsender Pervi Kanal ausstrahlte, hören, wie der russische Präsident über die Beendigung des Krieges und die Aufständischen in der Ostukraine denkt.

Russland strebe "natürlich danach, dass das Blutvergießen aufhört und zwar möglichst schnell". Was aber jetzt in der Ost-Ukraine vor sich gehe, sei "eine natürliche Reaktion von Menschen, welche dort leben und welche ihre Rechte verteidigen." Der Kreml-Chef unterstrich, dass nicht die Aufständischen "als erste zu den Waffen gegriffen" hätten.

Diese Sichtweise wird schon seit dem Beginn der Kiewer "Anti-Terror-Operation" Mitte April von den staatlichen russischen Fernsehsendern verbreitet. Doch es ist nun das erste Mal, dass der russische Präsident persönlich solche Gedanken vorträgt und ihnen damit auch international mehr Gewicht verleiht.

"Sollen sie warten, bis man sie umbringt?"

Putin stellte sich moralisch hinter die Aufständischen, indem er fragte: "Wer hat das Recht, mit Artillerie und Raketenwerfern an große, ja beliebige Orte heranzurücken und Wohnhäuser zu beschießen, wer hat das Recht zu erwarten, dass die Menschen sitzen und warten, bis man sie umbringt?"

Eine Reaktion auf das Vorgehen der ukrainischen Armee von Seiten Russlands sei "unausweichlich, weil dort Verwandte und Freunde leben und alles so miteinander verbunden ist". In Anspielung auf die massive westliche Unterstützung für die Regierung in Kiew erklärte der russische Präsident, dass diejenigen, "welche im Westen und anderen Ländern etwas planen, wenigstens einen Schritt vorausdenken sollten, um die Folgen dessen berücksichtigen, was sie tun".

In Anspielung auf den Machtwechsel in Kiew Ende Februar meinte der Kreml-Chef, die Fehler, "die bei der bewaffneten Machtergreifung in der Ukraine passiert" seien, dürften "von Niemandem niemals wiederholt werden". Darüber habe er mit dem ukrainischen Präsidenten gesprochen.

Zur Zukunft der Ost-Ukraine meinte der russische Präsident, man müsse "unverzüglich" mit Verhandlungen "über die politische Organisationen der Gesellschaft und der Staatlichkeit im Süd-Osten der Ukraine" beginnen. Das Ziel müsse sein, "die gesetzlichen Interessen der Menschen, welche dort leben, sicherzustellen".

Putin erklärte, er habe mit dem ukrainischen Präsidenten über weitere humanitäre Hilfe für die Ost-Ukraine gesprochen. Petro Poroschenko selbst habe vorgeschlagen, dass diese von Russland über die Eisenbahn geliefert wird. Außerdem müssten die Kampfhandlungen sofort eingestellt werden, damit die Infrastruktur vor Einbruch des Winters wiederhergestellt werden könne, so der Kreml-Chef in dem Fernsehinterview.

Putin-Interview löst Spekulationen aus

Die Vorankündigung des Fernseh-Interview am Sonntagmittag hat in westlichen Medien Spekulationen ausgelöst. Angeblich wolle Putin einen Staat "Noworossija" anerkennen. Doch Dmitri Peskow, der Pressesprecher des russischen Präsidenten, erklärte, "nur die Ukraine kann mit Noworossija verhandeln" und "eine politische Lösung erreichen". Das sei eine "innerukrainische" Angelegenheit.

Mit seinen Äußerungen zu Noworossija erhöht Putin den Druck auf Kiew und die westlichen Länder, welche die ukrainische Regierung unterstützen. Die Äußerungen des Kreml-Chefs fallen in eine Zeit, in der die Aufständischen in der Offensive sind und neue Orte erobern. Nach Angaben russischer Medien sollen 10.000 ukrainische Soldaten von den Aufständischen eingekesselt worden sein.

Von der Mehrheit der russischen Bevölkerung war ein öffentliches Bekenntnis des russischen Präsidenten zu "Noworossija" seit Langem erwartet worden. Nur eine kleine Minderheit in Moskau und St. Petersburg, Liberale und Menschenrechtler, haben die westliche Sichtweise übernommen und sprechen mehr oder weniger offen von einem "Krieg", den Russland gegen die Ukraine führt.

Als Beweis dienen zehn junge Soldaten der russischen Luftlandetruppen, die Anfang der Woche angaben, sie hätten sich auf ukrainisches Gebiet verlaufen. Beweise für die von Kiew behaupteten Beschießungen von russischem Territorium aus und den Einsatz von russischen Truppen in der am Mittwoch von den Aufständischen eingenommen Hafenstadt Nowoasowsk gibt es bisher nicht.

Austausch von Gefangenen

In der Nacht auf Sonntag, noch vor dem Fernsehinterview mit Putin, kam es an der russisch-ukrainischen Grenze zu einem Gefangenenaustausch. Neun der russischen Soldaten, die sich angeblich auf ukrainisches Gebiet verlaufen hatten, wurden gegen 63 Soldaten der ukrainischen Nationalgarde ausgetauscht, welche am Mittwoch in der Nähe des Dorfes Schramko auf russisches Territorium gelangt waren, weil sie aus einem Kessel ausbrechen wollten.

Auf Fragen, ob sich Soldaten an der russische-ukrainischen Grenze wirklich verlaufen könnten, meinte Wladimir Putin am Freitag bei einer Diskussion auf einem Sommer-Jugendlager, dass sich die russischen Soldaten "verirrt haben, weil es dort keine markierte Grenze gibt. Wenn es dort militärische Aktionen gibt und unsere an der Grenze patrouillieren, ist das möglich. Ich meine, dass das eine technische Frage ist."

Die neun russischen Soldaten, die vom ukrainischen Geheimdienst Anfang letzter Woche im grenznahen Gebiet festgenommen wurden und dabei keinen Widerstand leisteten, wurden zunächst nach Kiew gebracht und der internationalen Presse als Beweis für die angebliche "russische Invasion" präsentiert. Die Soldaten erklärten, sie hätten an einer Militärübung teilgenommen und nicht gewusst, dass sie auf ukrainischem Territorium waren.

Ein zehnter festgenommener russischer Soldat war bereits vor einigen Tagen wegen schwerer Verbrennungen, die er sich kurz vor der Verhaftung zugezogen hatte, zur medizinischen Behandlung nach Russland ausgeliefert worden. Die russischen Soldaten erklärten in einem Fernsehinterview mit dem russischen Fernsehkanal Doschd, sie seien von den ukrainischen Ermittlern nicht als Kriegsgefangene, sondern als Zeugen verhört worden.

Ein relativ ruhiger Tag in Donezk

Die Aufständischen konnten ihre Offensive auch am Sonntag fortsetzen. Im Raum Lugansk wurden nach Angaben der Aufständischen mehrere Orte eingenommen und sechs Panzer erbeutet. In der Großstadt Donezk blieb es am Sonntag nach Berichten der Aufständischen "relativ ruhig" . "Das erste Mal seit langem hat die ukrainische Armee nur zweimal geschossen." Der Stadtgeburtstag, der eigentlich am Sonntag auf dem Kalender stand, wurde aber auf den 8. September verlegt.

Die Website Noworossija versuchte, den Einwohnern Mut zu machen. In einem aktuellen Video wird ein friedliches Leben in der Stadt gezeigt, mit Spaziergängern, die Tauben füttern.

Leben im Keller

Viele Menschen in der Ost-Ukraine leben seit Wochen in Kellern, so etwa in der schwer zerstörten Stadt Charzysk. In den Kellern sieht man vor allem ältere Menschen, Frauen, Kinder und Katzen. Vor den zerstörten Häusern wird auf primitiven Kochstellen das Mittagessen zubereitet.

In einem Video äußern sich Bürger von Charzysk darüber, wie sie über den ukrainischen Präsidenten denken. Eine Frau mittleren Alters sagt, sie wünscht Poroschenko und allen seinen Nachkommen "bis in die 15. Generation" das, "was wir jetzt durchmachen." Eine ältere Frau demonstriert Optimismus. Siegen würden "die, welche ihre Erde verteidigen, und nicht, welche gekommen seien, um zu kämpfen".

Ein etwa 12-jähriger Junge sagt, "Poroschenko hat mir meinen Freund genommen". Nun könne er nicht mit ihm "auf der Straße spielen, nicht mit ihm am 1. September in die Schule gehen, sondern müsse in einem kalten, feuchten Keller sitzen". In einem anderen Video wird gezeigt, wie Aktivisten der Bewegungen Noworossija Lebensmittel an die Einwohner ausgebombter Häuser verteilen.

Welche Interessen verfolgt Russland gegenüber der Ukraine?

Verfolgt man die russische Politik gegenüber der Ukraine in den vergangen zwölf Monaten, so wird klar, dass Moskau vor allem daran gelegen ist, dass die Ukraine den Einflussbereich der Nato nicht vergrößert, weder durch ihre Mitgliedschaft noch durch eine engere militärische Zusammenarbeit mit einzelnen Nato-Staaten. Russland verfolgt dabei ein Sicherheitsinteresse.

Aus dem gleichen Grund hat Russland gegen die Aufstellung des amerikanischen Raketen-Abwehrsystems in Osteuropa protestiert. Russland glaubte den amerikanischen Beteuerungen nicht, dass sich die Abwehr-Raketen nur gegen den Iran und Nord-Korea richten.

Mit der öffentlichen Unterstützung für die Aufständischen will Moskau Kiew nun offenbar zwingen, einer Föderalisierung der Ukraine zuzustimmen. Vertreter von Noworossija würden in einer föderalisierten Ukraine die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine unmöglich machen und Russlands Einfluss auf die Ukraine sichern. Eben aus diesem Grunde hat der ukrainische Präsident Petro Poroschenko eine Föderalisierung ausgeschlossen. Er möchte das Land offenbar zu einem Front-Staat gegen Russland ausbauen.

Wladimir Putin weiß, dass sich die neue Regierung der Ukraine, was den scharfen außenpolitischen Kurs betrifft, auf Washington verlassen kann. Auf der anderen Seite weiß der russische Präsident aber auch, dass die Ukraine keine Insel ist, sondern über Gasleitungen eng mit Europa und seinen Warenexport auch eng mit Russland verbunden ist.

Der Kreml-Chef hat klargemacht, dass man den russischen Markt gegen Waren aus der Ukraine abschirmen wird, sollte sich die Ukraine der EU anschließen. Russland müsse sich vor Waren aus der EU schützen, die über die Ukraine nach Russland gelangen. Gegen Lebensmittel aus der EU hat Russland ein Embargo verhängt.