"Die Berichterstattung unterscheidet sich kaum von den Statements der Politik"

Friedensforscher Lutz Schrader über den Journalismus in Zeiten geopolitischer Konflikte

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"Man hat als Mediennutzer das Gefühl, sich seit Monaten in einer Art Endlosschleife zu befinden. Dieselben Argumente werden ständig wiederholt. Es scheint immer weniger Journalisten zu geben, die es für notwendig erachten, gründlich zu recherchieren und sich eine eigene und vor allem unabhängige und kritische Meinung zu bilden." Das sagt der Friedens- und Konfliktforscher Lutz Schrader im Interview mit Telepolis und verdeutlicht: Der Journalismus, wie er dieser Tage im Hinblick auf die Krisen in der Ukraine oder in Syrien zu beobachten ist, ist in vielerlei Hinsicht mit Unzulänglichkeiten behaftet.

Schrader, der bereits an anderer Stelle dargelegt hat, wie notwendig ein "konfliktsensitiver Journalismus" ist, kritisiert, dass Journalisten bei der Berichterstattung über Krisen und Konflikte zu selten die eigenen Interessen und Vorurteile reflektieren und über die Problemzonen dieser Welt häufig zu eindimensional berichten. Schrader sagt, man müsse als Journalist nicht gleich zum Friedenskämpfer werden, aber: Alleine schon aus Eigeninteresse sollten "die selbstverständlichen Grundlagen und Standards des journalistischen Handwerks" Anwendung finden, meint Schrader.

"Trotz unseres Anliegens, Bildmaterial sorgfältig zu verwenden, ist uns ein Fehler unterlaufen. Wir bitten, das zu entschuldigen", teilte der Westdeutsche Rundfunk am vergangenen Sonntag per Twitter mit, wie Matthias Meisner vom Tagesspiegel berichtete. Hintergrund: Als die Nachrichten hochkochten, Russland würde in die Ukraine einmarschieren, veröffentlichte WDR5 ein Foto, das zahlreiche Panzer zeigte, die sich ihren Weg durch eine wüstenartige Landschaft bahnten. Die Überschrift des Artikels lautete: "Russland auf dem Vormarsch?"

Doch wie der Tagesspiegel nun berichtet, haben Blogger schnell herausgefunden: Das Bild, das die verantwortliche Redaktion von WDR5 auf der Internetseite des Senders veröffentlichte, stammte offenbar von einem russischen Manöver aus dem Kaukasus aus dem Jahr 2009. Konfliktsensitiver Journalismus sieht sicherlich anders aus.

Herr Schrader, Sie setzen sich seit vielen Jahren als Friedensforscher mit Konflikten und Kriegen auseinander. Wenn Sie sich die gegenwärtige "Problemzonen" betrachten, also Syrien, Irak, die Krise in der Ukraine, was sind Ihre Gedanken?

Lutz Schrader: Mein erster Gedanke gilt dem Versagen der Politik Deutschlands und des Westens. Wenn wir auf die vielen Krisen und Kriege in der Welt schauen, entsteht der Eindruck, als würden die Probleme und Herausforderungen ständig größer werden, ja Überhand nehmen. Aber ich glaube, wir haben einfach nicht mehr die erforderlichen Konzepte und den fachlichen Sachverstand bei Politikern, Beratern und Wissenschaftlern, um angemessen mit den aktuellen außen- und weltpolitischen Herausforderungen umgehen zu können. Darum bleiben die ersten Anzeichen von Krisen lange unentdeckt. Wegen verspäteter und unangemessener politischer Reaktionen schaukeln sich Krisen und Konflikte dann schnell hoch und eskalieren zu militärischen Auseinandersetzungen.

In einem Beitrag für die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) setzen Sie sich auch mit der Rolle der Medien im Hinblick auf Konflikte, Krisenherde und Kriege auseinander. Wie bewerten Sie die Berichterstattung, wie wir Sie derzeit erleben?

Lutz Schrader: Natürlich gibt es auch eine anspruchsvolle Berichterstattung - vor allem in den überregionalen und Wochenzeitungen und auf den hinteren Seiten, also im Feuilleton und in Hintergrundberichten. Aber insgesamt ist das Niveau der Medienberichterstattung zu den genannten Krisen erschreckend dürftig. Man hat als Mediennutzer das Gefühl, sich seit Monaten in einer Art Endlosschleife zu befinden. Dieselben Argumente werden ständig wiederholt. Es scheint immer weniger Journalisten zu geben, die es für notwendig erachten, gründlich zu recherchieren und sich eine eigene und vor allem unabhängige und kritische Meinung zu bilden.

Die Berichterstattung unterscheidet sich kaum von den Statements der Politik. Beispiel Nahost: Da wurde im Laufe des Sommers schnell "vergessen", was eigentlich der Auslöser der gegenwärtigen Krise um den Gaza-Streifen gewesen ist. Erinnern wir uns: Die israelische Regierung nutzte die Ermordung der drei Talmud-Schüler Mitte Juni als Vorwand, um die Hamas zu schwächen und womöglich zu zerschlagen. Der Hintergrund? Tel Aviv will mit allen Mitteln eine gemeinsame Regierung von Fatah und Hamas verhindern. Schon bei deren Vereidigung Anfang Juni fehlten drei Minister. Die israelische Armee hatte ihnen die Einreise vom Gazastreifen ins Westjordanland verwehrt. Doch anstatt die Ursachen für die Krise klar herauszustellen und auf eine konstruktive Bearbeitung zu drängen, verengt sich die Berichterstattung zu einem nur wenig variierten Mantra: Die uneinsichtigen Hamas-Extremisten beschießen wehrlose Israelis.

In ihrem Beitrag für die bpb sprechen Sie davon, dass Qualitätsjournalismus gleich Friedensjournalismus ist. Was genau meinen Sie damit?

Lutz Schrader: Ich bin davon überzeugt, dass sich guter Journalismus schon allein aus purem Eigeninteresse für die Erhaltung derjenigen Grundlagen einsetzen sollte, die Qualitätsjournalismus erst möglich machen: Frieden, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit. Ein Journalist muss aber deshalb nicht gleich zum "Friedenskämpfer" werden. Es reicht völlig aus, die selbstverständlichen Grundlagen und Standards des journalistischen Handwerks hochzuhalten. Dazu gehört u.a., die eigenen Interessen und Vorurteile zu reflektieren, auf Leerstellen, Verzerrungen und Lügen in politischen Verlautbarungen aufmerksam zu machen, Macht- und Gewinninteressen sowie Verantwortlichkeiten offenzulegen, Minderheitenpositionen und Opfer auf allen Seiten zu Wort kommen zu lassen und nicht zuletzt die wirtschaftlichen und menschlichen Folgen von Gewalt mit aller Deutlichkeit zu benennen.

Lähmende Verquickung von Politik, Medien, Wissenschaft und Wirtschaft

Können Sie die Schwachstellen in der aktuellen Berichterstattung, die Sie ausmachen, für uns skizzieren?

Lutz Schrader: Vor ein paar Tagen habe ich einen ziemlich entmutigten Timo Vogt im Radio gehört. Er war als freier Fotograf auf eigene Rechnung im Nordwesten Syriens unterwegs. Er hat dort Fotos von den Menschen gemacht, die nach entbehrungsreicher Flucht wieder in ihre Dörfer zurückkehren und unter schwierigsten Bedingungen versuchen, ihr Überleben zu organisieren.

Und?

Lutz Schrader: Zurück in Deutschland muss er nun feststellen, dass kaum eine Zeitung an den Fotos zu diesem Thema interessiert ist. Gefragt sind Bilder von martialisch aufmarschierenden IS-Milizen und ihren Gräueltaten. Dass die deutschen und westlichen Medien damit den Job der Terrormilizen vollenden, indem sie den Schrecken in Wort und Bild in die Wohnzimmer der Deutschen tragen, scheint dabei keinen zu stören.

Man könnte nun hoffen, dass wenigstens die Recherche und Analyse über die Organisation "Islamischer Staat", ihre Ursprünge, ihre Führungsleute und -strukturen und ihre Geldgeber "auf der Höhe der Zeit" sind. Aber das ist mehr als dürftig. Die Entwicklung wurde nicht nur von der Politik, sondern auch von den Medien gründlich verschlafen. Dabei war - spätestens seit der US-Invasion in Afghanistan und Irak - für jeden einigermaßen aufmerksamen Beobachter der Entwicklungen im Mittleren Osten absehbar, dass die verfehlte Politik des Westens dem radikalen Islamismus massiven Zulauf bescheren würde.

In Afghanistan wandten sich die Menschen - vom brutalen Vorgehen des amerikanischen Militärs, von korrupten Eliten und ineffizienter Entwicklungspolitik frustriert - wieder den Taliban zu. Im Irak hat die US-Besatzungszeit zur Entmachtung der Sunniten und einer massiven Ethnisierung der politischen Auseinandersetzungen geführt. Viele Sunniten sehen in der IS nun einen willkommenen Verbündeten gegen die schiitisch dominierte Führung in Bagdad.

Auf diese Entwicklung hätten die Medien aufmerksam machen müssen. Nun scheint wieder nur noch eines "zu helfen": Bombardements, Waffenlieferungen und Krieg.

Was meinen Sie, was sind die Gründe für die Schwächen in der derzeitigen Berichterstattung?

Lutz Schrader: Die außen- und sicherheitspolitische Ausbildung von Journalisten entspricht nach meiner Kenntnis nicht den Anforderungen. Während des Studiums erfahren Studierende kaum etwas über Friedens- und Konfliktforschung und Friedensjournalismus. Es gibt allerdings erfreuliche Ausnahmen, wie z.B. am Institut für Journalistik der TU Dortmund.

Ein weiterer Grund ist diese lähmende Verquickung von Politik, Medien, Wissenschaft und Wirtschaft. Es fehlt offenkundig eine produktive Streitkultur. Kaum jemand wagt noch eine kritische Positionierung. Das Ergebnis ist ein journalistischer Mainstream, aus dem es kaum noch ein Entrinnen zu geben scheint. Woher sollen unter diesen Umständen die wirklich interessanten Fragen und Antworten kommen? Wie soll sich da ein öffentlicher Diskurs über die zentralen Fragen der Innen- und Außenpolitik formieren, auf den ein demokratisches Gemeinwesen existenziell angewiesen ist. Wo sind die markanten, streitbaren Köpfe, die den deutschen Journalismus der vergangenen Jahrzehnte so reich und unverwechselbar gemacht haben?

Es fehlt an analytischem Tiefgang und Selbstreflexion

Um nochmal an die Frage zuvor anzuknüpfen: Wenn man sich die Kommentare in den Foren der großen Medien zu Artikeln anschaut, in denen über die aktuellen Krisen berichtet wird oder in denen die Konflikte kommentiert und analysiert werden, kommt oft zum Ausdruck, dass die Analysen zu eindimensional und die Kommentierungen zu oberflächlich sind. Warum tut sich der Journalismus dieser Tage so schwer, auch die tiefenstrukturellen Machtverhältnisse, die ohne Zweifel hinter jeder Krise auch wirken, freizulegen und den Lesern aufzuzeigen?

Lutz Schrader: Tatsächlich gebricht es an analytischem Tiefgang und Selbstreflexion. Ein Beispiel: Der Westen geht nach wie vor - sehr undifferenziert und selbstgewiss - davon aus, dass alle anderen Länder und Regionen ihm früher oder später auf dem Weg in Richtung liberale Marktwirtschaft und Demokratie folgen werden. Für diese globale Expansion braucht es eigentlich kein Militär. Das erledigen seine wirtschaftliche Leistungskraft und die Attraktivität der glitzernden Warenwelt. Ein Beispiel dafür ist der Zusammenbruch des realen Sozialismus, der in der Osterweiterung der Europäischen Union mündete.

Wenn Mächte, wie Russland, sich nicht der westlichen Übermacht und dem Sog seines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems fügen wollen und irgendwann "Stopp!" rufen, reiben sich die westlichen Politiker und Medienleute erstaunt die Augen und wittern sofort eine antiwestliche Ranküne. Das eigentliche Problem ist indes, dass westliche Medien, aber auch Experten und Geheimdienste, diese Reaktion Moskaus nicht vorhergesehen haben. Doch dafür wäre eine grundsätzlich andere Berichterstattung nötig gewesen. Anstatt unablässig westliche Vorurteile gegenüber Russland zu bestätigen, sollten sich die hiesigen Medien darum bemühen, das riesige und in sich sehr widersprüchliche Land - auch seine Träume und Ängste - zu verstehen und den Deutschen und Westeuropäern näher zu bringen.

Dann hätten wir möglicherweise erahnen können, dass früher oder später eine Konfrontation zwischen zwei schwer vereinbaren Modi politischer Organisation droht - zwischen globalisiertem Liberalismus und imperialem Staatskapitalismus. Um diese strukturelle Unvereinbarkeit einzuhegen, sind außenpolitische Expertise und Klugheit gefragt. Wie das gehen kann, hat uns das Ende des Ost-West-Konflikts gelehrt: Man muss miteinander sprechen, geeignete Institutionen schaffen, Vertrauensbildung betreiben und nach geeigneten Wegen der gegenseitigen Annäherung und Zusammenarbeit suchen. Ansonsten kommt es früher oder später zur Machtprobe.

Wie bewerten Sie die Rolle, die das Internet und besser: die dort vorhandenen "alternativen Formate", also Blogs etc., einnehmen, wenn es um ein kritische Betrachtungen vorliegender Konflikte geht?

Lutz Schrader: Ich bin bei meinen Recherchen viel im Netz unterwegs, aber selten systematisch. Ab und an treffe ich auf interessante und gute Plattformen. Eine neue Entdeckung ist z.B. www.balkansineurope.org. Der Blog der Uni Graz versammelt die Stimmen junger kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu den Risiken und Chancen der EU-Erweiterung gegenüber den Ländern des westlichen Balkan.

Ich würde mir noch mehr osmotische Beziehungen zwischen Qualitätszeitungen und guten Internet-Ressourcen wünschen: Qualitätszeitungen verweisen auf gute Quellen im Netz und erleichtern so den Zugang zu zusätzlichen Informationen. Und sie geben mit ihren Artikeln und Kommentaren Orientierung, um den Nutzern die Orientierung in den unübersichtlichen Gefilden des Internet zu erleichtern.

Von den russischen Eliten wird die Kontrolle von Territorium deutlich höher bewertet als wirtschaftliche Leistungskraft

Noch ein Wort zu den Krisen in Syrien und der Ukraine. Im Hinblick auf den Begriff "Geostrategie": Wie betrachten Sie die Situation in Syrien?

Lutz Schrader: Ja, im Zusammenhang mit beiden Krisen ist von einer Renaissance der Geopolitik die Rede. In Wahrheit war diese verhängnisvolle Denkrichtung in Russland, China, in den USA und anderswo nie ausgestorben. Man denke an Zbigniew Brzezinski "Die einzige Weltmacht". Deutschland hat aufgrund seiner Geschichte verständliche Berührungsängste.

Die Gefahr dieser außenpolitischen Theorie, von deren anspruchsvoller Variante zugegebenermaßen manche Faszination ausgeht, besteht darin, dass sie Holzköpfe und Haudrauf-Strategen magisch anzuziehen scheint. Die Welt wird zu einem Sandkasten und das Leben von Soldaten und Zivilisten zu einer quantité negligeable. Was das bedeutet, wird gerade von den politischen Führungen in Moskau und Kiew sowie in Damaskus, Ankara, Rabat und Katar vorgeführt - mit allen grausamen Folgen.

Und die Krise in der Ukraine? Welche geostrategischen Interessen sind dort auszumachen

Lutz Schrader: In der Ukraine-Krise zeigt sich, dass das imperiale Selbstverständnis der russischen Eliten viel älter ist als die Sowjetunion. Die Kontrolle von Territorium wird deutlich höher bewertet als wirtschaftliche Leistungskraft. Die Idee des Imperiums bleibt eine zentrale Referenz für die russische politische Identität.

Den Rückfall in alte Muster hätte durch eine kluge westliche Politik verhindert oder doch zumindest abgeschwächt werden können. Doch das Gegenteil ist passiert. Die ignorante und demütigende Politik des Westens hat nach 1989 die Phantomschmerzen Russlands ob des Verlustes des Imperiums eher noch verschlimmert. Das hat die Neigung der russischen Eliten zusätzlich verstärkt, sich vom Westen abzuwenden und ihr Heil in einem antiwestlichen und antiliberalen Kurs zu suchen. Darin sieht man in Moskau übrigens auch eine Chance, das Land im Innern zusammenzuhalten. Bismarck lässt grüßen. Nur wird hier keine kleinrussische, sondern eine großrussische "Lösung" anvisiert.

Doch ist die russische Politik keine durch Raum und Geschichte determinierte Konstante! Dieses Argument, das heute wieder von sogenannten Sicherheitsexperten und Russlandkennern vertreten wird, ist nicht nur analytisch dürftig, sondern im Hinblick auf seine politischen und strategischen Implikationen kreuzgefährlich! Es führt geradewegs in eine militärische Konfrontation.

Nationalismus ist ein schlechter Ratgeber

Aber das ist nur die eine Seite. Wir wissen, dass Washington 5 Milliarden für eine "demokratische" Ukraine investiert hat, wir wissen, dass der Direktor der CIA in der Ukraine war, wir wissen, dass die Ukraine auch für den Westen eine geostrategische Bedeutung hat.

Lutz Schrader: Klar haben der Westen und die NATO ein Interesse an einer berechenbaren und stabilen "Ostflanke". Das gilt insbesondere für die mittelosteuropäischen Mitgliedsländer, wie Polen, die Slowakei und Rumänien. Die USA haben dagegen vor allem ein Interesse daran, glaubwürdig gegenüber ihren Verbündeten zu bleiben. Dazu gehört die Einhaltung ihrer Bündnisverpflichtungen. Wichtig ist ebenfalls die Unterstützung von Ländern, die sich den USA und dem Westen zuwenden.

Die westliche liberale Expansion funktioniert nur, wenn die Bevölkerungen und Eliten, die sich auf die Seite des Westens schlagen, dafür auch etwas Mess- und Vorzeigbares bekommen. Nicht zuletzt geht es den USA um die Aufrechterhaltung ihrer Glaubwürdigkeit als weltpolitische Ordnungsmacht - auch und gerade gegenüber aufstrebenden Mächten, wie Russland und China. Diesbezüglich setzt Obama bekanntlich mehr auf weiche Faktoren und verdeckte Aktionen.

Aber all diese Erwägungen lassen sich nicht gegen die langfristigen und substanziellen Interessen aufwiegen, die die westeuropäischen Staaten an einer engen wirtschaftlichen und strategischen Kooperation mit Russland haben. Doch haben sich diese Perspektiven in Folge der der Ukraine-Krise massiv verschlechtert.

Was für einen Ausweg kann es aus der Krise mit Russland geben?

Lutz Schrader: Zeitgemäß wäre die Bekräftigung des Glaubens in die Gestaltungsfähigkeit kluger Politik. Westliche Medien und westliche Politik können konstruktiv auf die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung in Moskau (und Kiew) Einfluss nehmen. Nicht die Stärkung der NATO in Osteuropa ist gefragt, sondern die Suche nach einem tragfähigen modus vivendi zwischen Russland und dem Westen, der den langfristigen wirtschaftlichen und (geo-)politischen Interessen der europäischen Staaten - im Westen und im Osten - mehr entspricht als ein sinnloses, gefährliches und ressourcenzehrendes Kräftemessen.

Das klingt vernünftig, aber: Was, wenn genau diese Form der Politik gar nicht gewollt ist, wenn sogar bewusst von politischen Hardlinern auf eine Eskalation hinaus gearbeitet wird? Zumindest könnte man diesen Eindruck bekommen, wenn man die Entwicklungen der vergangenen Monate, aber auch der vergangenen Jahre betrachtet, oder?

Lutz Schrader: Sicherlich gibt es immer Leute, die solche Krisen nutzen, um ihr eigenes Süppchen zu kochen. Sie wollen Wahlen gewinnen, den politischen Gegner eins reinwürgen, an Rüstungsaufträgen verdienen oder vielleicht auch ihr Standing als Vorsitzender einer internationalen Organisation, wie der NATO, verbessern. Aber ich sehe keine ernst zu nehmenden Kräfte im Westen, die es tatsächlich auf eine massive Eskalation und vielleicht sogar auf einen Krieg mit Russland anlegen. Anders sieht es in Russland und der Ukraine aus. Nationalismus ist ein schlechter Ratgeber, und diejenigen, die ihn schüren, riskieren, früher oder später die Kontrolle über die Geister zu verlieren, die sie selbst gerufen haben…