Waffenstillstand hält, aber es gibt beunruhigende Meldungen

Nato und die EU haben Poroschenko nicht unterstützt, Russland zieht derzeit die Fäden, wie eine friedliche Lösung aussehen könnte, steht noch in den Sternen

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Der in der Trilateralen Kontaktgruppe vereinbarte Waffenstillstand hat immerhin mehr als einen Tag gehalten. Zwar werfen sich Separatisten und ukrainische Streitkräfte gegenseitig vor, diesen durch Angriffe verletzt zu haben, aber das war zu Beginn zu erwarten. Die auf beiden Seiten gebildeten Milizen und ihre Anführer werden schwer zu kontrollieren sein, zumal die Vereinbarung vorsieht, dass die Milizen sich auflösen müssen, wozu auch die auf der ukrainischen Seite zählen. Der Rechte Sektor nimmt sich etwa das Recht heraus "zurückzuschießen" und setzt weiterhin auf Gewinn. Gestern zeigten sich Putin und Poroschenko nach einem Telefongespräch zufrieden, dass der Waffenstillstand weitgehend eingehalten wurde.

In den Neurussland-News feiert man weiterhin die Vernichtung des Gegners.

Poroschenko hatte auch klar gemacht, dass die ukrainischen Streitkräfte ihre Positionen nicht verlassen werden. Eine Bedingung soll der Rückzug der bewaffneten Kräfte aus der Nähe von Wohngebieten sein. Bewegung scheint es vor allem beim Austausch der Gefangenen zu geben. Gestern sollten bereits die gefangenen ukrainischen Soldaten freigelassen werden, am Montag die gefangenen Separatisten. Ansonsten verharren die bewaffneten Kräfte erst einmal an ihren Standorten, um das bislang kontrollierte Gebiet zu sichern. Die Kämpfe könnten schließlich jeden Augenblick wieder losgehen, und die schwierigen Fragen müssen erst noch gelöst werden. Dazu soll bis Montag eine gemeinsame Gruppe gebildet werden.

Es wird alles darauf ankommen, welche Versprechungen Moskau, Kiew und die Separatisten gemacht haben, die sich aus den besetzten Gebäuden zurückziehen sollen, und wie die Machtübergabe von statten gehen soll. Dass die Einzelheiten des am Freitag in Minsk unterzeichneten Protokolls noch nicht veröffentlicht wurden, mag skeptisch stimmen. Es gibt aber allen Seiten noch die Möglichkeit, das Gesicht zu wahren und bis zum endgültigen Abkommen weiter zu verhandeln.

Poroschenko, der in einem schwierigen Balanceakt versucht, weiterhin die auch militärische Unterstützung des Westens durch Beschwörung der von Russland ausgehenden Gefahr zu bewahren, und gleichzeitig auf Russland zuzugehen, hat wohl den mutigsten Schritt gemacht. Der schwerreiche Oligarch hatte es sich getraut, schon kurz nach seiner Wahl zum Präsidenten einen Friedensplan und einen einseitigen Waffenstillstand zu verkünden, wodurch er schwer unter Beschuss der Nationalisten und wahrscheinlich auch Teilen des Westens gekommen ist. Nachdem er den Waffenstillstand abgebrochen hatte, hoffte er auf einen schnellen Sieg, der sich aber trotz immer weiterer Freiwilligen-Bataillone nicht einstellte. Zwar konnten die ukrainischen Sicherheitskräfte große Gebiete wieder einnehmen, aber die Großstädte Lugansk und Donezk sowie große Teile der Grenze blieben unter der Kontrolle der Separatisten. Auch der weiterhin unaufgeklärte Absturz bzw. Abschuss der Passagiermaschine MH17, der den Separatisten oder Russen angelastet wurde, konnte das Blatt nicht wenden. Die Verluste wurden immer höher, die Separatisten konnten wieder Geländegewinne erzielen und fast bis in die wichtige Hafenstadt Mariupol vorrücken.

Möglicherweise also war der mit Russland ausgehandelte Waffenstillstand das Eingeständnis einer Niederlage, wie viele in Kiew vor allem aus der Maidan-Bewegung glauben. Erfüllt wurde damit die lange schon von Moskau erhobene Forderung nach einer Einstellung der Kämpfe, die aber die Separatisten mit an den Verhandlungstisch bringt und möglichweise zu einem eingefrorenen, von der OSZE überwachten Konflikt führt. Ob sich die Menschen in der Westukraine an den Waffenstillstand gebunden sehen, ob sie zu einer irgendwie gearteten Aussöhnung mit den Separatisten und auch mit Russland bereit sind, wird man sehen müssen.

Während Russland Zeit hat, auch wenn die Sanktionen drücken, musste Poroschenko schnell eine Lösung finden, die Integrität der Ukraine zu erhalten und den Separatisten - und damit auch Russland - Zugeständnisse zu machen, die nicht nur eine größere Eigenständigkeit der Region beinhalten, sondern wohl auch eine Beteiligung an der Macht. Schließlich sollen schon am 26. Oktober Parlamentswahlen durchgeführt werden, um endlich die Regierung wirklich zu legalisieren. Dürfen sich auch die ehemaligen "Terroristen" zu der Wahl aufstellen lassen? Welche Kiew-kritischen Parteien werden zugelassen, nachdem Separatismus verboten wurde und die Absicht besteht, die Kommunistische Partei zu verbieten? Wie Wahlen in der Ostukraine so schnell korrekt durchgeführt werden können, wie man die vielen Geflüchteten beteiligen kann, ob die Bürger auch über bundesstaatliche Lösungen oder gar über den Verbleib in der Ukraine in einem Volksentscheid abstimmen dürfen, alles Probleme, die eigentlich mehr Zeit zur Lösung benötigen würden.

Trotz des Beschlusses von oben, laufen die eingefahrenen Wege erst einmal weiter. Russland hat sich nicht dazu geäußert, die Unterstützung der Separatisten einstellen zu wollen, weil Moskau stets abgestritten hat, eine solche geleistet zu haben. Das ist zwar ziemlich durchsichtig, aber letztlich würde mit der Umsetzung des Waffenstillstands die ukrainisch-russische Grenze gemeinsam und mit OSZE-Beobachtern kontrolliert werden. Das müsste den Fluss von Waffen und Kämpfern dann eigentlich eindämmen.

Dass die Nato ausgerechnet am Tag, als der Waffenstillstand in Minsk beschlossen wurde, ihrerseits dennoch beschlossen hat, Russland zum Gegner zu erklären, eine schnelle Eingreiftruppe aufzubauen und die militärische Präsenz an der russischen Grenze zu erhöhen, und die USA die militärische Hilfe und Zusammenarbeit mit Kiew verstärkte, zeugt davon, dass es der Nato und der USA nicht um die Ukraine geht, sondern um das Verfolgen eigener Ziele. Zwar ist nicht abzusehen, ob der Waffenstillstand hält, aber man hätte, wäre man interessiert an einer friedlichen Lösung des Kriegs in der Ukraine, den Ton schon einmal herunterdrehen können, was im Übrigen Poroschenko auch innenpolitisch unterstützen würde. Und die EU hat trotz der Wende in der Ukraine neue Sanktionsmaßnahmen angedroht, was Moskau flugs so deutete, dass damit in der Ukraine die "Partei des Kriegs" unterstützt werde. Man wird sehen, ob die Regierungschefs am Montag diese beschließen werden oder sie doch erst einmal aussetzen - als Geste zur Deeskalation, die man bislang nur immer von Russland einforderte. Aber dies könnte schwierig sein, im Augenblick scheint Moskau die Fäden zu ziehen.

Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (ICRC) erklärte am Freitag, dass der Waffenstillstand es ermöglichen sollte, die lange benötigte Hilfe in die Ostukraine zu bringen. Gestern kam die beunruhigende Meldung, dass am Samstag LKWs mit Hilfsgütern Richtung Lugansk losgefahren seien, aber sie wegen Beschusses wieder umkehren mussten. Zuletzt erklärte der ICRC, dass dringend Hilfe in der Ostukraine benötigt werden. Es müsse ermöglicht werden, diese so schnell als möglich sicher zu liefern. An wen der Appell sich richtet, ist allerdings nicht klar.

Und der Guardian-Journlaist Schaun Walker berichtet aus Mariupol: "Hmm so there are some pretty loud booms audible in central Mariupol... Ceasefire seeming a little less stable." Und von der "Volksrepublik" wird behauptet, man stehe vor der Einnahme von Mariupol. Mit dem Waffenstillstand könnte es also schnell wieder zu Ende sein.