Großbritannien: Große Klassenunterschiede im Lesen

Besonders "weiße Jungen" aus ärmlichen Verhältnissen, deren erste Sprache Englisch ist, schneiden beim Vergleich der Lesefähigkeiten von Elfjährigen schlecht ab

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Beinahe jedes zweite Kind in Großbritannien, das in einer einkommensschwachen Familie aufwächst, in Prozentanteilen 45 %, kann nicht gut ("not well") lesen. 40 Prozent der "ärmeren Kinder" schaffen beim Lesen den Test-Standard "proficient" nicht, also ein ungefähr doppelt so großer Anteil wie derjenige, der unter den Kindern aus besseren ökonomischen Verhältnissen zu finden ist. Was die Kluft in der Lesekompetenz zwischen den Ärmeren und Bessergestellten anbelangt, so rangiere Großbritannien im EU-Vergleich weit weit unten. Nur Rumänien sei schlechter.

Das wäre an sich schon eine Nachricht, die aufhorchen lässt. Anscheinend haben aber die Organisatoren einer von unterschiedlichsten Sponsoren getragenen Initiative angesichts der großen politischen Probleme, die derzeit die Medienaufmerksamkeit beschäftigen, das Gefühl, man müsse dies mit einer sensationellen Zahlen noch toppen.

Was dann zu Überschriften führt wie "Die Lesekompetenz-Krise wird 2025 zu 1,5 Millionen Elfjährigen führen, die nicht richtig lesen können" wie im Independent oder "Leseinkompetenz könnte Großbritannien bis zum Jahr 2025 32 Milliarden Pfund an Wachstum kosten", wie dies im Guardian zu lesen ist.

Bei der Zahl, die das Wirtschaftswachstum und die etwaige Kosten durch den leseschwachen Nachwuchs hochrechnet, ist es müßig darauf hinzuweisen, wie schnell solche Schätzungen durch andere Faktoren ihren Boden verlieren. Und die 1,5 Millionen leseschwachen Elfjährigen stellen sich als Summe der Elfjährigen mit ungenügenden Lesekompentenzen von 2013 bis 2025 heraus.

So sind die aufmerksamkeitserregenden "Big Numbers" irreführend und sie tun der Sache keinen Gefallen. Zumal manches Engagement in der guten Sache, nämlich den Kindern aus ärmeren Verhältnissen zu helfen, ganz eng mit PR-Kampagnen verhakt sind, bei denen das eigene Image-Interesse ziemlich deutlich hervortritt. Wenn etwa als Ziel ausgegeben wird, dass Elfjährige Harry Potter lesen sollten und just der Verlag, der Harry Potter herausgibt, Harper Collins zu den Trägern der Intiative gehört.

Das macht die Intitiative, die die Lesekompetenz fördern will, nicht zu einer schlechteren, doch drängt das PR-Spektakel zur Kampagne "Read on, Get on", an dem sich auch die erste britische Fußballliga beteiligt, manches in den Hintergrund, etwa eine genauere Analyse der Studie der Newcastle University, die als Grundlage für die Lese-Kluft herangezogen wird. Auf ihre Ergebnisse bezieht sich die Kampagne hauptsächlich.

So werden im Untersuchungssteil des 54seitigen Berichts zur Kampagne drei Untersuchungsergebnisse präsentiert, die darauf hinauslaufen, dass vor allem die weißen britischen Jungen schlecht abschneiden. Die eingangs genannten 45 % der Elfjährigen, die nicht gut lesen, stellen sich in der Leseinitiative-Broschüre als "low-income white British boys" heraus.

Dem wird noch hinzugefügt, dass diese noch schlechter abschneiden, wenn man als Kriterium "Englisch als Erstsprache" hinzunimmt. Dann verringere sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie mit elf Jahren gut lesen können, noch mehr im Vergleich zu Gruppen mit schlechterem Einkommen, die eine andere Sprache als Englisch als Erstsprache haben.

Der Unterschied in der Lesekompetenz gegenüber gleichaltrigen Mädchen sei in England "einer der größten in der entwickelten Welt". Die Jungen würden gegenüber Mädchen mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit schlechte Lesefähigkeiten an den Tag legen.