EU dreht weiter an der Sanktionsschraube gegen Russland

Die neuen Maßnahmen sollen aber erst "in den nächsten Tagen" in Kraft treten, weil es Streit gibt, harte Gegenmaßnahmen gefürchtet werden und der Waffenstillstand noch hält

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In Brüssel wurden nach längerem hin und her am Montag zwar neue Sanktionen gegen Russland beschlossen, doch angesichts neuer Vorgänge traut man sich bisher nicht an die Umsetzung heran. Die EU ist zerstritten und es wird zunehmend Kritik laut. Das hat mit verschiedenen Faktoren zu tun. Die Behauptungen, allen voran die, dass Russland in einen Abschuss der MH17 verwickelt ist, werden durch bisherige Untersuchungen nicht bestätigt. Dazu wächst die Angst vor einer sich verselbständigen Sanktionsschraube. Zudem halten die Konfliktparteien in der Ostukraine eine Waffenruhe weitgehend ein und ergreifen Maßnahmen zur Deeskalation, während Sanktionen weiter eskalieren würden.

Ein Teil der EU-Länder hat mit massivem Druck neue Sanktionen gegen Russland durchgesetzt, was mit einer "zunehmend dramatischen Lage" in der Ostukraine gerechtfertigt wurde. Dabei sieht die reale Entwicklung in der Region ganz anders aus. Dort wird die in Minsk vereinbarte Waffenruhe noch weitgehend eingehalten, Verhandlungen über einen Friedensplan sollen beginnen. Deshalb hat man nun in Brüssel zunächst einen Mittelweg gewählt.

Anders als die Nato, die ausgerechnet an dem Tag Russland wieder zum Gegner erklärt hat, als der Waffenstillstand in Minsk beschlossen wurde, will die EU offenbar nicht ganz so offen zeigen, dass es ihr weniger um die Ukraine geht, sondern sie eigene strategische Ziele verfolgt. Wobei das eigentlich längst klar ist. Dazu muss man nur analysieren, wie bisweilen Separatisten wie im Kosovo unterstützt werden, während man in der Ukraine mit allen Mitteln die Einheit des Landes wahren will (Heuchelei zu Krim-Unabhängigkeitsbestrebungen) Im Fall des Iraks liefert nun sogar Deutschland nun Waffen an die Kurden, die klar und deutlich einen eigenen Staat fordern (Deutsche Waffen für Terroristen?).

Die neue Lage ließ es nun aber nicht zu, dass die Sanktionen am Montagnachmittag beschlossen und veröffentlicht werden konnten. Dazu sollte aus den Hauptstädten nur noch die finale Zustimmung kommen. Drei Tage lang hatten die EU-Botschafter in der vergangenen Woche über Details diskutiert, bis das Paket am Freitagabend stand und eigentlich schon in Kraft treten sollte. Doch das war zunächst auf Montag verschoben worden. In einigen Ländern wurde das von EU-Botschaftern geschnürte Paket aber dann doch nicht einfach abgenickt, wie man sich das in Brüssel erhofft hatte.

Deshalb mussten am Montag erneut die EU-Botschafter zu einer Sondersitzung zusammenkommen, was nicht geplant war. Das ist aber auch aus einem weiteren Grund aussagekräftig. Obwohl die Sommerpause nun vorbei ist, haben auch über die Ausweitung von Sanktionen gegen Russland nicht die Regierungschefs entschieden, sondern erneut wurden sie von unbekannten Botschaftern in Hinterzimmern beschlossen. Schon im Juli hatten nur die EU-Botschafter entschieden, erstmals seit dem Kalten Krieg wieder Sanktionen gegen Russland zu verhängen (Sanktionen gegen Russland werden verhängt), bisher ein strategischer Partner.

Dieses Mal sollen die Sanktionen erst "in ein paar Tagen" in Kraft treten, teilte EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy wachsweich in Brüssel mit. Das hört sich zunächst so an, als führe daran gar kein Weg mehr vorbei. Doch weit gefehlt. Denn der EU-Ratspräsident schränkte seine Aussage noch deutlich weiter ein. Man sei sogar dazu bereit, "die vereinbarten Sanktionen ganz oder teilweise noch einmal zu überdenken". Man habe nun Zeit "für eine Beurteilung der Umsetzung der Waffenstillstands-Vereinbarung und des Friedensplans". Somit ist nur klar, dass bisher gar keine Sanktionen definitiv beschlossen wurden. Heute sollen die EU-Botschafter erneut zu Beratungen zusammenkommen.

Ist man in Brüssel nun vorsichtiger geworden? Ist man auch deshalb vorsichtiger geworden, weil den EU-Mitgliedern am Montag längst klar war, dass sie am Dienstag eine schwere politische Schlappe einstecken müssten? Denn als am Dienstag endlich der 30-seitige Zwischenbericht zur Absturzursache der MH17 am 17. Juli über der Ostukraine vorgelegt worden ist, wurde eigentlich nur eines einigermaßen geklärt: Vermutlich wurde die Maschine durch eine "Vielzahl hochenergetischer Objekte" zum Absturz gebracht, die das Flugzeug von außen durchbohrt hätten. Danach soll die Boeing der Malaysia Airlines über der Ostukraine in mehrere Teile zerbrochen sein.

Von einem Raketenabschuss wird ausdrücklich nicht gesprochen und schon gar nicht von einer Boden-Luft-Rakete, die angeblich von Separatisten abgeschossen worden sein soll, wie sich US-Präsident Obama schon frühzeitig weit aus dem Fenster gelehnt hatte. Das ist die Version, die auch in der EU bisher festgeklopft wurde. Dabei sind dafür bisher keinerlei Beweise vorgelegt worden und auch in dem Bericht nicht zu finden. Doch genau auf dieser Version basiert, dass erstmals direkte Sanktionen gegen Russland verhängt wurden, das angeblich in den Abschuss verwickelt sein soll. Und nach dem Untersuchungsbericht ist eine weitere Variante möglich, dass das Flugzeug von einer Luft-Luft-Rakete abgeschossen wurde (Wurde MH17 versehentlich während einer ukrainischen Militärübung abgeschossen?). Russland hatte mitgeteilt, dass sich ukrainische Jäger kurz vor dem Absturz in der Nähe der MH17 befanden.

Unterstützung für weitere Sanktionen bröckelt

Hatte sich Russland schon bisher nicht durch das gefährliche Drehen an der Sanktionsschraube beeindrucken lassen, spitzte Moskau die Widersprüche in der EU am Montag vor der Entscheidung noch zu. Der russische Regierungschef Dmitri Medwedew kündigte gegenüber der russischen Zeitung "Wedomosti" an, man werde auf verschärfte Sanktionen mit verschärften Gegenmaßnahmen reagieren. Er brachte erneut ein Überflugverbot für westliche Fluggesellschaften ins Gespräch: "Wenn westliche Gesellschaften unseren Luftraum meiden müssen, kann das zum Bankrott vieler Fluggesellschaften führen, die schon jetzt ums Überleben kämpfen."

Doch ob es dazu kommt und ob es dabei bleibt, darf bezweifelt werden, denn Medwedew hatte mit weitreichenden asymmetrischen Gegenmaßnahmen gedroht. Die Möglichkeiten sind vielseitig und längst hatte Russland auch schon mit Sanktionen gegen Autobauer gedroht. Damit würde Deutschland diesmal durch die Gegenmaßnahmen besonders im Visier stehen. Maschinenbauer werden schon bisher von den EU-Sanktionen deutlich betroffen. Noch im vergangenen Jahr wurden mehr als 132.000 Autos aus Deutschland nach Russland geliefert. Neue Sanktionen würden Deutschland und Europa weiter belasten. Während die deutsche Wirtschaft schon im zweiten Quartal erstmals wieder geschrumpft ist, stagniert die Wirtschaft im Euroraum wieder. Beide drohen bei einer Zuspitzung des Konflikts wieder in die Rezession abzurutschen.

Hatten sich in Deutschland die Wirtschaftsverbände bisher weitgehend hinter die Sanktionspolitik gestellt, wird offenbar auch diese Front brüchig. So erklärte nun auch Dirk Ulbricht vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW): "Sanktionen gegen Russland sind grundsätzlich zum Scheitern verurteilt. Sie sind denkbar ungeeignet, um Russlands Politik in eine gewünschte Richtung zu lenken." Ulbricht meint, dass damit die Lage nur verschlimmert wurde: "Bislang haben die Sanktionen das Gegenteil bewirkt: Nämlich dass wir mittlerweile bei einer nicht offiziellen militärischen Intervention angelangt sind."

Der russische Regierungschef hat Sanktionen als "dumme Idee" bezeichnet, die eben nicht dazu beigetragen hätten, die Krise in der Ukraine zu entschärfen. Und tatsächlich kann man sagen, dass die Waffenruhe und der Friedensplan nicht wegen der Sanktionen, sondern trotz der Sanktionen zustande kamen. Auch ein dreitägiges Seemanöver der ukrainischen und amerikanischen Marine, mit denen Öl ins Feuer gegossen wurde, haben die Friedensbemühungen bisher nicht zum Scheitern gebracht.

Klar ist aber, dass über die bisherigen Sanktionen schon schwerer Schaden angerichtet wurde, der sich langfristig nicht nur negativ für die Wirtschaftsbeziehungen auswirken wird. So meinte Medwedew, die politischen Folgen der Sanktionen seinen schlimmer als irgendwelche Exportbeschränkungen, weil auch die globale Sicherheitsarchitektur geschwächt werde. "Wer als erster Sanktionen einführt, sollte sich klar darüber sein, dass er im Endeffekt auch sich selbst Probleme schafft."

Und seine Botschaft ist bei einigen EU-Ländern angekommen, die die Eskalation angesichts der Friedensbemühungen und wirtschaftlicher Einbußen offenbar nicht mehr mitgehen wollen. So hatten schon in der vergangene Woche sowohl die Slowakei, Österreich und Tschechien eine Verschärfung der Sanktionen kritisiert. Österreich sorgt sich um seine Banken, die stark in Osteuropa und in Russland engagiert sind. Tschechien und die Slowakei erwarten harte Einbußen bei einer Ausweitung der Sanktionen, weil darunter viele Güter fallen könnten, die sowohl zivil als aus militärisch benutzt werden können. Und am Montag brach der finnische Regierungschef die Schweigefront und meldete mit klaren Worten seine Bedenken an. Alexander Stubb gab offen zu, "sehr besorgt über die indirekten Auswirkungen und russische Gegensanktionen" zu sein, wenn Sanktionen verschärft werden. "Es ist unmöglich zu sagen, was dann kommt."

Finnland ist nicht nur direkter Nachbar Russlands, sondern ist von den Energielieferungen aus dem Nachbarland zu etwa 75% abhängig. Wenn die Sanktionen tatsächlich verstärkt auf den russischen Ölsektor ausgeweitet werden, könnte Russland auch die Ankündigungen wahrmachen, Energielieferungen deutlich zu verteuern. Der russische Pipelinebetreiber Transneft hatte die Ukraine schon vor einem Transitstopp gewarnt. "Wir können dann das Öl zwar über andere Länder umleiten, aber das wird teuer für die Kunden in der EU", sagte Transneft-Sprecher Igor Djomin.

Soweit bisher bekannt wurde, soll nun das Exportverbot für sensible Technologie zur Erdölförderung genauso ausgeweitet werden, wie die Beschränkungen zur Ausfuhr militärisch nutzbarer Güter. Getroffen werden sollen offenbar die Ölkonzerne Rosneft und Transneft sowie die Ölsparte des Energieriesen Gazprom. Bestehende Sanktionen in dem Bereich sollen verschärft und nun auch auf Dienstleistungen ausgeweitet werden. Die russischen Ölunternehmen könnten dann zum Beispiel in der EU auch kein Zubehör mehr in der EU mieten.

Sie sollen auch über die Verschärfungen am Finanzmarkt getroffen werden, denn die Vergabe größerer Kredite durch mehrere Banken soll nun untersagt werden. Schon bisher dürfen Wertpapiere von Banken, die überwiegend in Staatsbesitz sind, mit einer Laufzeit von mehr als 90 Tagen in der EU nicht mehr gehandelt werden. Das betrifft die Sberbank, VTB, Vnesheconombank (VEB) sowie die Landwirtschaftsbank Rosselkhozbank. Dieses Verbot soll nun bereits ab einer Laufzeit von 30 Tagen gelten. Zudem will die EU weitere aus ihrer Sicht Verantwortliche für die Destabilisierung der Ukraine mit Einreiseverboten und Kontosperren belegen. Diese Sanktionen sind tatsächlich für eine Eskalation geeignet, sollten sie tatsächlich in Kraft treten, statt die Friedensbemühungen zu stärken.

Doch inzwischen gibt es sogar positivere Signale von Bundeskanzlerin Merkel. Auch sie bezieht sich nun positiv auf den Friedensplan. Den gäbe es jetzt "glücklicherweise", sagte sie, "den auch die beiden Präsidenten - der Ukraine, Poroschenko, und Putin seitens Russlands - verantworten", fügte sie verschleiernd an. Denn weder sie noch die EU haben das Zustandekommen gefördert. Die zwölf Punkte dieses Plans müssten nun umgesetzt werden, meinte Merkel und sprach über "erhebliche Fortschritte".

Aber ein Plan allein reiche nicht. Man wolle jetzt Taten sehen, fordert sie im Interview. "Wenn er implementiert wird, kann man auch über die Aufhebung der Sanktionen sprechen", sind durchaus neue Töne von der Kanzlerin zu vernehmen. Sie ist dann offenbar nicht nur bereit, die neuen Sanktionen nicht zu verhängen, sondern auch die bisherigen wieder auszusetzen. Und das nährt die Hoffnung, dass mit den neuen Sanktionen nur eine Drohkulisse aufgebaut werden soll, die Widersprüche in der EU aber längst schon so groß sind, dass die Umsetzung vermutlich ohne eine erneute Zuspitzung nicht mehr gesichert ist.