Nur die Wirtschaft hat noch Vernunft

Wie der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft seit 8 Jahren realistisch über die Ukraine und Russland informiert

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Der Präsident des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Eckhard Cordes, hat sich öffentlich gegen die "Sanktionsspirale" mit Russland ausgesprochen - ein Grund, die Informationsbasis seines Ausschusses in Sachen Russland und Ukraine zu würdigen.

Die Abonnenten der Ukraine- und Russland-Analysen des Ausschusses erfahren bereits seit Jahren, wie es um die Ukraine wirklich steht: Löhne niedriger als in China, ausufernde Korruption, fehlende Bildung und als einziges Regierungssystem den "Autoritarismus". Prognose: vor 2040 keine EU-Reife. Warum liest das niemand in Berlin?

Während die Bertelsmann-Stiftung noch 2012 verbreitete, der ukrainische Staat werde von allen "relevanten Gruppen und Akteuren und akzeptiert," und "Die territoriale Einheit ist nicht in Gefahr" (Sind Bayern solidarischer als Ostdeutsche?), wussten die 7.000 Abonnenten der Ukraine-Analysen des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft bereits 2011 erheblich mehr.

"Die politische Unzufriedenheit ist so groß wie nie", meldete etwa Heike Dörrenbacher, die Osteuropa-Expertin der Friedrich-Naumann Stiftung in Ausgabe 94 der Länder-Analysen. Die größte Bedrohung der Freiheit in der Ukraine sah sie weder im Separatismus, noch in der benachbarten Großmacht Russland. "Der Autoritarismus", so Dörrenbacher, der in der Herrschaft einer kleinen Clique bestehe, sei die größte Bedrohung nach 20 Jahren Unabhängigkeit.

"Risikounterschätzung" internationaler Investoren

Auch Gunter Deuber, Analyst der in Osteuropa erfolgreichen österreichischen Raiffeisen International, konnte den Abonnenten von der wirtschaftlichen Entwicklung der Ukraine nichts Gutes berichten. In den Tabellen lag sie im kaufkraftbereinigten BIP sogar hinter Albanien und Bosnien auf dem letzten Platz. Deuber konstatierte daher eine "Risikounterschätzung" internationaler Investoren und sah "kaum Konvergenz in der Ukraine".

Eine besondere Relevanz der Ukraine für die Wirtschaft der EU konnte Deubner ebenfalls nicht feststellen. Lakonisch bemerkt er:

International betrachtet ist die ukrainische Volkswirtschaft klein.

Zudem sah er die Ukraine als ein gutes Beispiel dafür an, dass die These, ärmere Volkswirtschaften wüchsen schneller, nicht haltbar ist. Er prophezeite, dass die Ukraine erst 2040 einen Wohlstand von 50-60% der EU-Länder erreichen würde.

Es wäre eine interessante Frage, ob die bereits seit 2006 kostenlos verbreiteten Ukraine-Analysen des traditionsreichen Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft auch in den deutschen Parteien oder Medien gelesen werden.

Die in den deutschen Massenmedien seit dem Maidan verbreitete Auffassung, die Ukraine sei eine zu beschützende junge Demokratie auf dem Wege in EU und NATO, zu retten vor dem Diktator Putin, entspricht jedenfalls nicht dem Informationsstand internationaler Banken - oder eben des Kiewer Büros der in Auslandsanalysen äußerst erfahrenen Friedrich-Naumann-Stiftung, der Parteistiftung der FDP, die seit September 2013 nicht mehr im Bundestag sitzt.

Wirtschaftsminister des von Fachleuten kontinuierlich als desaströs beschriebenen Landes war von März bis Dezember 2012 der Milliardär, Fernsehsenderinhaber, Oligarch und heutige Feldherr Petro Poroschenko.

Wie man den Ukraine-Analysen von Dezember 2012 entnehmen kann, sank unter Wirtschaftsminister Poroschenko im 3. Quartal zum ersten Mal seit 3 Jahren wieder die Industrieproduktion des Landes, dessen Hauptexportartikel bis dato Stahl war.

Konfrontationslinie zwischen strategischer Teilung Europas und Osthandel

Im gleichen Newsletter erfahren die Abonnenten erstmals ausführlich vom Direktor des Polen-Instituts in Görlitz, Professor Dieter Bingen, eine geographische Sensation: "Die Ukraine besitzt strategische Bedeutung für Europa." Der Sprachgebrauch von "Europa" ohne seinen größten Staat, nämlich Russland, hat sich seitdem eingebürgert.

Inzwischen spricht man von "europäischen" Sanktionen gegen Russland. In völliger Ignorierung aller wirtschaftlichen Fakten schreibt Bingen:

Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass der Mangel an Demokratie von der Europäischen Union zum Vorwand genommen wird, sich aus der Ukraine zurückzuziehen und sie wie bisher - zum Schaden für Europa - weiterhin nicht als strategischen Partner zu betrachten.

Damit steht bereits Ende 2012 die Konfrontationslinie, die nun die deutsche Wirtschaft erfasst hat. Auf der einen Seite die in völligem Desinteresse für wirtschaftliche Fakten verbreitete "strategische" Teilung von Russland und Europa, auf der anderen Seite ein in Jahrzehnten mühsam entwickelter und sehr erfolgreicher Osthandel, der bereits von der sozialliberalen Koalition mit der FDP entwickelt wurde und der alle Regimewechsel in Russland weggesteckt hat.

Bingen wollte allerdings 2012 keinen Bürgerkrieg oder gar Krieg gegen Russland finanzieren, sondern den "Journalistenaustausch" sowie den "Aufbau zivilgesellschaftlicher Institutionen". Aus der Sicht von ihm und den Europa-Spaltern kann es als Erfolg des Journalistenaustausches angesehen werden, dass im Deutschland von 2014 Putin als Zivilflugzeuge abschießender Diktator erscheint, das korrupte und völlig desolate Bürgerkriegsland Ukraine, das bis heute nicht einmal ein Parlament gewählt oder eine Verfassung verabschiedet hat, als junge europäische Demokratie.

Allein: Die von klugen Analysten beratenen Mitglieder des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft haben ihre negativen Prognosen nicht durch politischen Druck aus Washington, Warschau und Kiew revidiert.

Die Sanktionen sind selbst für die Ukraine ein Desaster

In der letzten Ausgabe der Ukraine Analysen vom 24. Juni 2014 können die Abonnenten u.a. den UNHCR-Report vom Juni 2014 im Original lesen und erfahren, welcher gesetzliche Mindestlohn im EU-Assoziationsland Ukraine gilt: 108 Euro monatlich. Als Existenzminimum wird in einem Land, in dem Konsumgüter ebenso viel kosten wie in der EU, den Bürgern ein Betrag von 104 Euro monatlich zugestanden.

Die Prokuristen deutscher Unternehmen sind im Außenhandel darauf angewiesen, realistische Analysen zu erhalten, nicht ideologische Phrasen. Am 18.7.2014, kurz vor dem Putin-Titelbild des Spiegels, konnten die Abonnenten in den Russland-Analysen lesen:

Nach der Annexion der Krim erscheint die russische Regierung stärker als je. Die Unterstützung in der Bevölkerung für Putin ist drastisch in die Höhe geschossen…Seine Politik der harten Hand trifft kaum auf Widerstand.

Laut Ost-Ausschuss sanken bereits im ersten Halbjahr 2014 die deutschen Ausfuhren nach Russland um 15,5 Prozent die in die angeblich aus wirtschaftlichen Gründen zu assoziierende Ukraine gar um 32,2 Prozent.

Verkürzt: Die Sanktionen sind selbst für die Ukraine ein Desaster.

Kein Wunder, dass Eckhard Cordes, der Vorsitzendes des Ost-Ausschusses nun die Sanktionspolitik in Frage stellt. Eine "Sanktionsspirale" prophezeite er in der Frankfurter Allgemeinen:

Wir schaden uns also zunehmend selbst, ohne die erhoffte positive Wirkung zu erzielen.

Statt Wirtschaftsförderung in der Ukraine finanzieren nun EU und IWF den Bürgerkrieg und einen geplanten, 2.000 Kilometer langen Zaun an der Grenze zu Russland. Dass ausgerechnet das Schließen der Grenze zum prosperierenden Nachbarland, dessen Sprache jeder Ukrainer spricht, den Mindestlohn anheben wird, ist nicht zu erwarten. Der Durchschnittslohn liegt bereits jetzt unter dem von China.

Der durchschnittliche Bruttolohn im russischen Bergbau lag laut DIHT 2012 bei 1.131 Euro im Monat.

In der Ukraine darf man als Bergarbeiter dagegen mit einem für ukrainische Verhältnisse Spitzenlohn von 480 Euro monatlich nach Hause gehen.

Nur 26,2 Prozent der Ukrainer, aber 54 Prozent der Russen verfügen über einen Hochschulabschluss.

Es ist zu hoffen, dass die Vertreter der deutschen Wirtschaft auch weiterhin über die reale Situation in beiden Ländern informieren und sich zu Wort melden, wenn durch falsche Analysen und Prognosen jahrzehntelang aufgebaute Beziehungen gefährdet und zerstört werden.