Widerstand von oben? Nicht mit Gauck

Zunehmend wirkt es, als ließen ihn das Glück und die Last, diesem Staat an höchster Stelle zu dienen, die wichtigste Pflicht eines Bundespräsidenten vergessen

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Es gibt in Deutschland eine Institution, die angesichts einer weitgehend reformunwilligen Regierung geeignet wäre, vor dem Stillstand zu warnen und die Parteien an ihre Pflicht zum Entwickeln echter politischer Alternativen zu erinnern. Das ist der höchste Hüter des demokratischen Systems neben dem Bundesverfassungsgericht: der Bundespräsident.

Bundespräsident Joachim Gauck. Bild: ACBahn/CC-BY-SA-3.0

Es macht die politische Situation insgesamt nicht besser, dass sich Joachim Gauck in dieser Rolle bislang weitgehend als Ausfall erwiesen hat. Wo er sich als Antreiber zeigt, tut er es nicht selten in genau die Richtung, für die die erdrückende Mehrheit ohnehin schon steht.

Bevor der Rostocker Pfarrer das höchste Amt im Staate antrat, gab es bereits eine Reihe von Skeptikern. Es herrschte aber auch teilweise die Hoffnung, dass Gauck seine intellektuelle Kraft und sein unabhängiges Denkvermögen nutzen würde, um dem ihm eigenen Freiheitspathos eine angemessene Portion Nachdenklichkeit über den sozialen, ökologischen und humanitären Reformbedarf beizufügen.

Es war sicher kein Zufall, dass Angela Merkel - ebenso wie viele Kritiker aus dem linken Lager, nur aus entgegengesetzten Gründen - diesen Präsidenten nicht wollte.

Als Gauck am 18. März 2012 gewählt worden war, schien er zunächst die Hoffnungen der einen und die Befürchtungen der anderen zu bestätigen. So wählte er - um nur dieses Beispiel zu zitieren - zum Verhältnis zwischen Freiheit und Gerechtigkeit Worte, die jeder Kritiker der realen deutschen Verhältnisse und der Politik von Angela Merkel gern unterschreiben wird:

Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen den Eindruck haben, sie seien nicht Teil unserer Gesellschaft, weil sie arm oder alt oder behindert sind. Freiheit ist eine notwendige Bedingung von Gerechtigkeit. (…) Umgekehrt ist das Bemühen um Gerechtigkeit unerlässlich für die Bewahrung der Freiheit.

Je länger aber die Amtszeit dauerte, desto mehr verlor der Präsident diese kritische Distanz. Zunehmend wirkte und wirkt es, als ließen ihn das Glück und die Last, diesem Staat an höchster Stelle zu dienen, die wichtigste Pflicht eines Bundespräsidenten vergessen.

Sie besteht gerade nicht darin, die herrschenden Denkmuster zu übernehmen oder gar noch zu verstärken. Sie besteht im Gegenteil darin, dem Zweifel Ausdruck zu geben, wenn die Einigkeit zu groß zu werden droht; für diejenigen zu sprechen, die im Diskurs der Mehrheit die Stimme zu verlieren drohen.

Der Neoliberale

Vor diesen Aufgaben versagte Joachim Gauck ausgerechnet in dem Moment, als er am dringendsten gebraucht worden wäre: als die große Koalition besiegelt, die Opposition auf 20 Prozent der Parlamentssitze geschrumpft war und Gegenstimmen zur angeblich "alternativlosen" Politik des Stillstands sich nur noch schwer Gehör verschaffen konnten.

Am 16. Januar 2014 hielt der Präsident die Festrede zum sechzigjährigen Bestehen des Walter Eucken Instituts in Freiburg. In der Summe verkündete er nichts anderes als das, was auch ein FDP-Politiker sagen würde:

Deutsche Unternehmen verkaufen weltweit erfolgreich ihre Produkte, wir genießen - dank dieses wirtschaftlichen Erfolges - nicht nur einen materiellen Wohlstand, sondern auch einen sozialen Standard, den es so nur in wenigen Ländern der Welt gibt.

Und es folgte eine Verunglimpfung von Kritikern, wie sie ein Christian Lindner nicht schlimmer hätte formulieren können:

Für manche ist schon die Notwendigkeit, das eigene Leben frei zu gestalten, mehr Zumutung als Glück. (…) So klingt das Wort "Freiheit" bedrohlich für jemanden, der sich nicht nach Offenheit, sondern nach Überschaubarkeit sehnt.

Gauck gab damit der real vorherrschenden - und nun auch von der SPD mit wenigen Einschränkungen unterstützten - Politik einen radikalen Ausdruck. Wer so redet, tut nichts dafür, der Meinungsführerschaft einer mächtigen Mehrheit eine hörbare Gegenstimme entgegenzusetzen.

Der Pfarrer und der Krieg

Gut zwei Wochen später, am 31. Januar 2014, eröffnete der Bundespräsident die Sicherheitskonferenz in München. Gerade hatte die große Koalition begonnen, die von Außenminister Guido Westerwelle (FDP) erstaunlich konsequent vertretene Politik der militärischen Zurückhaltung zu relativieren. Westerwelles Nachfolger Frank-Walter Steinmeier (SPD) hatte zwei Tage vor Gaucks Münchner Rede im Bundestag gesagt

So richtig die Politik der militärischen Zurückhaltung ist, sie darf nicht missverstanden werden als eine Kultur des Heraushaltens.

Und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hatte ebenfalls verstärkte militärische Anstrengungen angekündigt.

Nun also Gauck in seiner Rede zur "Eröffnung der 50. Münchner Sicherheitskonferenz" am 31. Januar 2014:

Deutschland zeigt zwar seit langem, dass es international verantwortlich handelt. Aber es könnte - gestützt auf seine Erfahrungen bei der Sicherung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit - entschlossener weitergehen, um den Ordnungsrahmen aus Europäischer Union, NATO und den Vereinten Nationen aufrechtzuerhalten und zu formen. Die Bundesrepublik muss dabei auch bereit sein, mehr zu tun für jene Sicherheit, die ihr von anderen seit Jahrzehnten gewährt wurde. (…) Deutschland wird nie rein militärische Lösungen unterstützen (…). Aber wenn schließlich der äußerste Fall diskutiert wird - der Einsatz der Bundeswehr -, dann gilt: Deutschland darf weder aus Prinzip "nein" noch reflexhaft ,ja‘ sagen.

Und es folgte, wiederum ganz so wie beim Thema Wirtschaft, die Herabsetzung der Kritiker:

Ich muss wohl sehen, dass es bei uns - neben aufrichtigen Pazifisten - jene gibt, die Deutschlands historische Schuld benutzen, um dahinter Weltabgewandtheit oder Bequemlichkeit zu verstecken. (…) So kann dann aus Zurückhaltung so etwas wie Selbstprivilegierung entstehen, und wenn das so ist, werde ich es immer kritisieren.

Die Ablehnung von Interventionskriegen gleichzusetzen mit einem unzulässigen "Wegsehen": Das ist, eins zu eins, das platteste und diffamierendste Pauschalurteil, das Interventionisten ihren Kritikern entgegenzuhalten pflegen.

Es war kein Geringerer als Hans-Dietrich Genscher, der, angesprochen auf Gauck, die gefährliche Gleichsetzung von "Verantwortung" und Bereitschaft zu militärischen Interventionen mit diplomatischen, aber klaren Worten entlarvte:

Deutschland hat Verantwortung übernommen. (…) Ich weiß nicht, ob die Haltung, die die Bundesregierung, und zwar alle Bundesregierungen unternommen haben, einer Korrektur bedürfen.

Als gut ein halbes Jahr später der Terror des "Islamischen Staats" im Irak zum Thema wurde, nutzte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen die Chance, nicht nur Waffen an die Kurden zu liefern, sondern offen den Bruch von "Tabus" in der Sicherheitspolitik zu fordern.1 Von Joachim Gauck war kein Widerspruch zu hören.

Die Unfreiheit des Freiheitsapostels

Es wäre unfair, Gauck jede Fähigkeit zur kritischen Intervention abzusprechen. So setzte er etwa einen klaren und wertvollen Akzent für eine humane Flüchtlingspolitik2 und gegen die Abschottung Europas: Die Europäische Union müsse sich "fragen lassen, inwieweit sie dadurch die Rechte oder sogar das Leben derer gefährdet, die aus begründeter Furcht vor Verfolgung Schutz suchen".

Hier zeigt sich der gesellschaftspolitische Liberalismus, in dem Gaucks Freiheitspathos sich als politisch gewinnbringend erweist. Aber auf anderen zentralen Feldern - wie der Wirtschafts- und der Außenpolitik - gilt: Dieser Bundespräsident hat offensichtlich mit dem Eintritt ins höchste Staatsamt seine innere Freiheit verloren - und mit ihr die Distanz zur herrschenden Politik.

Dass er sich mit dem System im Grunde identifiziert, das war auch vorher schon klar, und es war natürlich bei keinem Präsidenten anders. Aber viele von Gaucks Vorgängern, selbst der insgesamt so dramatisch gescheiterte Christian Wulff, haben verstanden, dass dieses Amt dem Land am besten dient, wenn es genutzt wird, um auf Fehlentwicklungen hinzuweisen, statt sich an der Einschläferungsstrategie der Regierenden zu beteiligen.

Joachim Gauck scheiterte an diesem Anspruch zu einem Zeitpunkt, als er wichtiger gewesen wäre als je zuvor: zu Beginn der Regierungszeit einer mit übergroßer Mehrheit und Medienmacht regierenden Koalition. Er hätte den Beweis erbringen können, dass aus der Erfahrung der DDR-Diktatur eine unbeirrt kritische Haltung erwachsen kann. Das ist ihm - zumindest bislang - nicht gelungen.

Der hier veröffentlichte Text ist ein Auszug aus dem gerade im Westend Verlag erschienenen Buch "Deutschland im Tiefschlaf. Wie wir unsere Zukunft verspielen" von Stephan Hebel - eine erste Abrechnung mit der großen Koalition.

Kanzlerin Merkel, unterstützt von vielen Medien, lullt uns ein mit dem Märchen, es könnte alles so bleiben, wie es ist, wenn wir nur weitermachen wie bisher. Und kaum jemand widerspricht, vor allem, seit SPD und Grüne um die Rolle als Merkels Juniorpartner konkurrieren. Opposition muss jetzt mitten aus der Gesellschaft kommen, von uns Bürgerinnen und Bürgern. Denn eines ist klar: Wenn nicht wir die Welt verändern, wird sie uns verändern - mehr, als uns lieb sein kann. Und dann droht auch unsere sogenannte "Insel des Wohlstands" unterzugehen.

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