"Eine unglaubliche Verödung des öffentlichen Lebens"

Der Geschichtsphilosoph Hauke Ritz über den Westen, Russland und die unbewusste Präsenz des Religiösen in der Politik

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Hauke Ritz, Jahrgang 1975, ist Autor u.a. mehrerer Essays in den "Blättern für deutsche und internationale Politik" und veröffentlichte zuletzt das Buch "Der Kampf um die Deutung der Neuzeit".

Die Situation in der Ukraine spitzt sich weiter zu. Verschiedene Beteiligte scheinen Interesse an einer Eskalation zu haben. Wo liegen aus Ihrer Sicht die Wurzeln dieses Konflikts?

Hauke Ritz: Nach dem Fall der Mauer entstand in den USA und später auch in Westeuropa das falsche Selbstverständnis, der Westen habe den Kalten Krieg "gewonnen". Dabei war das im Grunde genommen gar nicht der Fall. Die andere Seite ist lediglich freiwillig im Rahmen einer Friedensinitiative aus dem Kalten Krieg ausgestiegen. Das ist ein Unterschied.

Die Sowjetunion hatte Ende der 80er Jahre trotz wirtschaftlicher Probleme durchaus noch die Möglichkeit, den Status Quo in Europa aufrecht zu erhalten. Doch das wurde nach 1991 nicht mehr gesehen. Die Siegermentalität, die aufgrund dieser falschen Lesart im Westen Fuß fasste, führte zu der Einschätzung, dass man sich selbst nicht ändern müsste. Ändern musste sich nach dieser Sichtweise nur der Osten, der angeblich den Kalten Krieg verloren hatte. Dabei kalkulierte man den Bruch der mit Gorbatschow getroffenen Vereinbarung bewusst mit ein. Und so wurde der Osten zum Objekt der Westausdehnung, wobei die EU- und NATO-Mitgliedschaft die Instrumente darstellten, mit denen die osteuropäischen Staaten in den Westen eingefügt wurden. Bei dieser Expansion des Westens wurde die Eigenständigkeit der osteuropäischen Kulturen nicht berücksichtigt.

Das andere Europa?

Können Sie das näher erläutern?

Hauke Ritz: Traditionell gibt es drei Kulturkreise in Europa: den katholischen, den protestantischen und den orthodoxen Kulturkreis. Im 19. Jahrhundert war man sich dessen auch bewusst und begegnete dem jeweiligen Gegenpol mit Neugier und Interesse. Doch der extreme Nationalismus im Ersten und Zweiten Weltkrieg und dann die 40 Jahre andauernde Blockkonfrontation haben diese Wahrnehmung der Kulturgrenzen Europas verwischt.

Heute denkt man bei der Beschreibung verschiedener europäischer Kulturen nicht mehr an die Konfessionen, obwohl sie uns hinsichtlich unserer Mentalität bis heute prägen. Nach dem Ende des Kalten Krieges setzte sich stattdessen die Wahrnehmung durch, dass es in kultureller Hinsicht nur noch ein Europa gäbe, nämlich das Europa, das den Kalten Krieg "gewonnen" hatte, also letztlich Zentraleuropa, das sich im Wesentlichen aus Deutschland, Großbritannien, Benelux und Teilen von Skandinavien zusammensetzt. Diese überwiegend protestantischen Länder wurden in gewisser Weise zum Maßstab, nach dem sich die anderen europäischen Länder ausrichten sollten. Es waren zugleich die Gesellschaften, die nach dem Ende des zweiten Weltkriegs am meisten amerikanisiert worden sind und die den Neoliberalismus der letzten 30 Jahre am stärksten verinnerlicht hatten. Und nach dem Mauerfall bemühte man sich nun darum, diese amerikanisch-protestantisch-neoliberale Interpretation Europas möglichst weit auszudehnen.

Recht erfolgreich, wie es scheint.

Hauke Ritz: Ja, aus Sicht der transatlantischen Eliten hat das ganz gut geklappt. Tatsächlich ist die Kultur und Wirtschaftsweise Zentraleuropas zur europäischen Leitkultur geworden. Das ehemals sozialistische und zuvor Jahrhunderte lang vom Katholizismus geprägte Osteuropa musste im Zuge der EU-Osterweiterung gewaltige Veränderungen, nämlich sogenannte Strukturanpassungsmaßnahmen über sich ergehen lassen. Und der überwiegend katholische Mittelmeerraum ist spätestens seit 2010 im Zuge der Eurokrise ebenfalls zum Objekt eines von außen auferlegten Umbaus der Gesellschaftsstruktur geworden. Das gleiche gilt natürlich auch für das orthodoxe Südosteuropa, also Rumänien, Bulgarien und Griechenland, wobei man an Griechenland geradezu ein Exempel statuiert hat.

Die Bedeutung der Ukraine für Europa?

Wie würden Sie die Ukraine und Russland in diesen Kontext einordnen?

Hauke Ritz: Rumänien, Bulgarien und Griechenland machen nur einen recht kleinen Teil des orthodoxen Kulturraums aus. Zum größten Teil entzieht er sich nämlich dem Einfluss der NATO und der EU. Einfach weil Russland als das wichtigste Land dieses Kulturkreises so groß und selbstständig ist. Man kann Russland nicht wie Bulgarien, Rumänien und Griechenland dominieren.

Erschwerend kommt noch hinzu, dass Putin seit seiner Wiederwahl die Entstehung einer "Eurasischen Union" vorantreibt. Hierbei handelt es sich weniger um eine Neuauflage der Sowjetunion, als vielmehr um eine Kopie der früheren "Europäischen Gemeinschaft" (EG), also um den Versuch, im postsowjetischen Raum eine Wirtschaftsgemeinschaft zu gründen. Diese eurasische Wirtschaftsgemeinschaft, zu der Belarus und Kasachstan und wahrscheinlich auch Armenien und Kirgisien gehören werden, würde aber wahrscheinlich auch kulturelle und politische Standards entwickeln. Das klingt zunächst wenig dramatisch. Doch es würde praktisch bedeuten, dass Zentraleuropa aufhört die einzige verbindliche Interpretation Europas zu sein.

Dem Westen drohte eine Systemkonkurrenz?

Hauke Ritz: Zumindest gäbe es dann neben dem zentraleuropäischen auch ein östliches Europa und damit eine Vergleichbarkeit, die seit dem Fall der Berliner Mauer so nicht mehr existiert hat. Das macht vielen Transatlantikern und EU-Anhängern Angst. Sie würden diese Entwicklung gerne verhindern. Und da kommt natürlich der Ukraine eine Schlüsselrolle zu. Denn sie ist ja neben Belarus der einzige größere Staat im postsowjetischen Raum, mit dem Russland sowohl seine europäische Identität als auch seine Verankerung im orthodoxen Christentum teilt. Die Ukraine wäre somit der ideale Partner für Russland, um eine eigenständige und zweite Interpretation der europäischen Kultur zu entwickeln. Und deshalb sind die Vertreter einer starken EU so erpicht darauf, die Ukraine Russland wegzunehmen. Ihnen ist das so wichtig, dass sie dafür sogar mit ukrainischen Neonazis zusammenarbeiten und einen Bürgerkrieg in Kauf nehmen.

Wir beobachten also einen klassisch geopolitischen Ansatz, um den Aufstieg einer konkurrierenden Macht zu behindern?

Hauke Ritz: Natürlich. Interessanterweise kann die Westausrichtung der Ukraine nun aber nicht auf demokratischem Wege gewährleistet werden. Dazu sind die historischen, wirtschaftlichen, sprachlichen, konfessionellen und überhaupt kulturellen Bande zwischen der Ukraine und Russland einfach zu groß. Deshalb hat sich die transatlantische Elite des Westens stillschweigend darauf geeinigt, die Westanbindung der Ukraine mit den Mitteln der Diktatur sicher zu stellen.

Heute ist es gefährlich in der Ukraine, die Politik der Regierung zu kritisieren. Die Kommunistische Partei soll verboten werden, Parlamentsabgeordnete, die den Kurs der Regierung in Frage stellen, werden mit Gewalt bedroht, während gleichzeitig im Osten des Landes eine ethnische Säuberung stattfindet. Die russischstämmige Bevölkerung wird durch willkürlichen Artilleriebeschuss einiger Städte regelrecht vertrieben.

Kulturelle Erosion der EU, die mit Europa gleichgesetzt wurde

In der Tat stellen sich ja viele die Frage, weshalb sich der Westen eigentlich seit vielen Jahren so massiv in der Ukraine einmischt und den Konflikt mit Russland dabei in Kauf nimmt. Warum wäre aus Ihrer Sicht die wirtschaftliche und politische Eigenständigkeit eines zweiten europäischen Kulturkreises so wichtig?

Hauke Ritz: Ich glaube, das ist von großer Bedeutung. Sehen Sie sich doch nur mal an, wie sich unsere europäische Zivilisation in den letzten 25 Jahren entwickelt hat. Seit dem Fall der Berliner Mauer wurde die EU mit Europa gleichgesetzt und beanspruchte ein Art Interpretationsmonopol für die europäische Zivilisation. Nun ist es vielleicht kein Zufall, dass wir just in der Zeit, in der die EU scheinbar Europa repräsentierte, eine enorme Erosion europäischer Werte erlebt haben. Der Sozialstaat wurde geschliffen, die Universitäten marktkonform umstrukturiert, die Gewerkschaften massiv geschwächt, die Kirchen aus dem öffentlichen Leben herausgedrängt und die Presse erneut an eine sehr, sehr enge Leine gelegt.

Das ist ein starker Vorwurf. Können Sie einige Argumente dafür nennen?

Hauke Ritz: Die Entwicklung der Presse in den letzten 25 Jahren ist das wohl drastischste und traurigste Beispiel der kulturellen Erosion, die Europa zu verzeichnen hat. Wenn es um Außenpolitik geht, werden die Menschen einfach nicht mehr über die simpelsten Fakten informiert. Die Presse scheint ihre Aufgabe zunehmend darin zu sehen, Feindbilder zu etablieren. Die Journalisten sammeln sich wie um eine Fahne, um die Interessen eines Lagers, meist der neokonservativen Fraktion im Westen, abzubilden und blenden dabei alle übrigen Fakten und Perspektiven aus, als ob sie nicht existieren würden. Eine Aufklärung über die Geschichte eines Konflikts, bestehende Interessensgegensätze, potentielle Gefahren et cetera findet nicht mehr statt. Selbst gestandene Politiker und Diplomaten, die noch während der Wiedervereinigung Strategien der Entspannungspolitik vertraten, haben heute Probleme, in der Presse zu Wort zu kommen.

Und da würde ein zweiter europäischer Kulturkreis helfen?

Hauke Ritz: Man kann zumindest sagen, dass jene 25 Jahre, in denen das westliche Zivilisationsmodell keinem Vergleich und keiner Konkurrenz mehr ausgesetzt war, ihm schlecht bekommen sind. Durch das Wegbrechen des kritischen Potentials der Universitäten, Kirchen, Gewerkschaften und der Presse ist zunehmend eine Gesellschaft entstanden, die nur noch Einheitsperspektiven zu allen möglichen Themen zulässt.

Diese heute in der Presse vertretene Einheitsperspektive führt zu einer Einschüchterung des Denkens insgesamt und damit zu einer Abnahme der intellektuellen Freiheit. Man spürt das im Alltag, etwa im Zuge wissenschaftlicher Debatten, die heute an den Universitäten geführt werden. Es existiert eine Angst vor dem Überschreiten echter oder imaginärer roter Linien und dies führt letztlich zu einer verstärkten Selbstzensur. Dadurch ist es in den westlichen Staaten zu einer unglaublichen Verödung des kulturellen und öffentlichen Lebens gekommen, und parallel dazu zu einer unfassbaren Verflachung der Politik.

In den Medien herrscht heute eine Haltung und Sprache der Ignoranz vor. Die neoliberal postmoderne Kultur des Westens ist zum einzigen relevanten Maßstab geworden. Das Existenzrecht anderer Kulturen wird gar nicht mehr wahrgenommen. Sollte jetzt in Gestalt der Eurasischen Union eine zweite Interpretation Europas entworfen werden, so wäre das eigentlich eine gute Nachricht auch für die EU. Es zwänge uns dazu, in den Spiegel zu blicken, uns erneut zu vergleichen und könnte somit Bewusstseinsprozesse und Veränderungen anstoßen, die ansonsten ausblieben. Diesen Effekt hätte ein solches Gegenmodell selbst dann, wenn es zunächst nicht besser ist als die EU. Dass es anders ist, reicht fürs erste völlig aus. Und ein Erfolg der Eurasischen Union hätte wahrscheinlich zur Folge, dass in anderen Kulturkreisen, etwa Lateinamerika oder auch der arabischen Welt ähnliche Strukturen entstehen. Damit wäre dann der Übergang von der unipolaren in die multipolare Welt vollzogen.

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