Verhandeln statt akzeptieren - verschiedene Lesarten zur Ukraine-Krise

Medien und Neoliberalismus - Teil 1

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"Neoliberales Herrschaftssystem: Warum heute keine Revolution möglich ist", lautete der Titel eines Beitrags von Byung-Chul Han in der "Süddeutschen". Der Berliner Philosophieprofessor ist der neue Shooting-Star des bürgerlichen Feuilletons. Warum die Verhältnisse sind, wie sie sind, damit beschäftigen sich auch die kritischen "Nachdenkseiten". Dort sieht man gerne die Medien als eine der Ursachen für die neoliberale Herrschaft: "Die Revolution wird durch Meinungsmache verhindert." Aber wie ist es denn genauer mit der "Revolution", den Medien und dem Neoliberalismus? Und warum sind die Dinge, wie sie sind? In fünf Folgen wird versucht, die Macht der Medien und ihren Beitrag zur Hegemonie des Neoliberalismus zu relativieren. In der ersten Folge geht es um Geschichte und Konzepte der Wirkungsforschung.

Eine frühe Konzeption von potenter Medienwirkung zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die der "hyperdermic needle". Die Annahme: Die Botschaften der Medien gingen quasi wie mit der Injektionsnadel direkt unter die Haut der Rezipienten. Der Mensch wurde in dieser Konzeption als schutzloses Wesen gesehen, das den Botschaften der Medien ausgeliefert war. Hintergrund war die Vorstellung einer "Masse" in den modernen Großstädten mit einsamen und voneinander isolierten Menschen.

Dieses Konzept von der Allmacht der Medien wurde im Laufe der 1930er Jahre revidiert. Der in die USA emigrierte Wiener Paul Lazarsfeld trug mit seiner Kommunikationsforschung wesentlich zu einer Relativierung von Medienwirkung bei. Die Erkenntnis: Der Mensch ist keineswegs ein isoliertes Wesen, sondern in vielfältige Bezüge eingebunden, die die Wirkung von Medienbotschaften beeinflussen.

Zu den beeinflussenden Variablen gehört auch die Figur des "Opinion Leaders", also des Meinungsführers in der sozialen Nachbarschaft der Rezipienten. Diese Meinungsführer haben ein hohes soziales Prestige und gelten als kompetent, ihr Rat und ihre Meinung wird gesucht, wenn es um die Klärung von strittigen Sachverhalten geht und sie haben so einen Effekt auf die Wirksamkeit von Medienbotschaften.

Diese Wirksamkeit stand dann in den 1940er Jahren im Mittelpunkt der Kommunikationsforschung. Auftraggeber waren Industrie, Politik und Militär. Es gab reichlich Geld für die Beantwortung von Fragen wie: Wie verkaufe ich mein Waschmittel, wie überzeuge ich den politischen Gegner, wie demoralisiere ich die feindlichen Soldaten? Die als wirksam angesehene Propaganda der Nationalsozialisten diente als Vorbild. In Laborversuchen suchte man etwa zu klären, wie Argument und Gegenargument angeordnet sein müssen, um die größte Wirkung zu erzielen.

Die Ergebnisse blieben freilich insgesamt eher vage, die Wirkungsforschung ein Fass ohne Boden. In den 1950er Jahren erfolgte dann der Schwenk weg von der Frage "Was machen die Medien mit den Menschen?" hin zur Frage: "Was machen die Menschen mit den Medien?" Man entdeckte den aktiven Rezipienten, der keineswegs nur als Zielscheibe für die Medienbotschaften diente, sondern aktiv mit diesen Medien umging und sie nach seinen Bedürfnissen nutzte und daraus Gewinn zog - deshalb hieß eines der bekanntesten dieser Konzepte dann auch "uses-and-gratifications"-Ansatz.

Es ging dabei um die Bedürfnisse der Menschen und wie diese Bedürfnisse über Medien gestillt werden. Doch wurden diese Bedürfnisse innerhalb der positivistischen Forschung vor allem als individuelle Bedürfnisse gesehen und von der sozialen Struktur der Gesellschaft weitgehend abstrahiert. Abstrahiert wurde auch von den unterschiedlichen Gebrauchswerten der Medien für unterschiedliche soziale Klassen.

Zwar hatte man so die Perspektive gewechselt, wirklich weiter kam man mit den Medienwirkungen aber nicht, noch immer beeinflussten eine Vielzahl von Variablen diese Wirkung, wobei auch der Wirkungsbegriff an sich schwer zu definieren war.

Die Rezeption von Medieninhalten wird zu einem Prozess der "Verhandlung"

In den 1970er Jahren entwickelte Stuart Hall im Umfeld der britischen "cultural studies" sein Konzept des "bevorzugten Lesens". Texte wurden nun als relativ offen für verschiedene Lesarten angesehen. Weiter wurde vermutet, dass eine notwendige Beziehung zwischen der sozialen Situation des Zuschauers und den Bedeutungen, die er aus dem Material etwa des Fernsehprogramms konstruiert, besteht. Die Rezeption von Medieninhalten wird so zu einem Prozess der "Verhandlung" zwischen den ideologischen Inhalten und den in seiner sozialen Situation eingebundenen Zuschauer. Dieser Zuschauer wird somit zum aktiven Zuschauer, der seine eigenen Interpretationen und Bedeutungen erzeugt.

Hall entwickelte eine Theorie der drei Lesestrategien von medialen Texten, die als "dominant", "negotiated" und "oppositional" bezeichnet werden und die drei generalisierten sozialen Positionen entsprechen, die die Zuschauer gegenüber den ideologischen Inhalten einnehmen können. "Dominant" meint dann die Zustimmung zu und Akzeptanz der herrschenden Ideologie durch den Zuschauer. "Negotiated" meint jene Lesart, in der der Zuschauer zwar generell der herrschenden Ideologie zustimmt, aber in Teilen abwandelt, um den eigenen sozialen Erfahrungen in bestimmten Bereichen gerecht zu werden. Ein gewisses "Widerstandspotenzial" ist hier aufgrund widersprüchlicher Erfahrungen vorhanden. Ein "oppositional reading" bedeutet, dass die Erfahrung der sozialen Situation eine direkte oppositionelle Lesart gegenüber der herrschenden Ideologie mit sich bringt.

Man kann dieses Konzept aktuell auf die Berichterstattung über die Ukraine-Krise anwenden. Die dominierende Form der Berichterstattung ist hier die Schwarz-Weiß-Malerei und eindeutige Schuldzuweisung an Russland, die bis zu einer Dämonisierung der Person Wladimir Putins geht. Trotz dieser Einseitigkeit in den führenden Zeitungen von "Süddeutsche" bis "Zeit" und auch in den TV-Sendern sind große Teile der Bevölkerung aber keineswegs von dieser dominierenden Lesart überzeugt. Denn man weiß, dass die USA und der Westen ihre sehr eigene Auslegung von Völkerrecht haben, wenn es um ihre Interessen geht: Vom Irakkrieg bis zu den Angriffen auf Libyen.

Diese widersprüchlichen Erfahrungen der Rezipienten legen zumindest eine "negotiated", also eine "verhandelte", abgewandelte Lesart der Medieninhalte zur Ukraine-Krise nahe. Mit anderen Inhalten, die der eigenen Erfahrung widersprechen, wie etwa beim Sozialabbau, ist es ähnlich. Und weil das so ist, können die Kalten Krieger in den Redaktionsstuben noch so sehr mit den Säbeln rasseln - und die Mehrheit der Bürger sich trotzdem gegen Waffenlieferungen und Kriegseinsätze aussprechen.