Kapitulation vor Russland oder Lösung des Konflikts?

Der ukrainische Präsident Poroschenko setzt Sondergesetze für Donezk und Lugansk durch und gerät innenpolitisch unter Druck

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Der ukrainische Präsident Poroschenko hat die Gunst der Stunde genutzt. Am selben Tag, als zeitgleich das Assoziierungsabkommen im Europäischen Parlament und in der Rada mit großem Tamtam von allen 355 (von 450) anwesenden Abgeordneten unterzeichnet wurde, hat Poroschenko ein Gesetz in geschlossener Sitzung durch das Parlament gebracht, das gute Chancen eröffnet, den Krieg in der Ostukraine einer politischen Lösung zuführen zu können und den Konflikt mit Russland zu deeskalieren, was auch bereits der vereinbarte Waffenstillstand eingeleitet hat. Offenbar hatten die Menschen in der Ukraine einen guten Riecher, ausgerechnet nach der Maidan-Revolte gegen die korrupte Regierung den Oligarchen als Präsidenten zu wählen, der trotz des hohen Drucks aus dem durch den Maidan hochgespülten rechtsnationalistischen Lager, dem er zeitweise nachgegeben hatte, zumindest im Hinblick auf die Lösung des Konflikts einen pragmatischen Weg zu gehen versucht.

Präsident Poroschenko feiert das unterzeichnete Assoziationsabkommen mit der EU. Bild: rada.gov.ua

Das von Poroschenko schon angekündigte Gesetz, das Ideen seines Friedensplans umsetzt und erweitert, sieht für die von den Separatisten kontrollierten Gebiete um Donezk und Lugansk einen dreijährigen Sonderstatus, vorgezogene lokale Wahlen (am 7. Dezember 2014), das Recht, Russisch oder eine andere Sprache öffentlich sprechen und lehren zu können, und eine Amnestie für Milizenmitglieder, die auch künftig wegen der Beteiligung am Aufstand nicht strafrechtlich verfolgt werden dürfen. Nur schwere Verbrechen wie Mord oder Vergewaltigung sollen weiterhin belangt werden. Dazu kommt die Zusage, mit festgelegten Geldern beim Wiederaufbau und bei der sozioökonomischen Entwicklung zu helfen, die Kommunen können wirtschaftlich auch eigene Wege gehen, Abkommen mit benachbarten russischen Kommunen schließen, und vor allem soll auch die Polizei lokal aufgebaut werden mit Menschen, die permanent in jeweiligen Bezirken leben.

Für das Amnestiegesetz stimmten 287 Abgeordnete, auch Oleh Tiahnybok, der Führer der rechtsextremen Swoboda-Partei, 277 stimmten für den Sonderstatus. Eigentlich hat die Rada 450 Sitze, so dass eine Mehrheit Poroschenko unterstützt. Die für Abstimmungen notwendige Zahl von Zweidrittel der Abgeordneten soll trotz der Rücktritte und des Fernbleibens einiger Abgeordneten und des Ausschlusses der Kommunisten gewährleistet sein.

Kritiker legen dies als Niederlage gegenüber Moskau aus und glauben, dass damit der Weg zur Unabhängigkeit der Regionen oder gar zum Anschluss an die Russische Föderation freigegeben wird. Der Rechte Sektor spricht von Verrat und von der Legalisierung der Besatzer. Swoboda erklärt, es handele sich um eine "Kapitulation" im Krieg, und protestierte gegen die geschlossene Sitzung.

Auch die Vaterlandspartei von Timoschenko kritisiert die Gesetze für die Ostukraine. Die Abgeordneten hätten gegen sie gestimmt, sie wären nur verabschiedet worden, weil einige Parteimitglieder wie Jazenjuk die Partei verlassen und die Volksfront gegründet hätten. Timoschenko erklärte, die Abgeordneten hätten sich durch die geschlossene Sitzung versteckt, so dass durch die geheime Abstimmung nicht kenntlich werde, wer für die Gesetze gestimmt hat, die die Ostukraine zu einem Protektorat Russlands machen würden. Sie schäme sich für das Parlament. Die Gesetze würden keinen Frieden bringen, sondern würden es zulassen, dass Putin weitere Gebiete der Ukraine erobert. Man dürfe nicht mit den Vertretern der "Volksrepubliken" verhandeln.

Bild: batkivshchyna.com.ua/

Aber Poroschenko hat, vermutlich auch in Gesprächen mit den Oligarchen bzw. den reichen Unternehmern dieser Region und auch unter Druck etwa von Deutschland oder Frankreich, erkannt, dass zwar vielleicht eine verlustreiche Eroberung der Städte irgendwann möglich sein könnte, damit aber noch lange kein Frieden erreicht wird und eine wirtschaftliche Erholung des Pleitelandes in weite Ferne rückt. Die schon vor seinem Amtsantritt begonnene "Antiterroroperation" gegen die damals jedenfalls noch weitgehend aus Ostukrainern bestehende Anti-Maidan-Bewegung, die mit denselben Mitteln wie ihr Vorbild vorging, hatte die Hebel frühzeitig und wahrscheinlich willentlich auf Zuspitzung gesetzt.

Später versuchten die nationalistischen Kreise, die sich nun mit Ministerpräsident Jazenjuk zu einer Volksfrontpartei zusammengeschlossen, die etwas gemäßigter ist als Swoboda oder der Rechte Sektor, die "Antiterroroperation" gegen einen Teil der ukrainischen Bevölkerung, die offensichtlich die durch einen Coup an die Macht gelangte, aus Maidan-Anhängern gebildete Kiewer Übergangsregierung ablehnte und auch fürchtete, zu einem Krieg zwischen der Ukraine und Russland umzudeuten. Die Gegner, auch in unseren Medien stets nur undifferenziert "pro-russisch" genannt, blieben allesamt Kriminelle, Terroristen, Söldner, Saboteure oder eben Russen, die es zu vertreiben oder auszulöschen galt. Im Krieg fiel die politische Verständigung aus, d.h. aus Sicht von Kiew sollte es auch keine Alternative zum Krieg geben, am liebsten hätte man auch schon längst den Kriegszustand ausgerufen, um massiv gegen die beiden Städte vorgehen zu können.

Von den USA unterstützter Ministerpräsident Jazenjuk, genannt Jaz. Bild: kmu.gov.ua

Poroschenko musste zwar seinen zuerst bereits mutig einseitig ausgerufenen Waffenstillstand wieder absetzen, konnte aber die Ausrufung des Kriegszustands verhindern. Da Jazenjuk der Kandidat der US-Regierung für den Regierungschef war, dürfte dessen kriegstreiberische Politik durchaus im Einverständnis mit dieser und ihren Beratern und Geheimdienstagenten erfolgt oder gar gefördert worden sein. Er will möglichst auch den Nato-Beitritt der Ukraine erzwingen.

Poroschenko wurde ebenso wie der EU-Kommission auch vorgeworfen, dass das im Assoziierungsankommen enthaltene Freihandelsabkommen auf 2016 verschoben wurde, was als Sieg/Erpressung Moskaus und als Unterwerfung der Ukraine gesehen wird. Russland hatte erst spät gegen viele Regelungen konkrete Einwände angemeldet. Wirtschaftlich hätten sich diese allerdings nicht nur negativ auf Russland, sondern auch auf die Ostukraine ausgewirkt. Allerdings dürfte es sich dennoch auch um eine Geste gehandelt haben, nachdem die EU trotz des Waffenstillstands weiter auf die Sanktionsspirale gesetzt hatte.

Vorgestern hatte Jazenjuk noch erklärt, dass Russland die Umsetzung des Abkommens verschieben wolle, und die Position der Regierung deutlich gemacht: "Niemand wird eine Entscheidung über Verzögerungen bei der Umsetzung des Abkommens treffen. Und im Hinblick darauf kann es keine Doppeldeutigkeit geben." Gestern sagte er nach der Verschiebung der Umsetzung des Freihandelsabkommens, dass die Unterzeichnung der erste Schritt auf der Reise nach Europa war. Man habe damit einen Fehler vor 350 Jahren endlich korrigiert: "Ukraine ist Europa." Allerdings gehört auch ein Teil Russlands zu Europa, aber das ist zu viel für die verlangte Eindeutigkeit.

Poroschenko versicherte, dass trotz Verschiebung "kein Paragraph, kein Wort und auch kein Komma im Text des Abkommens" verändert worden sei, um den Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Aber das muss nicht glauben, wenn es zu weiteren Verhandlungen zwischen der Ukraine, Russland und der EU kommen sollte. Er betonte auch, dass die Ukraine bis 2016 einen privilegierten Zugang zum EU-Markt hat und die Zeit benötigt, um auf diesem wettbewerbsfähig zu werden. Poroschenko weiß, wie umstritten seine Politik in der Ukraine ist und wie schnell sie scheitern könnte, falls es mit der Wirtschaft weiter heruntergeht oder ernsthafte Kämpfe wieder aufflammen sollten. Daher beschwor er die nationale Einheit: "Wenn jemand versucht, eine innere Front zu eröffnen, wird uns das schaden."

Gleichzeitig mit der Unterzeichnung bat die Ukraine die Europäische Kommission um weitere 2 Milliarden Euro "makrofinanzieller Hilfe". Gut möglich ist auch, dass die Menschen in der EU nicht nur wegen der Folgen der Sanktionen und Gegensanktionen protestieren werden, sondern auch dann, wenn sie sehen, wie teuer ihnen die Ukraine selbst kommen wird.

Die militanten Separatisten widersetzen sich aber auch einem Machtverlust, der durch eine politische Lösung bewirkt würde. Sie betrachten den Sonderstatus nur als Schritt zur Unabhängigkeit. Überdies haben Vertreter der beiden "Volksrepubliken" beschlossen, dass die Milizen nun einem gemeinsamen Kommando unterstellt werden sollen. Das soll nicht nur der besseren Verteidigung dienen, sondern man will neben "Neurussland" auch den Rest der Ukraine von den "Faschisten" befreien. Russische Medien wie Ria Nowosti berichten dies unkommentiert.