EU-Brüssel ist außer Rand und Band

Kommentar über die Ukraine-Politik und das Verhältnis zum schottischen Streben nach Unabhängigkeit

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wir sind gut beraten, die Ereignisse in Europa gemeinsam zu betrachten. Da legt die EU gleichsam den "roten Teppich" für engere Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine aus. Dieses Land ist allem Anschein nach nicht nur bankrott, sondern bedient sich in der Regierung jener braunen Elemente, die anderorts schon längst einen Boykott hervorgerufen haben würden.

Auf die Spitze hat das die deutsche Bundeskanzlerin, Frau Dr. Merkel, am Sonntag, den 14. September 2014, vor dem Brandenburger Tor in Berlin deutlich gemacht. Wie ist es möglich, gegen den anti-semitischen Ungeist zu wettern und zum ersten Male in der Geschichte des freien Europa diesen Kräften in der Ukraine die Hand zu reichen? Dabei reicht es für den "gewöhnlichen Westeuropäer" schon, den ukrainischen Ministerpräsidenten Jazenjuk im Fernsehen erleben zu müssen. Die demokratischen Verhältnisse in den Staaten der Europäischen Union sind zwar schon seit längerem in einer verhängnisvollen Schieflage. Wenn man sich allerdings hier umschaut, dann ist eines gewiss. Dieser Herr mag zwar der Personalauswahl der amerikanischen Staatssekretärin Nuland genügen, in einem deutschen Gemeinderat wollte man derartiges Personal nicht sehen wollen.

Was denken eigentlich die Türken darüber, dass sich die EU gleichsam überschlägt, wenn es um die Ukraine geht? Einem Land wohlgemerkt, das Lichtjahre von dem ökonomischen Erfolg und der wirtschaftlichen Dauerleistung der Türkei entfernt ist. Bei dem man, Hand in Hand mit Washington, sogar einen Krieg mit der Russischen Föderation riskieren will. Soll man nach Napoleon und Hitler jetzt mit Obama und Herman von Rompuy gen Osten reiten?

Nachdem die Woge des "Shareholder Value" seit gut 20 Jahren über den Kontinent fegte und endlich die berühmte "Deutschland AG" geknackt werden konnte, regt sich am nördlichen Rand der EU Erstaunliches. Schweden hat Mitte-Links gewählt und gibt damit Signale. Soll es etwa ein Ende damit haben, dass Europa über eine sonst auf der Welt nirgendwo vorkommende "freie Marktwirtschaft" von protektionistischen Großsystemen wie den USA, China und Indien geplündert werden kann? Rettet über eine Mitte-Links-Regierung Schweden seine auf starke Familienunternehmen angewiesene Wirtschaftsstruktur? Und was heißt das für Deutschland?

Es war wohl nur der Zusammenbruch von Lehman Brothers, der dem deutschen Mittelstand eine Atempause verschaffen konnte. Die Pläne waren längst aus den Schubläden herausgezogen, nach dem Plündern der "Deutschland AG" sich auch über den deutschen Mittelstand mit seinen Weltmarktführern herzumachen. Sind die Nordlichter gar unsere Rettung, nachdem die EU gerade im Partnerschaftsabkommen mit der Ukraine das Hohelied der freien (und nicht sozialen) Marktwirtschaft gesungen hat?

Der Norden hat es in diesen Tagen ohnehin in sich. Das verdanken wir den Schotten, deren Missvergnügen mit der Herrschaft Londons über Schottland sie in das Unabhängigkeits-Votum getrieben hat. Wenn man den Äußerungen aus Schottland genau zuhört, verbindet die Schotten mit den Dänen, Schweden, Isländern und Norwegern mehr als mit London. Man ist sozialer und gegen gesellschaftliche Ungleichbehandlung.

Das ZDF bringt zwar keine in sich geschlossene Sendung zu bester Sendezeit über die komplizierte Lage um und in der Ukraine zustande. Prinz Harry und sein Geburtstag sind es aber wert, prominent über den Bildschirm zu flimmern. Was sehen wir und das schon seit Jahren? Bilder des britischen Militarismus und des Obrigkeitsdenkens. Nur derjenige, der eine Uniform trägt, ist wer. Harry macht's möglich. Wer verdenkt es den Schotten, wenn sie das anders sehen?

Jüngst war auf France 24 ein Schotte zu hören, der mit den Sonderrechten für die City of London das britische Parlament in einem Atemzug mit der Knesset und dem Parlament in Riad genannt hat. Und dann das Öl und nicht zuletzt das schottische Gesundheitssystem, das über das aus London favorisierte Transatlantische Freihandelsabkommen mit den USA vom Leben zum Tode befördert werden soll. Die Art und Weise, wie die Schotten, tapfer wie sie sind, sich für das soziale Europa schlagen, müsste dem politischen Berlin die Schamesröte ins Gesicht treiben. Diesen Leuten will Brüssel den Stuhl vor die Türe setzen, wenn die Abstimmung nicht im Interesse Londons ist?

Da es überall in Europa gärt, wie die Massendemonstrationen in Barcelona deutlich machen und an anderen Orten noch kommen werden, sollte Brüssel den Schotten klar sagen, dass sie nichts zu befürchten haben. Sie waren und sind Europas "Beste". Warum sollten sie erst neue Anträge auf Mitgliedschaft im Club stellen müssen? Bei der Aufnahme Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft zählten sie dazu und daran hat sich nichts geändert. Es ändert sich durch das Votum in Schottland nichts an der demokratischen Gesinnung und dem demokratischen Staatsaufbau Schottlands. Die Außengrenzen der bisherigen EU werden auch nicht verändert. Die Probleme liegen in Brüssel. Man müsste sich doch in Brüssel fragen, warum bei aller Einheit in Europa sich Völker, die den Charakter von Nationen haben, in ein Korsett gezwängt fühlen. Im Stile von Apparatschiks kann man die Probleme nicht lösen und Brüssel sollte schleunigst vom menschenfernen "hohen Ross" heruntersteigen oder Frontbegradigung betreiben oder beides.

Willy Wimmer ist CDU-Politiker. Er war zwischen den Jahren 1985 und 1992 verteidigungspolitischer Sprecher der CDU/CSU und Staatssekretär im Bundesministerium für Verteidigung. Wimmer war Stellvertretender Leiter der Delegation des Deutschen Bundestages bei der Parlamentarischen Versammlung der OSZE und war von Juli 1994 bis Juni 2000 Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE.