Heiliger Krieg als Familienersatz?

Fehlende soziale Angebote und Zukunftsperspektiven sowie das Gefühl, nicht dazu zu gehören, treiben Jugendliche in die Arme islamischer Fundamentalisten

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Hunderte in der BRD rekrutierte ISIS-Söldner, "Hassprediger" Pierre Vogel auf Deutschland-Tournee, Angriffe islamischer Fundamentalisten auf jesidische Flüchtlinge in Asylunterkünften, Scharia-Polizei in Wuppertal, der Deutsche Juristentag beschäftigte auf seiner Tagung mit dem Thema der Scharia als einer Paralleljustiz.

Da stellt sich schon die Frage: Was ist eigentlich mit den Muslimen los? Doch, Überraschung: "die Muslime" gibt es gar nicht. Genau so wenig wie "die Deutschen", "die Liberalen", "die Porsche-Fahrer" oder "die Blauäugigen". Wenngleich Experten wie der Politologe Ahmad Mansour muslimische Verbände in der Verantwortung sehen.

Muslime sind nicht in ihrer Gesamtheit für diese Erscheinungen verantwortlich zu machen, sondern einige fundamentalistische Strömungen, die im Aufwind sind. Ursache dafür ist allerdings nicht unbedingt der muslimische Glaube - ein Großteil der in Hamburg rekrutierten Gotteskrieger z.B. kommt aus alevitischen oder atheistischen Familien, - sondern mangelnde Angebote an Beratung und Betreuung, insbesondere für Jugendliche und ihre Familien, mangelnde Freizeitangebote, vielfach quasi völlig fehlende Zukunftsperspektiven und das Gefühl, aus der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen zu sein.

Etwa 400 Söldner aus der BRD wurden von der Terror-Organisation Islamischer Staat (IS) für den Heiligen Krieg angeworben. Geschätzt drei Dutzend davon allein aus Hamburg. Cansu Özdemir, Abgeordnete der Linkspartei in der Hamburgischen Bürgerschaft, sagte Telepolis, dass diese jungen Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft kommen:

Die Jugendlichen wachsen unter verschiedenen Bedingungen auf. Manche in zerrütteten, andere in stabilen Familienverhältnissen. Manche sind Einserschüler, andere haben Probleme in der Schule. Einige stammen aus religiösen, andere wiederum aus atheistischen Familien. Einige kommen aus deutschen Familien ohne Migrationshintergrund, andere wiederum aus Familien mit deutscher Staatsangehörigkeit und einer Einwanderungsgeschichte.

Cansu Özdemir

Rekrutiert werden die Gotteskrieger allerdings häufig in Moscheen. Die sieht der Rechtsanwalt und ehemalige grüne Bürgerschaftsabgeordnete Mahmut Erdem deshalb auch in der Pflicht, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen und Sorge zu tragen, dass den Salafisten der Boden für ihre Anwerbe-Aktionen entzogen wird.

Mansour wirft muslimischen Verbänden Ignoranz gegenüber den Problemen der Jugendlichen vor:

Sie haben es versäumt, auf die Entwicklung zu reagieren. Ihre Freitagsgebete und Moscheen erreichen die hiesigen Jugendlichen aus verschiedenen Gründen nicht. Zum Beispiel, weil die Imame auf Arabisch oder Türkisch predigen, weil sie Themen ansprechen, die die hiesigen Jugendlichen nicht interessieren und die sie nicht verstehen. Diese Marktlücke füllen nun die Salafisten. Sie beten ihre Inhalte auf Deutsch, sie beten sie im Internet und den sozialen Medien. Sie haben eine einfache Sprache, eine einfache Logik, und sie reden über das, was diese Jugendlichen interessiert. Sie reden über Diskriminierungserfahrungen, sie geben ihnen Hoffnung, sie machen sie glücklich. Sie tun das, was der Imam eigentlich tun sollte.

Der Politologe Ahmad Mansour im Tagesanzeiger

Cansu Özdemir, ihr Fraktionskollege Mehmet Yildiz, der Sozialbetreuer Gürsel Yildirim sowie Nebahat Güclü, Vorsitzende der türkischen Gemeinde Hamburg und ehemalige grüne Vizepräsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft, verorten die Ursachen für den Zulauf von Jugendlichen in fundamentalistischen Gruppierungen bis hin zur aktiven Teilnahme am Dschihad in Syrien und im Nordirak in fehlenden sozialen Angeboten für Jugendliche, dem Mangel an Beratungsstellen und Betreuung sowie fehlenden Perspektiven. Zudem fühlen sich laut Yildirim junge Migrantinnen und Migranten häufig aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Diesen Jugendlichen bieten die Salafisten laut Mansour einfache Lösungen:

Der soziale Hintergrund spielt keine große Rolle. Gemeinsam ist diesen Menschen aber, dass sie in der Gesellschaft nicht angekommen sind, sich nicht akzeptiert fühlen. Vielen fehlt zudem eine Vaterfigur, sei es, weil der Vater die Familie verlassen hat, weil er tot ist, weil er sich selber in der Gesellschaft nicht zurechtfindet, die Sprache schlechter beherrscht als seine Kinder und eine schwache Figur bleibt. Die Salafisten füllen diese Lücke mit ihrer patriarchalen Ideologie und ihrem strafenden Gott.

Ahmad Mansour

Also begeben die Jugendlichen sich auf die Suche - nach einer Perspektive, nach einem Halt, letztendlich nach dem Sinn des Lebens. Das treibt sie in die Moschee. Auch solche, die aus nicht-religiösen Elternhäusern oder aus alevitischen Familien kommen. Dort sind sie ein gefundenes Fressen für die Salafisten. Deren Anwerbemethoden schildert die Abgeordnete Özdemir wie folgt:

Für die Rekrutierung sind mittlerweile Jugendliche im Alter ab 15 oder 16 Jahren zuständig. Ich glaube fest daran, dass sie von Hintermännern beauftragt werden, andere AltersgenossInnen für den Dschihad zu gewinnen. Dort werden z.B. Videos gezeigt, die etwas anderes darstellen als die Morde, die auch von Jugendlichen aus der BRD begangen werden. Der Berliner Rapper und jetziger Dschihadist Deso Dog verteilt in einem solchen Video Eis an hilfsbedürftige Kinder, lacht mit ihnen, und spricht mit einer emotionalen Stimme. Während die Kinder im Hintergrund lachen und "Allahu Akbar" rufen, ruft er die Jugendlichen auf, sich dem Dschihad anzuschließen. In einem anderen Video liefern er und seine Mitkämpfer sich eine Schneeballschlacht und sagen wie toll doch der Dschihad ist. Sprich: Sie versuchen einen enormen Gruppenzusammenhalt und "Wohltaten" zu vermitteln.

Cansu Özdemir

"Viele Jugendliche sind empört und wütend über weltweite Ungerechtigkeiten"

Das bestätigt auch der Islamwissenschaftler Götz Nordbruch, Mitbegründer des Vereins ufuq.de in einem Interview mit dem NDR:

Einfache Erklärungen gibt es daher nicht. Auffallend sind aber zwei Dinge: Der Salafismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen verspricht eine Gemeinschaft, die in der Regel auch mit sehr starken emotionalen Bindungen einhergeht. Die Szene dient daher für viele auch als Familienersatz, mit allem was dazu gehört an gegenseitiger Solidarität, Empathie und gemeinschaftlichen Ritualen. Hinzu kommen ein Gefühl der Selbstwirksamkeit und ein Selbstverständnis als Kämpfer für eine gerechte Sache. Viele Jugendliche sind empört und wütend über weltweite Ungerechtigkeiten, aber auch über die Situation von Muslimen in Deutschland und alltäglichen Rassismus. Der Salafismus präsentiert sich hier als Lösung, als Mittel, um die Muslime gegen Anfeindungen zu verteidigen und gegen eine vermeintlich ungerechte Politik des Westens gegen "den Islam" vorzugehen.

Götz Nordbruch

Mansour spricht von einem Prozess:

Wir beobachten, dass viele Jugendliche, die anfällig für diese Gruppierungen sind, nach einer Vaterfigur suchen. Sie brauchen Freunde und eine Umwelt, in der sie sich wohlfühlen. Und das finden sie bei diesen Gruppierungen. Es fängt an als eine Art von Religionsannahme. Mit der Zeit wird es zu einer abgeschlossenen Ideologie, in der sie auf jede Frage eine Antwort bekommen. Sie bekommen das Gefühl, dass sie missionieren müssen, um andere Menschen vor ihrem elenden Leben zu retten. Das ist für Jugendliche, die vorher vielleicht ihren Platz in dieser Gesellschaft nicht gefunden haben, unglaublich attraktiv, weil sie sich auf einmal besser fühlen und eine Aufgabe haben

Ahmad Mansour

Dieser Prozess ist auch in Hamburg zu beobachten: Die Jugendlichen verändern sich, entziehen sich mehr und mehr dem Elternhaus. Das sieht Sozialbetreuer Yildirim als Chance:

Dieser Prozess braucht Zeit. Diese Zeit könnte genutzt werden, um auf die Jugendlichen einzuwirken, und sie von diesem Weg wieder abzubringen. In den Schulen und Jugendeinrichtungen ist das nicht möglich, dazu fehlen schlicht das Personal und die Zeit. Aber spezielle Konzepte der Sozialarbeit könnten hier greifen.

Gürsel Yildirim

Allerdings nur, wenn die Eltern sich diesem Problem ehrlich stellen. Yildirim sieht die Gefahr, dass in den betroffenen Elternhäusern verdrängt und vertuscht wird. Er bemängelt zudem, dass von staatlicher und behördlicher Seite nur in den Kategorien "beobachten", "verfolgen" und "bestrafen" gedacht wird. Seiner Ansicht nach sind die Jugendlichen kein Fall für den Verfassungsschutz, sondern sie brauchen gute Betreuung und vor allem eine Perspektive.

Die Erarbeitung und Umsetzung sozialer Konzepte fordern auch Güclü und Die Linke Hamburg und Bremen. Derzeit gibt es nur die Einrichtung KITAP in Bremen, ausgestattet mit einer Vollzeitstelle, die sich zwei Personen teilen, die für ganz Norddeutschland zuständig ist. Güclü regt zudem die Einrichtung eines runden Tisches an. Damit seien gute Erfahrung gemacht worden, u.a. im Falle der Auseinandersetzungen zwischen türkischen Jugendlichen und der Polizei im Hamburger Stadtteil Altona im vergangenen Jahr.

Das ist indes beileibe kein muslimisches Phänomen. Ein politisches Vakuum, das entsteht, kann auch von rechten Seelenfängern gefüllt werden. So werden gesellschaftliche Aufgaben, für deren Bewältigung angeblich kein Geld und Personal da ist, gerne von Rechten übernommen, z.B. die Hartz-IV-Beratung der NPD, deren Kinderfeste und Jugendtreffs. Oder die nette Nachbarin, die morgens immer die Kinder mit zur Schule nimmt - plötzlich kandidiert sie auf der Liste der NPD. Jugendliche, die später dann gegen Asylunterkünfte und ihnen fremdländisch erscheinende Menschen zu Felde ziehen, werden mit Rechtsrock-Konzerten angelockt. Das Prinzip ist dasselbe, und der Ausstieg in beiden Fällen oft sehr schwierig.