Göttliche Biometrie

Bild: Fox / Jelena Vukotic

"I Origins" - ein Kultfilm für Kreationisten?

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I Origins ist ein US-Film, der in den USA als "Science-Fiction" oder "Sci-Fi-Mystery" präsentiert wurde, für den deutschen Markt aber auch als "Wissenschaftsdrama und Liebesgeschichte" bezeichnet wird.

Man sollte stattdessen von einem Wissenschaftler-Bekehrungsdrama sprechen, denn das zentrale Thema ist der Kampf von Rationalismus und Religion - und am Ende gewinnt die Religion. Dafür werden Liebe, Sex und Tod mit viel komödiantischer Ironie rund um Wunder und Wissenschaft drapiert. I Origins gibt der Iris-Biometrie dabei eine entscheidende Rolle, übersieht aber völlig die politische Dimension der Überwachung. Thema verschenkt.

Der Film von Mike Cahill (Drehbuch, Regie und Produktion) dreht sich um Kernfragen einer ideologischen Schlacht im Bibel-Belt der USA, die uns Europäern meist etwas sonderbar anmutet: In der führenden Wirtschafts- und Wissenschaftsnation der westlichen Welt streitet man sich darum, ob im Schulunterricht Darwins Evolutionstheorie auf dem Lehrplan stehen darf. Und wenn ja, ob dabei neben Darwins Ansatz als gleichberechtigte Theorie die biblische Schöpfungsgeschichte bzw. eine kreationistische Modernisierung davon, das sogenannte "Intelligent Design", diskutiert werden muss - wohlgemerkt im Biologieunterricht, nicht in der Religionsstunde.

Der Filmtitel ist ein ironisches Spiel mit der phonetischen Identität von "Ich" und "Auge" im Englischen, denn es geht um unsere Ursprünge, aber auch um die des Auges (eye origins). Damit wird eine uralte Argumentationsfigur des Anti-Darwinismus aufgenommen, mit der bis heute bibeltreue Eiferer vermeintliche Atheisten traktieren: Das Auge sei doch ein viel zu komplexes Organ, um in einer schrittweise ablaufenden Evolution entstanden zu sein. Also muss ein "Intelligent Designer", d.h. Gott, es erschaffen haben und mithin auch uns Menschen.

Bild: Fox / Jelena Vukotic

In I Origins nimmt der beinharte Gottesleugner und Molekularbiologe Ian Gray (Michael Pitt) diese Kontroverse so ernst, dass er im Genpool des Tierreichs nach einem fiktiven Ur-Gen des Ur-Auges sucht. Dank seiner Laborassistentin Karen (Brit Marling) findet er es auch, ausgerechnet im blinden Regenwurm - soweit der Sci-Fi-Teil der Geschichte.

Durch zahlreiche absurde Verwicklungen, die Filmemacher Cahill im wilden Genremix von Lovestory, Slapstick, Tragödie, Sex- und Splattermovie vorantreibt, entdeckt Biologe Ian per Biometrie dann zufällig das Irismuster seiner verstorbenen Geliebten Sofie bei einem siebenjährigen indischen Mädchen. Ein Wunder! Denn keine zwei Iriden (Iris bzw. Iriden bezeichnet nicht nur die Regenbogenhaut im Auge, sondern auch die antiken griechischen Götterbotinnen) sind jemals gleich, nicht einmal bei Zwillingen oder Klonen.

Bild: Fox / Jelena Vukotic

Indien ist eine politisch aktuelle Wahl, denn dort wird das radikalste Biometrie-Programm der Welt betrieben. Menschen, die kaum ein Hemd am Leib und eine Mahlzeit täglich haben, finden sich in einer orwellianischen Iris-Datenbank wieder. Doch diese Problematik übersieht Mike Cahill. Biometrie bleibt bloße Staffage, um seine Kreationisten-Wunderstory voranzutreiben, die ihre spirituelle Reise allerdings in Gefilde einer Wiedergeburtslehre steuert.

Bibel, Sex und Wunder

Gut gelungen ist Mike Cahill die Lovestory von Atheist Ian und Kreationistin Sofi (Astrid Berges-Frisbey). Den theologischen Widerspruch zwischen Sexorgien und Bibeltreue löst er elegant dahingehend, dass hinterher eben geheiratet werden muss. Aber weil das so ja nun auch nicht geht, verschluckt vor dem Ehegelübde noch schnell ein Fahrstuhl des Grauens den Unzucht treibenden Unterleib der gar nicht so reuigen Sünderin. Der schockierte Biologe bleibt beim halbierten Torso zurück, tröstet sich alsbald mit seiner Nerdkollegin aus dem Labor, heiratet, zeugt sechs Jahre später ein Kind und erlebt nach dessen Geburt besagtes Iris-Wunder.

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Molekularbiologe Ian reist also nach Indien, sucht dort verzweifelt das obdachlose Waisenmädchen, findet es und testet es per Fragebogen auf Seelenverwandtschaft mit der Toten von daheim. Mit jener hatte Atheist Ian ein Jahr zuvor zwischen den heißen Sexszenen theologische Debatten, denn sie war nicht nur ein top-attraktives Supermodell mit überentwickelter Libido, sondern auch missionarische Kreationistin.

Als solche trieb sie den erotisch arg strapazierten Nerd mit Argumenten der "Intelligent Design"-Kampagne in die Enge: Der Glaube an die Wissenschaft sei doch auch nur ein Glaube und warum er so borniert diesem anhänge und nicht ihrem, dem Glauben an die Bibel? Weil die Wissenschaft ihre Theorien ändere, wenn neue Fakten auftauchen! Aber habe nicht sogar der Dalai Lama verkündet, er würde seinen Glauben ändern, wenn ihn widerlegende Fakten auftauchen würden? Und was würde Biologe Ian denn tun, wenn er ein Wunder erleben würde? Dann müsste er sich doch zum Bibelglauben bekehren lassen! Angesichts dieser stupenden Argumentationskunst blieb dem staunenden Nerd die Sprache weg.

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Die passende Antwort, dann müsse die Theorie eben etwas mehr geändert werden, aber bestimmt nicht auf Basis von Bibelweisheiten, fiel Ian leider bis Filmende nicht ein. Stattdessen unternahm er eine Wissenschafts-Wallfahrt nach Indien und erlebte zuletzt seine Bekehrung. Wie schon bei der absurden Regenwurm-Genforschung kippt der Film beim psychologischen Seelen-Testing des mit einem Teller Suppe angelockten Waisenmädchens in eine (unfreiwillig?) komische Wissenschaftsparodie.

Wissenschaftlich nicht auf der Höhe erweist sich Mike Cahill auch in Sachen Evolution des Auges. Schon Darwin hatte im vorletzten Jahrhundert seine kreationistischen Widersacher mit dem Nachweis widerlegt, dass sich für diverse Evolutionsschritte sogar heute noch lebende Beispiele finden lassen: Von der lichtempfindlichen Haut des Regenwurms über die Napfaugen der Schnecke bis zu unserem Wirbeltierauge. In der sonderbaren US-Debatte gilt das Auge inzwischen sogar als Argument gegen das "Intelligent Design" -weil man es viel besser hätte designen können:

So genial das Design des Auges erscheinen mag, es verrät seinen Ursprung mit einem bemerkenswerten Konstruktionsfehler: Die Netzhaut ist gleichsam umgekrempelt, ihr Inneres zeigt nach außen. Die Nervenfasern, welche die Signale von den Zapfen und Stäbchen des Auges (die Licht und Farben sehen) weiterleiten, verlaufen oberhalb von diesen - und müssen durch ein Loch in der Netzhaut nach hinten geführt werden, um zum Gehirn zu gelangen. Auf diese Weise entsteht der blinde Fleck. Kein intelligenter Designer würde solch plumpes Flickwerk etwa in einen Camcorder packen. Und dies ist nur einer von Hunderten an ‚Unfällen‘, die -unwiderruflich eingebettet in die evolutionäre Geschichte- die Planlosigkeit dieses historischen Prozesses bestätigen.

Intelligent Design: Wo bleibt die Wissenschaft? Daniel C. Dennett

Kultfilm für Kreationisten?

So fragt man sich am Ende, ob Cahill gezielt einen Kultfilm für Kreationisten schaffen wollte oder ob etwa er selbst und seine komplette Schauspielertruppe zu den Opfern der fundamentalistischen Bildungspolitik im US-Bibel-Belt zählen. Dies ist so unwahrscheinlich nicht, denn Studien zufolge sollen neun von zehn US-Bürgern an der Evolutionstheorie zweifeln. Jeder vierte US-Amerikaner wusste demnach nicht einmal, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt (Neun von zehn US-Amerikanern zweifeln an der Evolutionstheorie).

Bild: Fox / Jelena Vukotic

Man könnte sich angesichts dieser hinterwäldlerischen Zustände selbstgefällig zurücklehnen und über soviel Ignoranz herzlich lachen. Doch erstens ist es eine humanitäre Katastrophe, dass in den USA offenbar Hunderten Millionen Bürgern unter der fadenscheinigen Ausrede der Religionsfreiheit ihr Menschenrecht auf Bildung verweigert wird. Zweitens bleibt so eine kulturelle Fehlentwicklung nicht ohne politische Folgen und die betreffen angesichts der globalen Präsenz der militärischen Supermacht USA uns alle. Was christliche Fundamentalisten in US-Kirchen als Bibelglauben predigen, führt offenbar zu einer dramatischen Abstumpfung gegenüber Gewalt:

Zwar glauben 93% der Amerikaner an Gott, aber 77% gehen auch davon aus, dass Gott die Ungläubigen unendlich lange in der Hölle foltern wird. Es kann daher kaum überraschen, wenn das ‚christliche‘ Amerika wenig Probleme mit dem Thema ‚Gewalt‘ hat (…) In US-Bundesstaaten des sogenannten Bibelgürtels werden mehr Todesurteile vollstreckt als in anderen Bundesstaaten mit Todesstrafe...

Neocons und Theocons, Telepolis-Interview mit T.Barth

Fundamentalismus predigt eine repressive Sexualmoral und die ist, soviel wissen wir seit Wilhelm Reich, Wurzel reaktionärer Ideologien und gewalttätiger Haltungen bis hin zum Faschismus. Wenn in den USA immer wieder Mehrheiten für Regierungen stimmen, die zahllose Länder mit Krieg überziehen und Millionen Ausländer töten, hat dies vermutlich auch mit jenen Glaubenslehren zu tun, die in Cahills I Origins propagiert werden.

Bild: Fox / Jelena Vukotic

Die Masse der US-Bevölkerung wird so durch systematische Verdummung in einem fast mittelalterlichen Weltbild gefangen und damit leicht beherrschbar. Die WASP-dominierten US-Eliten können sich umso elitärer vorkommen und wahlweise als teuflisch schlaue Burschen fühlen, die das Volk so richtig auf’s Kreuz legen (Republikaner). Oder sie sehen sich als edler Geistesadel, der voll patriarchaler Güte die unreifen Massen, nur zu ihrem Besten natürlich, anführen muss (Demokraten) -‚anführen‘ im doppelten Sinne von beherrschen und belügen.

Personelle Lücken im Wissenschaftsbereich werden bequem durch brain-drain-Import von Akademikern geschlossen, was drei Vorteile hat: Man spart die teure Ausbildung, das Absaugen der intellektuellen Elite schwächt deren Heimatländer als US-Konkurrenten und die Nobel-Migranten dienen dankbar den US-Eliten.

Göttliche Biometrie (15 Bilder)

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Wenn die USA laut SIPRI mit weitem Abstand die höchsten Militärausgaben weltweit haben, mehr als dreimal soviel wie China, siebenmal soviel wie Russland, wird dies gegenüber der eigenen Bevölkerung auch religiös gerechtfertigt. Wer sich selbst als gods own country sieht, für den sind die anderen die Bösen, die man töten darf, ja, töten soll. In dieser Logik liegt es auch, die Welt mit einem paranoiden Spionagesystem zu überziehen, wie es im NSA-Skandal enthüllt wurde.

Schließlich muss man wissen, wohin all die Superwaffen schießen sollen, wenigstens so ungefähr. Cahills religiöser Film bestärkt also -bei aller Ironie- womöglich nicht nur die ideologische Basis des US-Militärapparats, er verharmlost mit seiner "göttlichen Biometrie" auch Überwachungstechnik, die Augen und Ohren der Militärs darstellen.