"Mit Hilfe des IS will die Türkei ihren Einfluss auf Syrien ausweiten"

Die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke über die Lage in den kurdischen Autonomiegebieten Syriens, die Bewaffnung der Kurden und die Luftangriffe auf IS-Stellungen

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Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag, bereiste das nordsyrische Krisengebiet von 4. bis zum 21. August 2014 (Waffen für die PKK?). Das Interview wurde am 23. September per Email geführt.

Frau Jelpke, wie schätzen Sie die aktuellen Lage in Nordsyrien und der Rolle der Türkei ein?

Ulla Jelpke: Mit Hilfe des IS - der nach Angaben kurdischer Politiker und Medien auch in den letzten Tagen noch von der Türkei mit Waffen und Munition beliefert wurde - will die Türkei ihren Einfluss auf Syrien ausweiten. Dem IS kommt dabei die Rolle eines Rammbocks gegen die von Ankara als Bedrohung empfundene Selbstverwaltungsregion Rojava im Norden Syriens entlang der Grenze zur Türkei zu.

Der jetzt attackierte Kanton Kobani ist der kleinste der drei mehrheitlich kurdisch besiedelten Kantone, aus denen Rojava sich zusammensetzt. Sollte der IS Kobani erobern, würde das weitere Massaker bis hin zum Genozid an den dort lebenden oder aus anderen Landesteilen dorthin geflohenen Kurden, Arabern, Turkmenen, Aramäern, Armeniern etc. sowie das Ende eines gleichberechtigten Zusammenlebens der verschiedenen Bevölkerungsgruppen im Rahmen einer demokratischen Autonomie bedeuten. Während Ankara einerseits den IS mit Munition und Logistik unterstützt und ihm die Grenze nach Rojava offenhält, wird die neue Flüchtlingswelle aus Kobani nun von der türkischen Regierung als Argument für eine zu schaffende Flugverbots- und Pufferzone in Nordsyrien bemüht.

Wenn die türkische Armee in Nordsyrien - und das bedeutet auch in Rojava - einmarschiert, wäre das allerdings alles andere als eine Schutzzone. Es wäre vielmehr der Versuch, die Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava zu zerschlagen und Westkurdistan militärisch zu besetzen. Letztlich zielt dies auch darauf, die kurdische Bewegung in der Türkei, die im stockenden Friedensprozess mit der AKP-Regierung auch dank der Existenz der Autonomieregion in Rojava aus einer Position der Stärke auftritt, den Willen der AKP aufzuzwingen. Dieser Friedensprozess steht mit dem von der türkischen Regierung unterstützten IS-Angriff auf Kobani vor dem Scheitern.

Eine Flugverbotszone würde sich im Übrigen nur gegen die syrische Regierung, nicht aber gegen den bislang nicht über Flugzeuge verfügenden IS richten. Wir haben in Libyen gesehen, dass eine Flugverbotszone, die ja militärisch durchgesetzt werden muss, der Einstieg zu einem großen Krieg ist. Hier kämen dann die Patriot-Raketeneinheiten der Bundeswehr in der Südosttürkei ins Spiel. Da kann Deutschland ganz schnell in einen Krieg gegen Syrien hereingezogen werden.

Wie beurteilen Sie die aktuellen Luftschläge der USA gegen den IS in Syrien?

Ulla Jelpke: Ich habe schon die Luftangriffe der USA auf IS-Stellungen im Irak kritisiert. Zum einen, weil sich hier die USA, die durch ihre Kriege und Embargos und die Unterstützung der Maliki-Regierung einen Großteil der Hauptverantwortung an der jetzigen Situation tragen, wieder einmal als Retterin aufspielen, anstatt sich endlich ganz aus der Region zurückzuziehen. Und zum anderen, weil ich den militärischen Wert dieser Luftangriffe bezweifele. Denn wir haben schon bei den US-Drohnenangriffen in Afghanistan und Pakistan erlebt, dass diese zwar zu vielen zivilen Toten führen, aber die Taliban nicht stoppen konnten. So denke ich, dass sich auch im Irak - und in Syrien - eine in Dörfern und Städten verschanzte Miliz wie IS nicht wirksam aus der Luft bekämpfen lässt.

Zumindest aus der Ferne habe ich nicht den Eindruck, dass diese Luftangriffe im Irak militärisch bislang viel gebracht haben. Den einzigen nennenswerten Erfolg, den die Peschmerga in den letzten Wochen in Verbindung mit US-Luftangriffen vorweisen konnten, war die Zurückeroberung des Mosul-Staudamms. Im Irak hat die irakischen Zentralregierung immerhin grünes Licht für die US-Angriffe gegeben, während diese in Syrien völkerrechtswidrig erfolgen, da die syrische Regierung solche Angriffe weder angefordert, noch genehmigt hat. Die USA haben ihr Ziel des Sturzes von Assad ja bislang nicht aufgegeben. Jetzt soll dafür die sogenannte gemäßigte syrische Opposition mit neuen Waffen ausgerüstet werden - wer auch immer das sein soll.

Ich sehe durchaus die Gefahr, dass sich diese Luftangriffe in Syrien nur teilweise gegen den IS und vielmehr auch gegen die syrische Regierung richten - insbesondere, wenn gleichzeitig über eine Flugverbotszone beraten wird. Wenn die USA ernsthaft gegen IS vorgehen wollten, sollten sie erstmal Druck auf ihren NATO-Verbündeten Türkei ausüben.

Müsste man angesichts der Eskalation in Rojava weiterhin Waffenlieferungen an die syrischen Kurden ablehnend gegenüberstehen?

Ulla Jelpke: Ich bin keine Pazifistin. Mir ist klar, dass der IS sich nur mit Waffengewalt bezwingen lässt. Ich habe schon während meines Besuches in Rojava im August in einem Interview erklärt, dass die dortigen Volksverteidigungseinheiten YPG natürlich Bedarf an Waffen haben. Der Vorsitzende der in Rojava politisch führenden Partei der Demokratischen Union, (PYD), Salih Muslim, hat gerade in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung deutlich gemacht, dass insbesondere in Kobani ein dringender Bedarf an panzerbrechenden Waffen gegen die - so Muslim - "amerikanischen Panzer des IS" aus irakischen Armeebeständen besteht.

Die YPG und die Frauenverteidigungseinheiten YPJ kämpfen übrigens nicht nur in Rojava seit über zwei Jahren gegen den IS und seine Vorgänger, die Al-Nusra-Front und andere Jihadisten. Sie haben im August auch im Nordirak die zentrale Rolle bei der Rettung zehntausender Jesiden gespielt. Doch über Waffenlieferungen an die YPG spricht niemand. Waffen aus Bundeswehrbeständen und aus anderen europäischen Ländern sollen an die Peschmerga der kurdischen Autonomieregierung im Nordirak gehen. Dagegen gilt die YPG als Ableger der auf der EU-Terrorliste genannten Arbeiterpartei Kurdistans PKK.

Aus Rücksicht auf die Türkei soll die YPG bei Waffenlieferungen leer ausgehen, obwohl sie den Löwenanteil im Kampf gegen den IS leistet. Es muss also zuerst einmal darum gehen, die Kriminalisierung der PKK - und damit letztlich auch der YPG - durch die Terrorliste zu beenden. Weiterhin muss es darum gehen, die von der Türkei und der kurdischen Regionalregierung im Irak gegen Rojava verhängte Grenzblockade zu durchbrechen. Dann hätten die YPG die Möglichkeit, sich die benötigten Waffen und Ausrüstungsgegenstände zu beschaffen. Ich habe mitbekommen, dass es innerhalb einiger Kreise der radikalen Linken in Deutschland Überlegungen gibt für eine Spendenkampagne zugunsten der YPG. Wenn so etwas tatsächlich anlaufen sollte, würde ich das sehr begrüßen.