Nehmt den Rezipienten doch einfach mal ernst

Ein Kommentar zur Krise zwischen Leitmedien und ihren Lesern

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Die Leitmedien befinden sich auf einem fatalen Kurs. Nachdem sie über viele Jahre Kritik der Rezipienten nicht wahrgenommen oder ignoriert haben, sind sie gerade dabei, sich auf einen offenen Schlagabtausch mit ihnen einzulassen. Das kann nicht gut gehen.

Seit einiger Zeit äußern sich Leitmedien immer wieder zu der anhaltenden Kritik an der gebotenen Berichterstattung. Der Tenor lässt sich so zusammenfassen: Nur Leitmedien sind im Besitz des Monopols zur exklusiven und legitimen Deutung der politischen Wirklichkeit. Der Rezipient, der es wagt, den gebotenen Journalismus zu kritisieren, ist entweder nicht in der Lage, die Komplexität der politischen Krisen zu verstehen, er bittet um einfache und eindimensionale Erklärungsmuster, seine Kritik ist nicht fundiert, er kann nicht argumentieren und möglicherweise ist er ein Troll aus Russland.

Eines sollte klar sein: Wenn Vertreter von Leitmedien so über Rezipienten denken, dann schütten sie Benzin in das Feuer eines sich seit Jahren anbahnenden grundsätzlichen Konfliktes zwischen ihnen und ihren Nutzern. Und: Wenn Leitmedien nicht erkennen, dass der Rezipient über eigene Fähigkeiten und Instrumentarien verfügt, mit denen er politische Sachverhalte und Konflikte aufnehmen, deuten und verstehen kann, dann verkennen sie die Lage völlig.

Rezipienten müssen vor den angebotenen Deutungsnarrativen der großen Medien nicht niederknien und sie anbeten. Sie müssen sie noch nicht einmal annehmen. Dem Rezipienten darf zugestanden werden, dass er eine eigene Sicht auf "die Dinge" hat. Und wenn er den gelieferten Journalismus, wie ihn Teile der großen Medien ihm derzeit vorsetzen, kritisieren möchte, darf er das. Er muss sich auch nicht an die immer wieder explizit oder implizit vorgegebenen Grenzen des "legitimen Diskurses", wie sie Vertreter der Leitmedien gerne setzen, halten.

Das zu erkennen und dann darauf durch einen entsprechenden Journalismus einzugehen, in dem echte Debatten und echte Diskussionen geführt werden, wäre ein Schritt, um die Rezipienten wieder für sich gewinnen zu können. Doch stattdessen führen sie eine Art Krieg, den das politische Kabarett auf seine eigene Art verdeutlicht (Generalmobilmachung der Westlichen Medien - Neues aus der Anstalt).

Die aktuellen Reaktionen der ARD-Verantwortlichen auf die Stellungnahme des Programmbeirates (Ukraine-Konflikt: ARD-Programmbeirat bestätigt Publikumskritik), der mit deutlichen Worten Kritik an der Berichterstattung in Sachen Ukraine/Russland übte, zeigen, wie "eigen" die Wahrnehmung der Kritisierten offenbar ist.

Da weist der ARD-Chefredakteur Thomas Baumann die Kritik des Programmbeirats zurück und zwar gleich "energisch", der Intendant der ARD, Tom Buhrow, spricht zu dem noch von einer verletzten Ehre: "Unsere Kolleginnen und Kollegen leisten exzellente Arbeit. Das geht an die journalistische Ehre..

Und in der Überschrift eines aktuellen Artikels der Zeitung Welt, der sich mit der Kritik des Programmbeirates auseinandersetzt, wird es verschwörungstheoretisch: "Putins langer Arm reicht bis in Gremien der ARD". Die Rede ist von "stalinistischen Geheimprozessen", von einem "Dolchstoß aus den eigenen Reihen" oder einer vom Kreml finanzierten "Fünften Medienkolonne".

Sieht so eine konstruktive Kritik mit den Vorwürfen der Rezipienten und des Programmbeirates aus? Nein. Es sieht eher nach dem Kriegsmotto aus: kämpfen, kämpfen, kämpfen. Aber vielleicht können sich die Leitmedien in Zeiten des Gefechts zu einem unkonventionellen Schritt durchringen. Sie könnten einfach den Rezipienten mal ernst nehmen. Der "Krieg" mit ihren Nutzern wäre schnell zu Ende - und alle hätten etwas davon.