Die türkische Beihilfe zum IS-Terror wird ignoriert

Debatte im Bundestag war weitgehend faktenfrei. Belege von Medien über Hilfe des NATO-Partners Türkei für den "Islamischen Staat" spielen keine Rolle

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Auf den ersten Blick waren sich am Donnerstag alle im Bundestag vertretenen Parteien einig: Angesichts der humanitären Katastrophe an der türkisch-syrischen Grenze müsse den Flüchtlingen rasch geholfen werden, hieß es seitens der Unionsparteien, SPD, Grünen und Linken. Bei der Bewertung der Situation und der Rolle der Türkei taten sich jedoch massive Differenzen auf.

Während die Regierungsparteien und die Grünen die Türkei in Schutz nahmen, übten Vertreter der Linken harsche Kritik an dem Vorgehen der Erdoğan-Führung. Dabei ging es zum einen um den Umgang mit den Flüchtlingen aus Syrien. Zum anderen spielen - selbst wenn Vertreter der Regierungsparteien das Thema am Donnerstag beharrlich ignorierten - auch in der deutschen Debatte die immer neuen Hinweise auf die türkische Unterstützung für die Terroristen der Gruppierung Islamischer Staat (IS) eine zunehmende Rolle.

Immerhin einte die Redner in der von der Linksfraktion beantragten Aktuellen Stunde die Erkenntnis, dass den vermutlich Hunderttausenden Flüchtlingen auf syrischer Seite rasch geholfen werden muss. "Ich glaube nicht, dass wir am Ende unserer Kräfte sind", sagte der CDU-Mann Johann Wadephul, während seine SPD-Kollegin Gabriela Heinrich zusagte, sich in den Haushaltsverhandlungen für eine Erhöhung der humanitären Hilfe einzusetzen. Heinrich verwies zugleich darauf, dass die Bundesregierung bereits 600 Millionen Euro für Hilfsmaßnahmen in der Kriegs- und Krisenregion bereitgestellt habe. Die Grünen-Abgeordnete und Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth forderte eine "humanitäre Offensive".

Spätestens bei den politischen Schlussfolgerungen war es mit der Einigkeit jedoch vorbei. Während Vertreter von SPD, Grünen und Unionsparteien den NATO-Partner Türkei gegen die Kritik von links in Schutz nahmen, kritisierte die Oppositionsführerin die Kontakte der Türkei mit den salafistischen Terroristen des IS. Mit dieser Position stehen die Linken nicht so alleine, wie die ungleiche Debatte im Bundestag vermuten ließ.

Medienberichte über türkische IS-Unterstützung

Bereits am 13. September hatte die New York Times (NYT) über die Unterstützung für den IS aus der Türkei berichtet. Unter Bezug auf US-Diplomaten beschrieben die Autoren, wie der "Islamische Staat" erbeutetes Erdöl über Schmuggelrouten in die Türkei schafft und dort auf dem Schwarzmarkt verkauft.

In internen Beratungen habe man im US-Außenministerium daher bereits erwogen, Tankwagen mit dem geschmuggelten Erdöl anzugreifen. "Das bleibt weiterhin eine Option", zitiert die NYT einen US-Regierungsvertreter - selbst wenn dann womöglich auch türkische Staatsbürger betroffen wären.

Spätestens seit Beginn der US-geführten Angriffe auf IS-Stellungen in Syrien führe die mangelnde Kontrolle der Grenze zu Syrien durch die türkischen Behörden zu wachsenden Spannungen zwischen Washington und Ankara, schreibt die Zeitung, zumal die Regierung von Barack Obama davon ausgeht, dass die Türkei den Strom von Erdöl in die eine Richtung und von neuen IS-Kämpfern in die andere Richtung jederzeit unterbinden könnte.

Die NYT bestätigte mit dem Artikel - der ihr heftige Kritik von türkischen Regierungsvertretern einbrachte - Berichte türkischer und kurdischer Medien über den regen Austausch von IS-Gruppen sowie Unterstützern in der Türkei und Syrien.

  • Am 22. September berichtete die türkische Tageszeitung Hürriyet über die Behandlung eines verwundeten IS-Kämpfers in einem grenznahen türkischen Krankenhaus. Der Mann würde intensivmedizinisch versorgt, schrieb die Zeitung unter Berufung auf einen Arzt des Hauses.
  • Am 20. September gab das Portal Muhalefet.biz Aussagen kurdischer Milizen der "Volksverteidigungseinheiten" (YPG) wieder, nach denen die eigenen Leute drei IS-Rekruten gefasst haben. Neben zwei belgischen Staatsbürgern habe es sich um einen Mann mit französischem Pass gehandelt.
  • Am 13. September veröffentlichte die in Istanbul erscheinende Tageszeitung Radikal eine Reportage mit Bildern über den Erdölschmuggel des IS aus den von der Terrorgruppe kontrollierten syrischen Gebieten in die Türkei.
  • Am 25. September publizierte die Nachrichtenseite Firatnews.com Bilder eines jungen Islamisten aus Deutschland, der bei dem Versuch, sich dem IS anzuschließen, von kurdischen Milizen aufgegriffen wurde. Der junge Mann wurde seiner Familie übergeben. (Hier die deutsche Übersetzung einer Meldung über den Fall.)

Flüchtlingsdrama wird produziert und instrumentalisiert

Während die türkisch-syrische Grenze für die radikalen Salafisten des IS also durchlässig ist, haben türkische Soldaten und Mitglieder der paramilitärischen Gendarmerie Barrieren gegen die Flüchtlinge errichtet. Am vergangenen Wochenende war es vor diesem Hintergrund nach Zeugenberichten zu Auseinandersetzungen zwischen den staatlichen Kräften und kurdischen Anwohnern auf türkischer Seite gekommen, die den Flüchtlingen zur Hilfe geeilt sind.

Den Beobachtungen vor Ort entgegen gibt die türkische Regierung die Zahl der Neuankömmlinge aus Syrien mit 130.000 an. In der Bundestagsdebatte am Donnerstag sprach die Grünen-Abgeordnete Claudia Roth mehrfach sogar von 1,5 Millionen Menschen aus Syrien, die bereits in der Türkei Zuflucht gefunden hätten. Diese hohen Zahlen werden weitgehend von der türkischen Regierung übernommen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR spricht indes von gut 847.000 Vertriebenen aus Syrien in der Türkei. Dabei hat auch die UN-Institution die Zahlen der türkischen Behörden übernommen. Anders als etwa im Libanon, wo die aus Syrien Geflüchteten von den UN-Mitarbeitern selber erfasst werden. Hier die Gesamtübersicht der Flüchtlingszahlen.

Der Grund für die unglaubwürdig hohen Angaben über aufgenommene Syrien-Flüchtlinge in der Türkei hat maßgeblich zwei Gründe. Zum einen versucht die Erdoğan-Führung, ihr Engagement politisch auszuschlachten. Zum anderen kommt ihr eine Dramatisierung des mitverschuldeten Flüchtlingsdramas bei ihren militärischen Planungen zupasse. Denn die Führung in Ankara versucht seit geraumer Zeit, eine demilitarisierte Pufferzone in Nordsyrien durchzusetzen, wozu das unilateral entschiedene Eingreifen der USA auf syrischer Seite ein erster Schritt sein könnte.

Zum anderen plädieren Vertreter der Erdoğan-Führung für eine Flugverbotszone in der gesamten Region. Die türkische Armee wäre dann die einzig verbleibende reguläre Kraft in der Region und hätte eine deutlich günstigere Position gegen die im Kampf gegen den IS-Terror gerade wieder erstarkenden kurdischen Kräfte.

Öffentlich versicherte die türkische Regierung nach der Verabschiedung der Resolution des UN-Sicherheitsrats zumindest, diese umzusetzen. Die Länder sind aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen, mit denen die Bewegung von Terroristen durch wirksame Grenzkontrollen, die Finanzierung, die Werbung, die Rekrutierung und Ausbildung von Kämpfern, aber auch die Planung und die Unterstützung etwa über Medien wie das Internet verhindert werden sollen.

Bundestagsdebatte weitgehend faktenfrei

Auch wenn die Informationen über die türkische Verstrickung in den IS-Terror langsam auch in die deutsche Debatte einfließen, ignorierte ein Großteil der Abgeordneten im Bundestag die zunehmenden Indizien bei der Aussprache am Donnerstag. "Die Art und Weise, wie Sie hier den plakativen Vorwurf gegen die türkische Regierung ohne jegliche Unterlegung von Fakten erheben, macht eine konstruktive Kritik nicht einfach", sagte der SPD-Mann Niels Annen gegenüber den Rednern der Linksfraktion. In einem herberen Ton wies der Christdemokrat Wadephul die Position der Linken zurück: "Dass Sie auf solch eine billige Art und Weise Ihre wohlbekannte Kritik an der Türkei wiederholen und eine Wende in der deutschen Außenpolitik zu fordern, stimmt heute noch trauriger als das Flüchtlingsschicksal". Eine inhaltliche Auseinandersetzung über die Haltung der türkischen Regierungspartei AKP zu Vertretern der Terrormiliz IS oder die unzureichende Kontrolle der Grenze fand nicht statt.

In einer Mitteilung bekräftigten gestern die linken Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko und Ulla Jelpke die Vorwürfe gegen die türkische Regierung:

"Der Kanton Kobane im Norden Syriens wird seit Donnerstag vom "Islamischen Staat" (IS) von fünf Seiten mit schweren Waffen angegriffen. Der IS setzt dabei 50 Panzer und schwere Waffen ein, die Augenzeugen zufolge teilweise aus der Türkei über die Grenze transportiert wurden.

"Die Türkei will offenbar mit Hilfe des IS die Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava, in denen sämtliche Bevölkerungs- und Religionsgruppen die Gesellschaft gemeinsam gestalten, zerstören", kritisiert Martin Dolzer, Soziologe und Menschenrechtler, der gerade von einer Delegation aus der Region zurückgekehrt ist.

Schon seit langem arbeitet die AKP-Regierung mit dem IS zusammen. Nun fordert sie zynischerweise genau in Rojava eine Pufferzone, die darauf hinauslaufen würde, dass die Türkei militärische Kontrolle über das Gebiet erlangen würde. Kurdische Menschenrechtsorganisationen aus der Türkei berichten, dass etwa 20.000 Flüchtlinge vor dem IS aus Kobane in die Türkei geflohen seien - und nicht wie von Regierungsvertretern behauptet 130.000. Diese Desinformationspolitik sei der Strategie geschuldet, Kobane zu entvölkern."

Im Krisengebiet haben die US-geführten Kräfte gestern zum zweiten Mal Erdölanlagen bombardiert, die von dem IS erobert worden waren. Damit soll die wichtigste Einnahmequelle der Extremisten zerstört werden, hieß es aus Washington. Die Schmuggelrouten in die Türkei blieben weiter verschont. Nach Berichten arabischer Medien wurde auch der irakische Grenzort Al-Kaim angegriffen. Dabei seien 30 IS-Kämpfer ums Leben gekommen, berichtete der arabische Nachrichtensender Al-Arabija am Freitag. Im Osten Syriens sei unter anderem das Ölfeld Al-Tanak in der Nähe der Stadt Dair as-Saur bombardiert worden, so die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Zudem seien IS-Stellungen in der Provinz Hasaka angegriffen worden. Die syrische Nachrichtenseite Zaman al-Wasl meldete, dort seien sieben Mitglieder einer Familie getötet worden, darunter Kinder und Frauen.