Die Schere spreizt sich wieder

Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat die Verschärfung der Einkommensunterschiede in Deutschland gebremst. Aber nur vorübergehend

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In den USA rege sich kaum jemand über große Einkommensunterschiede auf, notierte das Institut der deutschen Wirtschaft im Sommer dieses Jahres. In der Mitte Europas sei das völlig anders. Tatsächlich hatten in einer Umfrage des International Social Survey Programme mehr als die Hälfte der Deutschen und über zwei Drittel der Franzosen zu Protokoll gegeben, dass sie die Einkommensunterschiede in ihren Ländern für zu groß hielten. "Irren ist menschlich", befand das wirtschaftsfreundliche Institut nachsichtig, denn die meisten Bürger befänden sich schließlich in der Mitte der Gesellschaft. Die Einkommensverteilung gleiche "einem Ei oder dem Michelin-Männchen", habe also "sehr ausgewogene Proportionen".

Ungleichheit in der Langzeitperspektive

Dass die (steigende) Einkommensungleichheit in den USA kein Aufreger ist, stimmt selbstverständlich nicht. Und die Geschichte der Einkommensverteilung im wiedervereinigten Deutschland hat mit Eiern und Michelin-Männchen ebenfalls wenig zu tun. Von 1991 bis 2005 stieg der sogenannte Gini-Koeffizient, mit dem Einkommensunterschiede gemessen werden, nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung von 0,41 auf 0,5. Was sich hinter der auf den ersten Blick überschaubaren Erhöhung verbarg, beschrieb die OECD bereits in ihrer Studie "Income Distribution and Poverty in OECD Countries":

Seit dem Jahr 2000 haben in Deutschland Einkommensungleichheit und Armut stärker zugenommen als in jedem anderen OECD-Land. Der Anstieg zwischen 2000 und 2005 übertraf jenen in den gesamten vorherigen 15 Jahren (1985-2000).

OECD (2008)

Das Jahr 2005 schien allerdings auch einen Wendepunkt zu markieren. Die konjunkturelle Gesamtwetterlage und die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt führten - ebenfalls nach Analysen des DIW Berlin - zu einer Absenkung des Gini-Koeffizienten, die in Ostdeutschland neun und im Westen drei Prozent betrug. Die Frage der DIW-Experten, ob der Höhepunkt der Einkommensungleichheit in Deutschland überschritten sei (Ist der Höhepunkt der Einkommensungleichheit in Deutschland überschritten worden?), erwies sich gleichwohl als rhetorisch, denn seit 2011 ist der Umkehrtrend gestoppt (Ungleichheit zwischen Arm und Reich nimmt zu, die soziale Mobilität wird immer geringer. Nach den aktuellen Zahlen schließt sich die Einkommensschere nicht weiter, die Armutsrisikoquote stagniert bei etwa 14 Prozent und die Einkommensmobilität hat sogar deutlich abgenommen.

So befanden sich 44 Prozent der im Jahr 1994 einkommensarmen Personen drei Jahre später noch in der gleichen Position. Im Zeitraum zwischen 2008 und 2011 ist der entsprechende Anteil auf 54 Prozent gestiegen. Auch am oberen Rand der Einkommenshierarchie nahm die Einkommensmobilität ab: Personen mit einem Einkommen von 200 Prozent und mehr des Medianeinkommens blieben zwischen 1994 und 1997 nur zu 59 Prozent in ihrer Einkommensklasse, seit 2004 trifft dies auf 65 Prozent zu.

DIW Berlin (2013)

Erwerbseinkommen oder Kapitaleinkommen?

Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung beleuchtet in einer neuen Untersuchung, die in Zusammenarbeit mit der Arbeiterkammer Wien und der Universität Tübingen entstand und auf Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) basiert, nun die näheren Umstände der Jahre 2005 bis 2010. Nach einer gesonderten Analyse des Erwerbs- und Kapitaleinkommens kommt das Forscherteam um Gustav A. Horn zu dem Schluss, dass die Entwicklung am Arbeitsmarkt und der weitgehend erfolgreiche Umgang mit der Finanz- und Wirtschaftskrise nur sehr bedingt dazu beigetragen haben, eine weitere Verschärfung der Einkommensunterschiede zu verhindern. Von atypischen Beschäftigungsverhältnissen sind nach Einschätzung der Autoren schon ab 2008 wieder "ungleichheitserhöhende Effekte" ausgegangen, während die Kapitaleinkommen in der Finanzkrise deutlich gesunken seien.

Die scheinbare Trendwende der Entwicklung der Einkommensungleichheit ab Mitte der 2000er Jahre wurde in erster Linie durch die Veränderungen in der Verteilung atypischer Erwerbseinkommen eingeläutet. Dieser Trend hielt während der Krise der Jahre 2009 und 2010 allerdings nicht an. Die Entwicklung der Erwerbseinkommen wirkte hier wieder ungleichheitserhöhend. Dieser Effekt wurde jedoch vom Einbruch der Kapitaleinkommen überkompensiert. Deshalb nahm die Ungleichheit der Einkommen Ende der 2000er Jahre nicht mehr signifikant zu.

IMK (2014)

Nachdem sich die krisenhaften Turbulenzen gelegt haben, sind auch Unternehmensgewinne und Einkünfte aus Vermögen aller Art wieder gestiegen. Die kurze Pause in Sachen steigender Einkommensungleichheit dürfte damit schon wieder vorbei sein. Für die Jahre 2012 bis 2014, für die derzeit noch keine verlässlichen Daten vorliegen, rechnen die IMK-Forscher mit einem Anstieg der Einkommensunterschiede. Sie plädieren deshalb für die gezielte Umwandlung atypischer in reguläre Beschäftigungsverhältnisse, eine Reaktivierung der Vermögensteuer und eine Abschaffung der pauschalen Abgeltungssteuer auf Kapitaleinkommen.

Ungleichheit als Strukturmerkmal I: Bildung

Der jüngste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung stellt fest, dass die Haushalte "in der unteren Hälfte der Verteilung" über rund ein Prozent des gesamten Nettovermögens verfügen, während mehr als die Hälfte auf die vermögensstärksten zehn Prozent entfällt. Der Vermögensanteil des obersten Dezils sei "im Zeitverlauf immer weiter angestiegen", heißt es in der 549-seitigen Untersuchung.

Dass Ungleichheit, wie sie sich in der Verteilung der Erwerbs- und Kapitaleinkommen manifestiert, zum gesellschaftlichen Strukturmerkmal taugt, zeigen allerdings auch andere Studien aus jüngster Zeit. So etwa die viel diskutierten Auswertungen von Gender Income Gap und Gender Tax Gap über fortwährende Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen oder die OECD-Untersuchung "Bildung auf einen Blick", die vor einigen Wochen einen eklatanten Einkommensunterschied zwischen unterschiedlichen Bildungsstufen diagnostizierte, der sich über die Jahre immer weiter verschärft hat:

2012 verdienten Hochqualifizierte 74 Prozent mehr als Erwerbstätige, die nach der Realschule oder dem Gymnasium weder zur Uni noch zur Fach(hoch)schule oder in einen Meisterkurs gegangen waren. Im Jahr 2000 hatte dieser Vorsprung erst bei 45 Prozent gelegen.

OECD (2014)

Laut OECD droht Deutschland nicht nur eine ""Aushöhlung der Mitte", sondern auch eine "brisante" Einkommensentwicklung in der unteren Hälfte des Lohnspektrums.

Setzt man das durchschnittliche Einkommen von 25- bis 64-Jährigen mit Abitur oder Berufsschulabschluss (Sekundarbereich II) auf einem Index gleich 100, so lag das Einkommen von Erwachsenen ohne einen solchen Abschluss im Jahr 2000 im OECD-Durchschnitt bei 80 und ging bis 2012 auf 76 zurück. In Deutschland verringerte sich der Abstand zwischen Einkommen der mittleren und der untersten Bildungsstufe im gleichen Zeitraum zwar etwas, allerdings eher, weil sich die Lage der mittelgut Qualifizierten und Verdienenden jener mit niedrigem Verdienst und niedriger Qualifikation annäherte.

OECD (2014)

Die Protagonisten einer vermeintlich sozialen Marktwirtschaft weisen mit schöner Regelmäßigkeit darauf hin, dass es nicht auf Verteilungs-, sondern auf Chancengerechtigkeit ankomme, aber auch in diesem Bereich kann Deutschland seltener punkten als es der Bundesregierung lieb sein sollte. Die alte Volksweisheit "Mein Kind soll es einmal besser haben!" gilt möglicherweise nur noch für 24 Prozent des Nachwuchses.

Insgesamt ist die Bildungsmobilität in Deutschland so gering wie in kaum einem anderen OECD-Land: 58 Prozent aller Erwachsenen zwischen 25 und 64 Jahren haben den gleichen formalen Bildungsstand wie ihre Eltern, 24 Prozent sind besser ausgebildet und 18 Prozent bleiben hinter den Qualifikationen ihrer Eltern zurück.

OECD (2014)

Ungleichheit als Strukturmerkmal II: Kaufkraftarmut

Wenn das schon eingangs zitierte Institut der deutschen Wirtschaft Köln, wie im August geschehen, eine Studie über Einkommensarmut publiziert, die wegen der Berücksichtigung des regionalen Preisniveaus eigentlich eine Untersuchung zum weniger gebräuchlichen Thema "Kaufkraftarmut" ist, lohnt sich ein Blick auf die Ergebnisse.

Der Begriff "Kaufkraftarmut" bezieht sich auf Bundesbürger, die über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) verfügen können - die Preise und Lebenshaltungskosten vor Ort werden dabei eingerechnet.

"Armut ist urban" heißt es in der Präsentation, denn "kaufkraftarm" sind nur 14 Prozent der ländlichen, aber schon 22 Prozent der städtischen Bevölkerung. Die kaufkraftbereinigte Armutsquote ist demnach in Köln am höchsten. 26,4 Prozent erreichen Dortmund (25,5 Prozent), Bremerhaven und Leipzig (24,3 Prozent) oder Duisburg (24,1 Prozent) nicht. Doch insgesamt liegen mehr als ein Dutzend Städte über der 20-Prozent-Marke. Ganz anders sieht es in den Betrachtungsgebieten Erlangen-Hächstadt, Fürth, Nürnberger Land und Roth beziehungsweise Dillingen an der Donau, Donau-Ries, Aichach-Friedberg und Augsburg aus, die mit 8,5 beziehungsweise 8,3 Prozent die geringste Kaufkraft-Armut aufweisen. Viele der Betroffenen haben nach Einschätzung der Ökonomen trotzdem ein ganz ähnliches Profil.

So gelten knapp die Hälfte der Personen, in deren Haushalt mindestens ein Arbeitsloser lebt, knapp ein Drittel der Alleinerziehenden sowie rund ein Viertel der Alleinstehenden und der Personen mit Migrationshintergrund als kaufkraftarm.

Institut der deutschen Wirtschaft Köln (2014)