Kriegsberichte vs. kriegerische Berichte

ARD-Leak provoziert harte medienpolitische Kontroverse. Redakteure greifen Mitglieder des ARD-Rundfunkbeirats scharf an. Albrecht Müller fordert stärkere Rolle für das Publikum

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Die Veröffentlichung einer vertraulichen Analyse des ARD-Programmbeirats durch Telepolis führt zu einer breiten Diskussion in den Medien. Während die Leitung der Tagesschau immerhin mögliche Fehler einräumt, weisen andere Programmverantwortliche den Vorwurf einer tendenziösen Berichterstattung "scharf" zurück. Der Programmbeirat erfährt unterdessen breite Unterstützung durch das Publikum. An eine selbstbewusste Fünfte Macht - das Publikum - appelliert auch Albrecht Müller, der Herausgeber der Nachdenkseiten.

Stilleben in der Ostukraine. Bild: NovorossiaNews

Eine Woche nach der Veröffentlichung eines internen Dokuments des ARD-Programmbeirats verschärft sich der Ton zwischen Kritikern der Ukraine-Berichterstattung und der Leitung von ARD und ZDF. Gegenüber Spiegel-Online wies der Vorsitzende des ARD-Programmbeirats, Paul Siebertz, deutlich den Vorwurf zurück, Mitglieder seines Gremiums hätten die Ergebnisse ihrer Analyse an Telepolis weitergereicht. "Das Protokoll ist nicht von unseren Mitgliedern durchgestochen worden."

Außerdem verteidigte er deutlich die negative Einschätzung der ARD-Berichterstattung über den Ukraine-Konflikt. "Viele Deutsche teilen die Kritik, das zeigen auch viele kritische Bemerkungen etwa im Forum von Spiegel-Online", so Siebertz: "Die Kommentierungen waren ja ganz bemerkenswert."

Wenige Tage zuvor hatte das Internet-Portal des bekannten Wochenmagazins den Beirat hart angegriffen. Moskau-Korrespondent Benjamin Bidder bezeichnete das Gremium dort als den "sogenannte ARD-Programmbeirat" und bezweifelte anhand ausgewählter Beispiele aus ARD-Sendungen die Kompetenz des "Laien-Gremiums". Zudem behauptete der Artikel, das von Telepolis veröffentlichte und äußerst kritische Resümee des Beirats sei "aus dem Zusammenhang gerissen". Ein 23-seitiges Sitzungsprotokoll unter dem Titel "Aussprache über die Berichterstattung zur Ukraine-Krise" wäre hingegen "deutlich abwägender formuliert", spekuliert der Russland-Korrespondent. Die Reaktion des Publikums ließ nicht lange auf sich warten. Nach 187 größtenteils extrem unfreundlichen Kommentaren schloss Spiegel-Online das Diskussionsforum bereits am nächsten Tag.

"Kein Grund, sich zu entschuldigen"

Am Montag setzten sich in der ARD etwa 30 Redakteure zusammen, unter anderem aus den Redaktionen Tagesschau und der Tagesthemen, um die Kritik von Nutzern, Zuschauern und Aufsichtsgremien zu diskutieren. Der Chefredakteur von ARD-aktuell, Kai Gniffke, fasst die Diskussion in einem Blog-Beitrag zusammen. Vor ihre selbstkritische Einschätzung setzen die ARD-Journalisten zunächst einen Haftungsausschluss: "Wir haben stets nach bestem Wissen und Gewissen sowie sorgfältiger Recherche berichtet. Es gibt keinen Grund, sich für Fehler zu entschuldigen."

In der Sache räumen die Mitarbeiter von ARD-aktuell jedoch ein, dass sie "dem Nachrichten-Mainstream zu leicht gefolgt" seien. Einige Aspekte, die der Programmbeirat in seiner internen Analyse monierte, scheinen nun nachträglich auch in den Redaktionen besprochen zu werden. So hätte man möglicherweise "früher rechte Gruppierungen in der Ukraine" thematisieren sollen. Auch hinsichtlich der angeblichen "OSZE-Beobachter" wären andere Formulierungen angebracht gewesen.

In den zahlreichen Kommentaren fragen Leser jedoch sofort nach strukturellen Konsequenzen: "Einfach nur ein Schäufelchen guten Willen draufzupacken, dürfte bei einer solch umfangreichen und angeblich ach-so-qualifizierten Nachrichtenarbeit wohl nicht reichen. Gleiche Struktur und Arbeitsweise wird immer die gleichen Resultate erzielen, sagt der gelernte Organisator."

Mit Kritik konstruktiver umgehen

Aus den Beiräten der öffentlich-rechtlichen Medien, welche die interne Debatte angestoßen hatten, äußerte sich öffentlich bisher nur der Vorsitzende des Programmausschusses des RBB, Dieter Pienkny. Der Vertreter des DGB vertrat den Ausschuss der Landesanstalt bis 2013 über lange Jahre auch im Programmbeirat der ARD. Mit Blick auf die Ukraine-Berichterstattung bestätigt Dieter Pienkny, dass in mehreren Rundfunkräten und auf Seiten der Zuschauer "sehr viel Kritik hochkam". Zwar könne er nachvollziehen, dass der ARD-Programmbeirat seine Ergebnisse nicht öffentlich präsentieren darf. Aber jetzt, wo das Thema auf dem Tisch liegt, ist es für ihn nicht verständlich, dass "die ARD sich in den Schmollwinkel zurückzieht oder das Thema nur mit spitzen Findern anfasst". Und er warnt die Programmverantwortlichen, dass sich die Zeiten geändert haben: "Das Internet treibt uns teilweise vor sich her."

Dieter Pienkny erwartet, dass die ARD-Intendanten mit der geäußerten Kritik "etwas konstruktiver umgehen". Der Programmbeirat habe es sich als ein neunköpfiges Gremium, das "sehr pluralistisch besetzt" ist, mit seiner Kritik nicht einfach gemacht, weiß Pienkny. "Wenn die ein Votum einstimmig fällen, sollte man das ernster nehmen und es nicht einfach so vom Tisch wischen." So müsste die ARD auch eingestehen können, wenn es Verzerrungen bei den Berichten aus Krisenregionen gibt. "Jeder Journalist ist in gewisser Weise imprägniert, hat einen bestimmten kulturellen und politischen Hintergrund", berichtet das erfahrene Beiratsmitglied.

"Danach beurteilen wir Russland"

Mit seiner Kritik bezieht sich das ehemalige Mitglied des ARD-Programmbeirats auf die bisher vorliegenden Reaktionen von ARD-Chefredakteur Thomas Baumann und WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn. In ersten Kommentaren hatten sie vor allem ihre Solidarität mit den Auslandskorrespondenten zum Ausdruck gebracht und darauf verwiesen, dass die Untersuchung durch den Beirat nicht repräsentativ für das Gesamtprogramm sei.

Der ARD-Chefredakteur Thomas Baumann bezeichnete die kritischen Anmerkungen des Programmbeirates öffentlich als "nicht zutreffend". Nach gewissenhafter Prüfung habe man feststellen müssen, dass "alle Vorwürfe in sich zusammenfallen". Er verwies darauf, dass die neun Mitglieder des Beirates nur ausgewählte Sendungen bewertet hätten. So seien die "Hauptnachrichtenachsen" wie die Tagesschau oder die Tagesthemen gar nicht Gegenstand der Bewertung gewesen, glaubt Baumann. "Da gibt es aus meiner Sicht ein methodisches Problem."

Zudem verweist auch Thomas Baumann auf einzelne Sendungen, in denen die angemahnten Defizite, wie etwa die Interessen der Nato bei der Osterweiterung, thematisiert wurden. Er unterstellt, der Beirat würde erwarten, dass "immer alle Aspekte in einer einzelnen Sendung" auftauchen würden. "Das geht natürlich nicht", so der Chefredakteur der ARD, denn "wir berichten komplementär".

Jörg Schönenborn, Fernsehdirektor des WDR, setzt in einem Gespräch mit Journalisten seines Hauses einen deutlich selbstbewussteren Akzent: "Wir sind nicht neutral, wir arbeiten wertgebunden", so Schönenborn. Er verweist etwa auf das WDR-Gesetz, dem zufolge insbesondere Werte wie "Menschenrechte, Völkerverständigung, europäische Einigung, Gewaltfreiheit und Frieden" zu beachten seien. "Danach beurteilen wir Russland", argumentiert Jörg Schönenborn.

Insgesamt bewertet er die Ukraine-Berichte der ARD als "vielfältig, differenziert und klug". Natürlich gebe es in der Bevölkerung diejenigen, die "weiter sowjet- oder russlandnah empfinden" und einen Krieg unter allen Umständen verhindern wollten. Unter Verweis auf seine Erfahrungen als Demoskop betrachtet Jörg Schönenborn diese Kritik aus dem Publikum wie auch aus dem Programmbeirat als eine "Minderheitenmeinung von zehn bis zwölf Prozent der Bevölkerung".

Springer markiert verbotene Positionen

Mit dem Gespenst Sowjetunion versuchten auch die Medien des Axel-Springer-Konzerns ihre Leser von der Debatte abzuschrecken. Politikredakteur Ulrich Clauß garnierte seinen Beitrag sogar mit der Karikatur eines Russenmonsters, das der Nazi-Bilderwelt von der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung entsprungen zu sein scheint. Die Kontrolle eines öffentlich-rechtlichen Senders durch Vertreter der Zivilgesellschaft erinnere ihn "an sowjetische Geheimprozesse", beklagt sich Springer-Redakteur Clauß, der seine Karriere in verschiedenen Sendern des Öffentlich-Rechtlichen begonnen hatte, etwa beim Sender Freies Berlin (SFB) und im Mitteldeutschen Rundfunk (MDR).

Heute halluziniert Ulrich Clauß, dass "Putins langer Arm bis in Gremien der ARD" reicht, und wärmt zum wiederholten Mal die unter Journalisten beliebte Mär auf, vom "Kreml finanzierte Heerscharen" würden die deutsche Öffentlichkeit beeinflussen. Etwaige deutsche Abweichler von der kriegerischen Linie seines Verlags summierte er unter dem Begriff "Fünfte Medienkolonne".

Dieser journalistische Komplettausfall ging selbst langjährigen Lesern von Welt-Online zu weit. Leser Ali Mente (817 Beiträge) kommentiert: "Sie sollten Gegenpol zu den von den Parteien beherrschten Fernsehanstalten sein. Folge: Der mündige Bürger liest im Internet quer." Zahlreiche andere empfahlen als alternative Informationsquelle auf die ZDF-Show Die Anstalt, welche die Themen für ihre Sketche unter anderem bei Telepolis findet.

Dieses Bedürfnis nach seriöser Information in schwierigen Zeiten scheint deren Machern durchaus bewusst zu sein. "Da stimmt etwas an der Rollenverteilung nicht", so Max Uthoff, "früher haben die Journalisten Journalismus gemacht und wir Satire. Und jetzt dreht sich das ein bisschen um." Dazu siehe auch das Gespräch mit Max Uthoff und Claus von Wagner: "Journalisten scheinen sich förmlich im Schützengraben einzubuddeln".

Deutliche Kritik bereits im März

Dass die Auslandsberichterstattung über Russland und die Ukraine über weite Strecken zur Karikatur verkommen ist, fiel aber nicht nur dem Publikum auf. In einigen wenigen Beiträgen fragten sich auch deutsche Journalistinnen frühzeitig, wann Berichterstattung über Kriege zu einer kriegerischen Berichterstattung mutiert.

So berichtete etwa die Süddeutschen Zeitung über die Diskussion in angelsächsischen Medien, vermutlich auch mangels kritischer deutscher Experten. Sie verweist darauf, dass der australische Journalist Antony Loewenstein im Guardian die extreme Personalisierung analysierte, mit der Journalisten den Konflikt auf die Person von Wladimir Putin reduzieren. Dass dieser Trend zum selben Zeitpunkt auch in deutschsprachigen Medien ablief, dürfte sich kaum als Zufall herausstellen. Ein Merkmal für das Umkippen von Kriegsberichterstattung in kriegerische Berichterstattung ist es offensichtlich, dass der Gegner auf eine repräsentative Figur reduziert wird, deren Persönlichkeitsmerkmale sich einfach negativ beschreiben lassen (Die wahrhaften Putin-Versteher).

Zum selben Zeitpunkt beschrieb Petra Sorge im Cicero, wie deutsche Redaktionen einerseits selektiv auf PR-Quellen der ukrainischen Opposition zurückgriffen. Andererseits kündigte Die Zeit ihrem freien Mitarbeiter Moritz Gathmann, weil der zeitweilig auch für "Russland Heute" gearbeitet hatte (Chaos bei Zeit Online: Mal gilt der Ethik-Kodex, mal gilt er nicht). Auch das kriegerische Wording der Redaktion, die schon in frühen Phasen des Konflikts von "attackieren", "beschießen" und "Krieg" faselten, ohne dass auch nur ein einziger Schuss gefallen war, thematisierte die Autorin.

Sie zitierte zudem den Osteuropahistoriker Wilfried Jilge, der kritisiert, dass die Situation medial als ein ethnischer Konflikt in einer Ost-West-Trennung beschrieben wurde. Weder sei die östliche Region der Ukraine en bloc pro-russisch, noch identifiziere sich jeder russischsprachige Einwohner mit Moskau. Die Darstellung als ein polarisierter ethnischer Konflikt sei falsch und gefährlich, so Jilge. Derartige Fehlannahmen lassen sich seiner Meinung nach darauf zurückführen, dass es nicht einen einzigen deutschen Korrespondenten in der Ukraine gab. "Die Korrespondenten, die jetzt nach Kiew einfliegen, kommen allesamt aus Warschau oder Moskau."

Ebenfalls im März schrieb Vera Kern eine Übersicht zu medienkritischen Debatten für die Deutsche Welle. Sämtliche Osteuropa-Experten, die darin zu Wort kommen, rechnen mit scharfen Worten mit der Berichterstattung ab. Hanno Gundert, Geschäftsführer vom Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung n-ost, kritisiert, die gesamte Berichterstattung sei von Schwarz-Weiß-Positionen geprägt. Simon Weiß, Politikwissenschaftler an der Universität Heidelberg, monierte eine beinahe lächerliche Schemenhaftigkeit der Berichte: "Hier der Westen, da der finstere Herrscher und das finstere Russland - Fortschritt gegen Korruption." Die deutschen Medien, so Weiß, hätten eine "sehr ähnliche Sichtweise" auf den Konflikt in der Ukraine wie die Bundesregierung - nämlich einseitig und unausgewogen.