Das Teilchen, das es nicht gibt

Bild eines nur ein Atom breiten Eisendrahtes auf einer Bleioberfläche unter dem Rastertunnelmikroskop. Der vergrößerte Bereich zeigt die Wahrscheinlichkeitsverteilung, mit der sich dort ein Majorana-Fermion befindet. Tatsächlich hat es auch die Theorie an dieser Stelle vorausgesagt. (Bild: Yazdani Lab, Princeton University)

Physiker haben erneut Hinweise auf ein Majorana-Fermion gefunden: ein Teilchen, das mit seinem Antiteilchen identisch ist

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Der italienische Physiker Ettore Majorana bestieg am 25. März 1938 in Neapel ein Postschiff, das um 22:30 Uhr auslief. Von diesem Zeitpunkt an verliert sich seine Spur. Zwar will ihn eine Krankenschwester in Neapel gesehen haben. Zwar wurde er in einem süditalienischen Kloster oder aber in Argentinien vermutet. Doch dass sich Majorana (der im Hotel einen Abschiedsbrief hinterließ) wirklich nicht vom Schiff aus ins Meer stürzte, ließ sich nie schlüssig beweisen.

Ganz ähnlich scheint es einem Teilchen zu gehen, das der Physiker 1937 vorhergesagt hatte: dem nach ihm benannten Majorana-Fermion. Im Standardmodell können Elementarteilchen entweder Bosonen sein (ganzzahliger Spin) oder Fermionen (halbzahliger Spin). Zu den Bosonen gehören unter anderem die Mesonen (die aus je zwei Quarks bestehen) und alle Atomkerne mit gerader Massenzahl (etwa Heliumkerne). Sie können einen gemeinsamen Grundzustand annehmen, das Bose-Einstein-Kondensat, in dem sie nicht mehr voneinander unterscheidbar sind.

Fermionen hingegen dürfen nicht am gleichen Ort denselben Quantenzustand einnehmen. Ein Fermionen-System (dazu gehören etwa Elektronen, Protonen, Neutrinos oder alle Quarks) besitzt deshalb immer ein Mindestmaß an Energie. Normalerweise beschreibt eine komplexe Funktion das Fermion. Ettore Majorana jedoch zeigte, dass auch ein Fermion denkbar ist, das von einer reellen Funktion beschrieben wird. Ein solches Teilchen müsste zu seinem eigenen Antiteilchen identisch sein. Daraus folgt auch, dass es keine Ladung tragen darf.

Der neutrinolose doppelte Betazerfall

Lange vermutete man, dass das Neutrino ein solches Majorana-Fermion darstellt. Die Vermutung hielt sich so lange, weil man sie nur mit Hilfe eines äußerst seltenen Phänomens überprüfen kann, des neutrinolosen doppelten Beta-Zerfalls. Falls Neutrinos nämlich ihre eigenen Antiteilchen sind, müsste es beim simultanen Zerfall von zwei Neutronen ab und zu nicht zur Aussendung von zwei Neutrinos, sondern zu deren Annihilation kommen.

Aktuelle Messungen zeigen allerdings, dass der neutrinolose doppelte Betazerfall so selten sein muss (einmal alle 2,1 * 1025 Jahre, das liegt Größenordnungen über dem Alter des Universums), dass seine Nichtexistenz wahrscheinlich wird. Das Neutrino wäre damit also kein Majorana-Fermion.

Ein Ergebnis, das nicht nur die Theoretiker interessiert

Doch an anderer Stelle werden Forscher in letzter Zeit öfter fündig: bei den Quasiteilchen, Anregungen in Festkörpern, die sich in vieler Hinsicht wie Teilchen betrachten lassen. Auch diese verhalten sich entweder wie Bosonen oder wie Fermionen (oder wie Anyonen, siehe Quantencomputer: Wenn Microsoft Geld gibt, muss doch die Zukunft nahe sein?). Schon 2012 fanden Forscher im niederländischen Delft Hinweise darauf, dass sich an der Verbindungsstelle eines Supraleiters und eines Nanodrahtes Majorana-Fermionen ausbilden können. Allerdings kamen damals auch noch andere Phänomene als Ursache in Frage.

Bild eines nur ein Atom breiten Eisendrahtes auf einer Bleioberfläche unter dem Rastertunnelmikroskop. Der vergrößerte Bereich zeigt die Wahrscheinlichkeitsverteilung, mit der sich dort ein Majorana-Fermion befindet. Tatsächlich hat es auch die Theorie an dieser Stelle vorausgesagt. (Bild: Yazdani Lab, Princeton University)

In einer neuen Arbeit in Science gelang es nun US-Forschern, Majorana-Fermionen beinahe zu fotografieren: Unter dem Rastertunnelmikroskop konnten sie die Wahrscheinlichkeitsverteilung eines Majorana-Fermions am Ende eines Nanodrahtes aus Eisen aufzeichnen, der sich auf supraleitendem Blei befand. Die Quasiteilchen wären gleichzeitig Anyonen, wie sie im topologischen Quantencomputing benötigt werden - deshalb interessiert das Ergebnis bei weitem nicht nur die Theoretiker.