Massakerpolitik

Wie die "Antiterrorkoalition" die Kurden Syriens in einem widerlichen geopolitischen Geschacher den Massenmordmilizen des Islamischen Staates zum Fraß vorwirft

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Die Hilferufe aus der umkämpften kurdischen Stadt Kobane werden immer verzweifelter. Auch am 7. Oktober wandte sich der Kovorsitzende des Kantons Kobane, Salih Muslim, mit der Bitte an die Weltgemeinschaft, die Verteidiger der Stadt doch endlich mit schweren Waffen und Munition zu versorgen, sowie eine ernsthafte Luftkampagne gegen die Stellungen des Islamisches Staates (IS) einzuleiten. Ansonsten drohten Massaker in der Stadt, die viele Zivilisten immer noch nicht verlassen hätten. Man sei für die bisherigen Luftschläge dankbar, so Muslim, aber es seien immer noch Panzer, gepanzerte Fahrzeuge und Artillerie“außerhalb der Stadt, die diese nach Gutdünken beschießen könnten.

IS beherrscht die Stadt von oben.

Und dennoch hat sich an dem absurden Schauspiel, das wenige hundert Meter vor der Grenze des NATO-Mitglieds Türkei aufgeführt wird, kaum was geändert. Während die Türkei die Grenze für jedweden militärischen Nachschub der Volksverteidigungseinheiten (YPG) blockiert und kampfwillige Kurden mit massivem Tränengaseinsatz von der Teilnahme an der Verteidigung Kobanes abhält, können sich Panzer und schwere Artillerie des IS in der Umgebung der Stadt nahezu frei bewegen.

Beim klarsten Bombenwetter, auf einem offenen Terrain, das größtenteils aus platter Geröllwüste besteht, konnten die Mörderbanden des IS über drei Wochen nahezu ungehindert agieren. Besonders in der Anfangsphase des Ansturms der Dschihadisten gegen die Kurdenenklave haben die anderswo in Syrien durchgeführten Luftschläge die IS-Kämpfer geradezu an die Front vor Kobane getrieben, da sie hier einigermaßen vor Luftangriffen sicher sein konnten.

Derzeit sind die Verbände des IS in etliche Stadtbezirke eingedrungen, es findet ein erbitterter Straßenkampf statt. Nach tagelangen Kämpfen konnten die Dschihadisten zuvor eine strategisch wichtige Anhöhe im Süden der Stadt erobern, von der aus sie das ganze Stadtgebiet nach Gutdünken beschießen können. Nahezu ungehindert kann der IS, der beim Sturm auf Kobane schwere Verluste erleidet, immer neue Verstärkungen aus ganz Syrien und teilweise den Nordirak heranführen und in die Schlacht werfen. Angeführt werden die IS-Truppen inzwischen von tschetschenischen Elitekämpfern unter dem Kommando des berüchtigten Dschihadisten Omar al Shishani, der mittels einer Serie von massiven Bombenanschlägen, bei denen mit Sprengstoff voll beladene Fahrzeuge eingesetzt wurden, Lücken in die Verteidigungslinien der YPG sprengen ließ. Eine ähnliche Taktik nutzte al Shishani bei der Eroberung syrischen Menagh-Luftwaffenbasis im August 2013.

Inzwischen greifen die Verteidiger der Stadt zu Verzweiflungsakten. Vor allem die Kämpferinnen der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), die rund 40 Prozent der Verteidiger der Stadt stellen, ziehen es vor, sich mit der letzten verbliebenen Kugel das Leben zu nehmen, als lebend in die Hände der dschihadistischen Kopfabschläger zu fallen. Inzwischen bestätige die YPG, dass die Kämpferin Arin Mirkan in einem verzweifelten Versuch, den waffentechnisch und zahlenmäßig überlegenen IS aufzuhalten, eine Selbstmordattacke gegen den IS durchführte.

Kritik von Ärzte ohne Grenzen

Jacques Berès, Mitbegründer der Ärzte ohne Grenzen, zeigte sich nach einem humanitären Einsatz in der nordsyrischen Kurdenregion Rojava schockiert über die Gewaltexzesse des IS und die miserable medizinische Versorgungslage in der von der Türkei mit einem Embargo belegten Region:

Ich mache diesen Job seit mehr als 40 Jahren. Aber das, was ich in den vergangenen Wochen in Syrien gesehen habe, ist schlimmer als alles, was ich in meinen vorherigen Leben ansehen musste. Wenn die westlichen Staaten nicht bald agieren, wird es dort mit Sicherheit einen Genozid geben.

Er habe verstümmelte, zerstückelte und verbrannte Körper gesehen, ohne Beine oder Arme, bei denen es sich größtenteils um Zivilisten gehandelt habe. Ein jeder weitere Angriff habe Dutzende neuer Verletzter gefordert. Unter den verletzten Verteidigern des Kantons Kobane habe es eine sehr hohe Anzahl junger Frauen gegeben, so Berès: „"Mindestens 40 Prozent der verwundeten Kämpfer, die ich behandelt habe, waren Frauen."

Auch Berès wunderte sich, wieso die buchstäblich ums nackte Überleben kämpfende YPG keinerlei militärische Unterstützung seines des Westens erhalten. Er habe nur alte Kalaschnikows gesehen und Dschihadisten sowie türkische Militärfahrzeuge, die die syrisch-türkische Grenze frei passieren konnten.

Erst am Morgen des 7. Oktober, nachdem sich die Entrüstung über die Untätigkeit der "Antiterrorkoalition" in türkei- und europaweiten Protesten entlud, hat die US-Airforce eine längere Serie von Angriffen auf Stellungen des IS ausgeführt.

Geopolitisches Outsourcing an poststaatliche Milizen und Terrorverbände

Wieso lässt die von den USA angeführte "Antiterrorkoalition", deren Luftwaffe 2003 einen Großteil der irakischen Armee in rund zwei Wochen pulverisierte, nun Dschihadisten in unmittelbarer Nähe der türkischen Grenze die Fahne des IS hissen hissen? Offensichtlich handelt es sich hier um eine politische Entscheidung, die vor allem dem rücksichtslosen Kalkül der türkischen AKP-Regierung Rechnung trägt.

Die Mörderbanden des Islamischen Staates stellen ein nützliches geopolitisches Werkzeug dar, das es skrupellosen Staaten wie der Türkei ermöglicht, ihre Machtpolitik zu externalisieren. Hier findet eine Art geopolitisches Outsourcing statt, bei dem man poststaatlichen Milizen und Terrorverbänden die Drecksarbeit überlässt. In diesem Fall benutzt Ankara den massenmörderischen Feldzug des IS, um die Kurden Syriens in die bedingungslose Kapitulation zu zwingen, wie die britische Zeitung The Independent unter Berufung auf Salih Muslim von der nordsyrischen Kurdenpartei PYD (Partei der Demokratischen Union) ausführte:

Der Anführer der PYD, Salih Muslim, berichtete nach einem Treffen mit Offizieren des türkischen Militärgeheimdienstes, dass seinen Bitten um Unterstützung mit Forderungen begegnet wurden, die auf die Aufgabe ihrer Unabhängigkeit, die Auflösung der Selbstverwaltung und die Zustimmung zur Einrichtung einer türkischer Sicherheitszone abzielten. Herr Muslim hat diese Forderungen zurückgewiesen.

Ankara fordert somit die bedingungslose Kapitulation der syrischen Kurden sowie die Errichtung eines türkischen Besatzungsregimes vor Ort, um der kurdischen Bewegung und der immer noch als Terrorgruppe geführten PKK das Genick zu brechen. Mittels einer Intervention will die Türkei die kurdische Selbstverwaltung in Rojava zerstören, die Ankara schon seit Langem ein Dorn im Auge ist, da sie von der mit der PKK verflochtenen PYD in den vergangenen zwei Jahren des syrischen Bürgerkrieges aufgebaut wurde. Die Interventionsermächtigung, die das türkische Parlament am 2. Oktober Erdogan ausstellte, sieht ausdrücklich vor, dass türkische Streitkräfte in Nordsyrien gegen den IS wie auch gegen kurdische Gruppierungen vorgehen können. Zudem macht Ankara einen Sturz des Assad-Regimes zur Voraussetzung einer aktiven Beteiligung an der "Antiterrorkoalition"“(Türkisches Parlament erteilt der Regierung Ermächtigung zum Krieg).

Die Türkei instrumentalisiert somit den IS, um rücksichtslos ihre Machtinteressen in der Region durchzusetzen. Damit setzt Erdogan aber den mühsam in Gang gebrachten Friedensprozess zwischen dem türkischen Staat und der PKK aufs Spiel, der nach einem Massaker in Kobane wohl kaum noch fortzuführen wäre. Der inhaftierte PKK-Chef Öcalan warnte bereits davor, dass im Fall eines Massakers der Friedensprozess zum Stillstand kommen werde. Die massiven Proteste und Ausschreitungen, die in der letzten Nacht viele türkische Städte erschütterten, könnten somit den Anfang eines Aufstandes und der Rückkehr zum Bürgerkrieg in der Türkei markieren. Es ließe sich sogar fragen, ob Erdogan nicht gerade ein Massaker in Kobane provozieren will, um die PKK zu Vergeltungsschlägen zu provozieren. Damit ließe sich eine Aufhebung des PKK-Verbots vereiteln, die in vielen westlichen Ländern derzeit diskutiert wird.

Die geopolitische Instrumentalisierung der Dschihadisten durch den Westen hat bekanntlich eine lange Tradition, die bis zu dem Bürgerkrieg der 80er Jahre in Afghanistan zurückreicht, als ein gewisser Osama Bin Laden unter den Fittichen der CIA beim Kampf gegen Sowjettruppen seine ersten militärischen Erfahrungen sammeln durfte.

US-Vizepräsident Biden: "Unser größtes Problem sind unsere Alliierten."

Das Zögern Ankaras beim Vorgehen gegen den IS wird auch dadurch motiviert, dass die Türkei bislang viele Mühen auf sich genommen zu haben scheint, um den IS aufzubauen und zu der effizienten Massenmordmaschine werden zu lassen, die er jetzt darstellt. Diese Tatsache stellt beileibe kein Staatsgeheimnis dar. Die offensichtliche Unterstützung des IS durch die Türkei und die arabischen Golfdespotien wie Saudi Arabien und Katar war nicht nur Gegenstand eines längeren Berichts von Monitor, sie wurde zuletzt auch vom US-Vizepräsidenten Joe Biden offen ausgesprochen.

Bei einer Rede in Harvard Anfang Oktober erklärte Biden, die Türkei - er nannte ausdrücklich Erdogan - und Saudi-Arabien hätten in den vergangenen Jahren die Dschihadisten massiv unterstützt. Beide Staaten seien so entschlossen gewesen, das Assad-Regime zu stürzen, dass sie Hunderte von Millionen US-Dollar und zehntausende Tonnen von Waffen an jeden weitergaben, der gegen Assad kämpfen würde. Und dies waren nun mal die dschihadistischen Kräfte, aus denen der IS hervorging. "Unser größtes Problem sind unsere Alliierten", so Biden wörtlich. Nun seien alle am Aufwachen“ und versuchten, diese Unterstützungsnetzwerke zu kappen, behauptete Biden. Was der Vizepräsident natürlich zu erwähnen vergaß, ist einzig der Umstand, dass die Vereinigten Staaten bei dieser geopolitisch motivierten Förderung des Islamistischen Terrors ebenfalls beteiligt waren. Diesem Eingeständnis Bidens folgten wütende Anschuldigungen Erdogans, der umgehend eine Entschuldigung von US-Vizepräsidenten verlangte und ebenso wie die Vereinigten Arabischen Emirate auch erhielt).

Um es noch mal klar auszusprechen: In der "Antiterrorkoalition" finden sich mit der Türkei und Saudi-Arabien die größten regionalen Förderer der wohl brutalsten und mörderischsten Terrororganisation, die der Nahe und Mittlere Osten bislang erdulden musste und die zumindest im Fall der Türkei immer noch bestrebt sind, diese Massenmordtruppe zu instrumentalisieren. Der Islamische Staat ist letztlich ein Produkt des Westens, was die Geopolitik, aber auch den Krisenprozess betrifft, der von den Zentren des kapitalistischen Systems ausstrahlt.

Zwischen der Realität dieser geopolitisch motivierten Massenmordpolitik und ihrer öffentlichen Wahrnehmung klafft somit ein Abgrund, der inzwischen wahrhaft Orwellsche Ausmaße erreicht. Eine mit Terrorförderern angereicherte internationale "Antiterrorkoalition" lässt die einzige nennenswerte fortschrittliche Kraft des Nahen Ostens - die an Selbstverständlichkeiten wie Gleichberechtigung, Säkularismus und Basisdemokratie festhält - von ihrem selbst hervorgebrachten Terrorgebilde massakrieren. Zugleich wird die PKK, deren syrische Schwesterorganisation gerade vor den Augen des türkischen Militärs vom IS massakriert wird, von der EU und der Bundesrepublik weiterhin als eine verbotene Terrororganisation geführt.