Wer sabotiert die Aufklärung der Maidan-Todesschüsse?

Alle paar Monate werden neue Verhaftungen verkündet, aber die Aufklärung kommt nicht voran - Folge einer Taktik?

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Der Chef des ukrainischen Geheimdienstes SBU gab die "Festnahme und Verhaftung" von vier ehemaligen SBU-Offizieren bekannt, nannte aber keine Namen. Die Generalstaatsanwaltschaft erklärte dagegen, Niemand sei in Haft. Der ukrainische Innenminister fürchtet Image-Verlust wegen rechter Ausschreitungen.

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"Zum jetzigen Zeitpunkt sind vier Verräter verhaftet, Offiziere mit hohem Dienstgrad", erklärte der Chef des ukrainischen Geheimdiensts SBU, Valentin Naliwajtschenko, am Sonnabend in einer Sendung des ukrainischen Fernseh-Kanals Espreso.tv. Zwei weitere für Todesschüsse auf dem Maidan verantwortliche Abteilungsleiter nicht näher benannter ukrainischer Strukturen seien auf der Flucht und wahrscheinlich in Russland, erklärte der SBU-Chef. Die Namen der Verhafteten und Flüchtigen nannte Naliwajtschenko nicht.

Sieben Monate sind bereits vergangen und noch immer gibt es nur Vermutungen, aber keine Beweise, wer für die Todesschüsse auf dem Maidan in Kiew Ende Februar verantwortlich ist. Damals waren 77 Maidan-Aktivisten von unbekannten Schützen - vermutlich von umliegenden Gebäuden aus - erschossen worden. Auf der Welle der Empörung über diese abscheulichen Morde hatten unmittelbar danach Maidan-nahe liberale Politiker, unterstützt von Rechtsradikalen, die Macht im Parlament übernommen. Präsident Viktor Janukowitsch flüchtete nach Russland.

Die Erschießung von Demonstranten auf "den Plätzen von Kiew" sei "von vielen Menschen geplant" worden, "vor allem von Leitern von Abteilungen und Verwaltungen", erklärte der SBU-Chef. Gegen diese Leiter seien schon im März Strafverfahren eröffnet worden. "Es gibt Personen, die ihren Posten verlassen mussten, es gibt Festgenommene und es gibt Verhaftete."

Geheimdienst soll komplett von "Verrätern gereinigt" werden

Naliwajtschenko wurde durch die Orangene Revolution 2006 Geheimdienstchef. Er hatte diese Posten bis 2010. Unmittelbar nach dem Machtwechsel in Kiew im Februar dieses Jahres wurde er erneut SBU-Chef. Seinen angeblich nach Russland geflüchteten Vorgänger, bezeichnet der SBU-Chef als "größten Verräter".

Fast die gesamte Führung des SBU sei nach dem Machtwechsel nach Russland geflüchtet, behauptet der SBU-Chef. Diese Leute hätten Offiziere des russischen Geheimdienstes FSB zur Teilnahme und Planung der Todesschüsse auf dem Maidan herangezogen. Obwohl bereits seit sieben Monaten ermittelt wird, konnte Naliwajtschenko aber bisher keinen einzigen Beleg für eine russische Beteiligung an den Todesschüssen vorlegen. "Alle Ermittlungsunterlagen liegen bei der Generalstaatsanwaltschaft", erklärt der SBU-Chef. Das muss als Beweis genügen.

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Wird die Öffentlichkeit bewusst getäuscht?

Dass der SBU-Chef und Politiker in Kiew alle paar Monate neue Ermittlungserfolge und Verhaftungen wegen den Todesschüssen auf dem Maidan bekannt geben, könnte Taktik sein. So gab die Staatsanwaltschaft Anfang April bekannt, man habe 12 Männer festgenommen, die beschuldigt werden, als Mitglieder der "Schwarzen Staffel" aus Berkut- und Geheimdienst-Spezialeinheiten die tödlichen Schüsse zwischen dem 18. und 20. Februar abgegeben zu haben (Staatsanwaltschaft hat 12 mutmaßliche Scharfschützen inhaftiert). Oder im Mai erklärte der ukrainische Vize-Premier Vitali Jarema, man habe die Personen ermittelt, die auf dem Maidan 46 Menschen erschossen haben. Doch auch im Mai wurden keine Namen von Beschuldigten genannt und alles blieb nebulös.

Zudem scheint es unter den Sicherheits- und Justizorganen auch Widersprüche zu geben. Unmittelbar nachdem SBU-Chef Naliwajtschenko erklärte, dass "zum jetzigen Zeitpunkt" vier ehemalige SBU-Offiziere wegen der Todessschüsse verhaftet seien, erklärte der Leiter der Ermittlungsabteilung der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft, Sergej Gorbatjuk, gegenüber der Nachrichtenagentur Ukrinform, wegen der Todesschüsse auf dem Maidan sei "Niemand" in Haft. Gorbatjuk wusste auch zu berichten, dass es gegen die Aufklärung der Schüsse "verdeckten Widerstand" gibt.

Hausarrest gegen Berkut-Major aufgehoben

In den westlichen Medien gelten die Polizisten der Spezialeinheit Berkut als vermutliche Todesschützen. Doch bisher konnte das nicht nachgewiesen werden. Erst am 19. September hatte das Petscherski-Gericht in Kiew den Hausarrest gegen Dmitri Sadownikow, einen Major der Berkut-Spezialeinheit, der vor Gericht steht, aufgehoben. Die Staatsanwaltschaft, will die Aufhebung des Hausarrestes anfechten. Sadownikow soll für den Tod von 39 Demonstranten verantwortlich sein.

Zweifel an der Behauptung, Janukowitsch habe den Befehl gegeben, auf Demonstranten zu schießen, kamen auf, als sich die Maidan-Euphorie etwas gelegt hatte. Das russische Fernsehen zeigte Filmaufnahmen von maskierten Männern mit länglichen, verpackten Gegenständen, die in Begleitung von Maidan-Kommandant Andrej Parubi, vom 27. Februar bis August Vorsitzender des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats, das Hotel Ukraina verließen. Das Hotel in unmittelbarer Nähe des Maidan - indem fast alle ausländischen Reporter und Fernsehteams wohnten - wurde von Parubi persönlich kontrolliert.

ZDF-Reporterin Britta Hilpert erinnerte sich, dass aus einem Zimmer im Hotel Ukraine Unbekannte schossen. Das ZDF zeigte auch entsprechende Bilder. Monitor-Reporter Stefan Stuchlik fand am Maidan Einschläge von Kugeln, die aller Wahrscheinlichkeit nach vom Hotel Ukraine abgefeuert wurden (Blutbad am Maidan: Wer waren die Todesschützen?). Doch damit waren die Recherchen der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten auch schon beendet.

Was gerne vergessen wird, auch manche Maidan-Aktivisten waren mit Schusswaffen ausgestattet. Bild: censor.net.ua

Russland angeblich auch am Brand vom Gewerkschaftshaus in Odessa Schuld

Auch zum Brand des Gewerkschaftshauses in Odessa fühlt sich die Führung in Kiew in regelmäßigen Abständen gemüßigt, etwas vorzulegen, was nach ernsthaften Ermittlungen aussieht. Ende September forderte der ukrainische Präsident Pjotr Poroschenko, Moskau müsse den "Hauptverantwortlichen" für die Unruhen am 2. Mai in Odessa, den damaligen stellvertretenden Polizeichef von Odessa, Dmitri Fudschedschi, ausliefern. Der halte sich in der selbsternannten Republik Transnistrien und nach Ermittlungen des SBU regelmäßig auch in Moskau auf.

Der geflüchtete ehemalige Polizei-Chef von Odessa konterte in einem Interview für den russischen Fernsehkanal Pervi, die Hauptschuldigen für die Unruhen am 2. Mai in Odessa, seien der Gouverneur von Odessa, Wladimir Nemirowski, der 800 "Leute vom Maidan" nach Odessa geholt habe, und der damalige ukrainische Sicherheitsratschef, Andrej Parubi, der den Gouverneur von Odessa beraten habe. Parubi wiederum habe für organisierte Unruhen in Odessa von Ministerpräsident Arseni Jazenjuk und Petro Poroschenko Rückendeckung bekommen.

"Lynch-Justiz bedeutet, Europa und Amerika zu verlieren"

Monatelang brauchte sich die neue Regierung in Kiew um ihr Image in der internationalen Öffentlichkeit keine Sorgen zu machen. Dass der Rechte Sektor in der Ukraine außerhalb des Gesetzes Bürger und Politiker terrorisiert, darüber berichten jetzt manchmal auch westliche Medien. Seit die Werchowna Rada ein Gesetz über die "Durchleuchtung" aller Staatsangestellten und Politiker beschlossen hat, fühlt sich der Rechte Sektor mit seinen radikalen Aktionen bestätigt, überfällt weiter Russland-freundliche Politiker, schlägt sie zusammen oder wirft sie in Müll-Container.

Der ukrainische Innenminister Arsen Awakow sah sich bereits zu einer Warnung an die rechten Radikalen veranlasst. Nachdem Mitglieder des Rechten Sektors am 30. September in Odessa Nestor Schufritsch, einen der Spitzenkandidaten des "Oppositions-Blocks", zusammengeschlagen hatten, postete Innenminister Awakow auf Facebook: "Noch ein paar zerschlagene Gesichter von Schufritsch-Leuten und Europa - und ich fürchte auch Amerika - wenden sich von unseren siegreichen Revolution ab." Chaos und Provokation von "debilen Marginalen" nützten nur "dem äußeren Feind".

Oleg Ljaschko, Chef der Radikalen Partei und mit acht Prozent der Stimmen drittstärkster Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen, verteidigte die Überfälle auf oppositionelle Politiker. Die Menschen würden mit "solch radikalen Mitteln" deshalb vorgehen, weil "die Gesetze nicht funktionieren".