Erdogan auf Bürgerkriegskurs

Während sich die militärische Lage in Kobane weiter zuspitzt, starten türkische Militärs, Islamisten und Rechtsextremisten eine blutige Repressionswelle gegen die antiislamistische Protestbewegung

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Die militärische Lage der Verteidiger Kobanes ist verzweifelt. Den in der nordsyrischen Grenzstadt eingeschlossenen Einheiten der Volksverteidigungskräfte (YPG) und Frauenverteidigungskräfte (YPJ) fehlt es inzwischen an Munition, Nahrung und Wasser. In der vergangenen Nacht ist es den Verbänden des Islamischen Staates (IS) gelungen, in weitere Stadtbezirke der seit dreieinhalb Wochen belagerten Stadt vorzudringen.

Kobane gestern, fotografiert von Karam Shoumali

In den frühen Morgenstunden konnte der IS abermals eine heftige Offensive starten, bei der die Dschihadisten unter Einsatz schwerer Waffen weiteres Terrain gewinnen konnten, berichtete die Kovorsitzende der PYD, Asya Abdullah, gegenüber kurdischen Medien. Abermals bat Abdullah eindringlich um die Errichtung eines Hilfskorridors, der die Versorgung der eingeschlossenen Kurden mit Nachschub ermöglichen würde. Gleichzeitig tobten heftige Kämpfe um den strategisch wichtige Mistenur-Hügel im Süden der Stadt, der es dem IS ermöglicht, das gesamte Stadtgebiet unter Feuer zu nehmen. Laut dem syrischen UN-Botschafter sollen sich noch hunderte, zumeist ältere Zivilisten in der Stadt befinden.

Noch immer haben die USA keine ernsthaften Anstrengungen unternommen, um die Nachschublinien des Islamischen Staates nach Kobane zu kappen. Es seinen "wirkungsvolle Angriffe" gegen die Nachschubwege des IS notwendig, betonte Abdullah: "Solange dieser Nachschub nicht aufgespürt und vernichtet wird, werden die heftigen Angriffe nicht abnehmen." Zudem gibt es keine direkte Koordinierung der US-Luftschläge mit den vor Ort kämpfenden Kurden, obwohl die YPG laut Abdullah "schon früher erklärt hatte, dass sie in dieser Hinsicht Unterstützung leisten" könne. Hierdurch befinden sich die Verteidiger Kobanes in einem schweren taktischen Nachteil, da sie die unmittelbaren Effekte der Luftschläge nicht durch sofortige Vorstöße ausnutzen können, ohne dabei Gefahr zu laufen, durch abermalige Bombardements der US-Luftwaffe selbst unter Beschuss genommen zu werden.

IS-Kämpfer in Kobane. Aus einem IS-Video

Einen Einblick in die verzweifelte Lage der Verteidiger der Grenzstadt erhielt ein Reporter von Spiegel-Online, der zwei an den Kämpfen beteiligte Einwohner Kobanes nach ihrem Grenzübertritt in die Türkei befragen konnte. Die beiden Männer hätten die vergangenen drei Tage in einem ausgebombten Haus verbracht, wobei ihnen schließlich die Munition knapp geworden sei und sie diese rationieren mussten. Letztendlich sei ihnen die Nahrung ausgegangen, sodass sie seit zwei Tagen nichts gegessen hätten, klagten die beiden Männer, die sich der YPG erst vor kurzem, nach dem Beginn der Offensive des IS gegen Kobane, angeschlossen haben.

Während die kurdischen Verteidiger der belagerten Stadt langsam ausbluten, geht das geopolitische Geschacher innerhalb der Antiterrorkoalition munter weiter. Die Türkei ist weiterhin nicht bereit, einen Hilfskorridor für Kobane einzurichten. Die türkischen Sicherheitskräfte verhafteten sogar Hunderte der aus Syrien geflohenen Kurden unter dem Vorwand der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, um deren spätere Rückkehr und Teilnahme an den Kämpfen um Kobane zu verhindern.

IS-Kämpfer in Kobane. Aus einem IS-Video

Die Forderungen Ankaras nach der Errichtung einer türkisch kontrollierten "Sicherheitszone" in den kurdischen Gebieten Syriens und dem Sturz des Assad-Regimes werden zwar von den USA offiziell immer noch abgelehnt. Washington ist bemüht, seinen Militäreinsatz in der Region auf Angriffe gegen den Islamischen Staat zu beschränken, um nicht stärker militärisch in den Sumpf des syrischen Bürgerkrieges hineingezogen zu werden.

Doch inzwischen scheinen sich erste Risse in der westlichen Ablehnungsfront auszutun. Frankreich und Großbritannien erklärten gestern, sie seien bereit, über die Errichtung eines solchen Besatzungsregimes in Nordsyrien zu diskutieren. Frankreichs Präsident Hollande ging nach einem Telefongespräch mit Erdogan sogar so weit, die diesbezüglichen Vorschläge seines türkischen Amtskollegen voll zu unterstützen. Eine militärische Intervention des Westens und der Türkei in Syrien - die von den Kurden vehement abgelehnt wird - scheint somit in greifbarer Nähe.

Die Türkei versinkt in einer Gewaltspirale

Derweil befinde sich die Türkei auf dem direkten Weg in die dunkle Zeit des "schmutzigen Krieges", der in den 90er Jahren zwischen dem türkischen Staat und den kurdischen Aufständischen der PKK geführt wurde, bemerkte der britische Guardian in einem Kommentar: "Es gab mehrere Brandanschläge auf Autos, Busse, LKWs, ethnische Spannungen, nationalistische Banden an Straßenecken, Ausgangssperren und den Einsatz bewaffneter Truppen..."

Tatsächlich sind in den vergangenen Tagen dutzende Menschen bei den antislamistischen Protesten in der Türkei - die nicht nur von Kurden, sondern auch von linken türkischen Gruppen und Studenten getragen werden - getötet worden, hunderte wurden verletzt. Die Demonstranten fordern eine Aufhebung der Blockade Kobanes durch den türkischen Staat. Im Internet kursieren neuste Zahlen von bis zu 35 Toten binnen drei Tagen, die türkische Regierung spricht von 31 Toten und mehr als tausend Verhafteten. Sowohl die Kurdistan Communities Union (KCK), die als eine Vorfeldorganisation der PKK gilt, wie auch die gemäßigte prokurdische HDP beschuldigten Ankara, die Gewalt bei den Protesten zusätzlich anzuheizen.

Die KCK erklärte ihre Unterstützung für die Proteste, doch zugleich warnte die PKK-nahe Organisation vor Gewaltexzessen, wie dem "Anzünden von Schulen, den Angriffen gegen Attatürk-Statuen oder Akten des Plünderns". Solche Aktionen betrachte man als "Akte von Provokateuren".

Dennoch bleibt es fraglich, ob die Spirale der Gewalt und Gegengewalt noch aufgehalten werden kann. Die türkischen Sicherheitskräfte gehen gemeinsam mit rechtsextremistischen wie islamistischen Gruppen mit allergrößter Brutalität gegen die Proteste vor, was an die Anfangsphase des syrischen Bürgerkrieges erinnert. Mitunter scheint sich der Eindruck aufzudrängen, dass der türkische Machtapparat bewusst einen Bürgerkrieg provozieren möchte.

Die Akte exzessiver Gewalt gegen Demonstranten sind kaum noch zu überblicken. Türkische Soldaten haben am 9. Oktober wahllos das Feuer aus Maschinengewehren auf eine Demonstration in Dargeçit (Kerboran) eröffnet, wie Videoaufnahmen eindeutig belegen. Mehrere Menschen starben, viele wurden verletzt. In Gaziantep und Adana gingen mit Macheten, Gewehren und Schlagstöcken bewaffnete Anhänger der faschistischen Grauen Wölfe und Islamistischer Parteien gegen Demonstranten und Einrichtungen der Opposition vor, ohne von den Sicherheitskräften daran gehindert zu werden. Auch bei diesen pogromartigen Ausschreitungen, bei denen Parteizentralen der prokurdischen Linkspartei HDP gebrandschatzt wurden, soll es mindestens drei Tote gegeben haben.

Die niederländische Reporterin Frederike Geerdink berichtete am 9. Oktober von lang anhaltendem Maschinengewehrfeuer in der kurdischen Metropole Diyarbakir (Amed), in die zahlreiche Militäreinheiten verlegt. Selbst Beerdigungen von türkischen Kurden, die bei der Verteidigung Kobanes gefallenen waren, werden von Polizisten und Rechtsextremisten angegriffen.

Kurdische Medien melden die ersten extralegalen Hinrichtungen von Aktivisten. Berichte über Verhaftungswellen und das berüchtigte "Verschwindenlassen" von Oppositionsaktivisten häufen sind. Mitunter sollen islamistische Gruppierungen Oppositionsanhänger entführt, gefoltert, und anschließend an die türkischen Sicherheitskräfte übergeben haben, die diese dann auch noch verhafteten.

Die Eskalationsspirale aus Gewalt und Gegengewalt droht somit in einen offenen Bürgerkrieg umzuschlagen, der sich dann der Kontrolle aller Konfliktpartien entziehen würde. Die Türkei könnte somit das transnationale Bürgerkriegsgebiet im Nahen und Mittleren Osten, das sich zurzeit auf den Irak und Syrien erstreckt, um Teile ihres Territoriums erweitern.