"Schicksalsjahre einer Klasse, die heute die Welt regiert"

Johannes Grenzfurthner von der Künstlergruppe Monochrom hat sich Gedanken zum Nerdtum gemacht

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Der Wiener Johannes Grenzfurthner gehört der Künstlergruppe Monochrom an, die in der Vergangenheit unter anderem mit André-Hitler-Plattencovern, der Aktion Eigenblunzn, dem Computerspiel Sowjet Unterzögersdorf, einer ISS-Weltraum-Sitcom und einem postapokalyptischen Spielfilm Aufsehen erregte. Nun hat sich Gedanken zum Nerdtum gemacht.

Herr Grenzfurthner, seit wann bezeichnen Sie sich selbst als einen "Nerd"?

Johannes Grenzfurthner: Ah, die Frage nach dem Klassenbewusstsein als kreativer Technologiearbeiter! Danke der Nachfrage!

Keine Ahnung. Ich würde sagen seit den frühen 2000er-Jahre. Ich habe damals in Wien, als Teil unserer Kunsttruppe monochrom, eine Ausstellung namens "Fnerd!" organisiert. Die Idee war eine Art Real-Netz aus Spagat in den Raum zu spinnen, und Leute konnten dann ihre persönlichen Nerd-Geschichten mit Wäscheklammern oder Tixo (bei uns heißt das nicht Tesa) anbringen. Das wuchs dann innerhalb eines Monats eine ganz schönes Myzel aus Erinnerungen.

Aber Sie waren schon vorher einer, oder?

Johannes Grenzfurthner: Aber natürlich. Habe aber schon schlimmeres gehört: Fachdeppen. Sonderlinge. Asozial. Blassgrau. Besessen. Erotisch umschlungen mit ihrem Linuxrechner. Diese Merkmale schreiben wir gerne den Nerds zu, jenem geheimnisvollen Menschenschlag, der sich durch eine statistisch signifikante Anzahl an C++-Profis und Joss-Whedon-Fans auszeichnet.

In den vergangenen Jahren haben Nerds die Welt erobert. Früher saßen sie in der Schule allein in der ersten Reihe, hatten dicke Brillen, fettiges Haar und keine Freunde. Heute gründen sie wie Mark Zuckerberg Startups, die das World Wide Web beherrschen, verändern wie Edward Snowden die Weltpolitik und werden in Serien wie "The Big Bang Theory" als Sexsymbole und TV-Kultstars verehrt. Dem will ich, auch der Eigentherapie wegen, auf den Grund gehen.

Als was sahen oder bezeichneten Sie sich selbst in der siebten, achten Klasse?

Johannes Grenzfurthner: Da bin ich jetzt nicht ganz sicher, das österreichische und deutsche Klassenzahlangaben betrifft. Meinen Sie dann mit 14, 15 Jahren? Ich glaube damals bin ich darauf gekommen, dass ich ein eukaryotische Lebewesen bin, das Energie nicht durch Photosynthese gewinnt und Sauerstoff zur Atmung benötigt, aber kein Pilz ist. Und dass ich mit dem Status Quo der Gesellschaft nicht zufrieden war. Damals habe ich ja, nach Jahren des Herumtreibens im Fido-Netz und in Bulletin-Board-Systems beschlossen ein deutschsprachiges Fanzine über Cyberspace und Technik und Politik und abartige Kunst zu machen. Habe sie dann "monochrom" genannt, weil Farbdruck unerschwinglich war, und William Gibsons Kurzgeschichte "Burning Chrome" sich in mein Gedächtnis eingefressen hatte. Schon bald danach hab ich auf meiner ersten Anti-Nazi-Demo meine erste ideologisch motivierte Maulschelle gefangen. Vom Cyberpunk zum Punk. Und das mit Stolz.

"Wir sind Narrationsmaschinen"

Das menschliche Gehirn speichert Erinnerungen über Erinnerungsvorgänge immer wieder neu, wie man heute weiß. Könnte es sein, dass man sich in 20 Jahren an ein ganz anderes Jugend-Narrativ erinnert als heute? Mit einem anderen beschreibenden Namen dafür?

Johannes Grenzfurthner: Davon bin ich überzeugt. Wir sind Narrationsmaschinen. Wir versuchen unser Dasein, das ja eine großer Haufen fraktaler Bruchware ist, immer und immer wieder in einer Übernarration greifbar zu machen. Diese Selbst-Erzählung ändert sich natürlich ständig, obwohl natürlich auch die Änderung Teil der Übernarration ist. Wir sind schon interessantes Getier. Ein Haufen eingebildeter Freier Wille, der auf dem Limbischen System hockt wie ein Gockelhahn und sich dabei gut vorkommt. Und das Reptil denkt sich: Soll der ruhig da hocken, bis ich wieder mal eine Urangst zum Inkasso schicke.

Johannes Grenzfurthner bei den Dreharbeiten zur ISS-Weltraum-Sitcom. Foto: Grenz. Lizenz: CC BY-SA 3.0.

Wann wurde der Begriff Nerd von einem Schimpfwort zu einer Bezeichnung, die man freiwillig in Anspruch nimmt?

Johannes Grenzfurthner: Oh, das ist im Sinne der Überaffirmation recht schnell passiert. Hate Speech wird ja gerne von den betroffenen Personengruppen als Würdigung der Differenz wahrgenommen und umarmt. Aber ich würde sagen, dass das schon sehr lange so läuft.

Ist Nerd (trotz des Wortursprungs aus dem amerikanischen Englisch) vor allem ein im Deutschen positiv verwendeter Begriff, während man in den USA dafür eher "Geek" sagt? (vgl. Geek Chic)

Johannes Grenzfurthner: Papperlapapp! Nerd ist ja eine Erfindung des großartigen Dr. Seuss. In seinem Zoobesuchskinderbuch kommt da folgende Zeile vor: "A nerkle, a nerd, and a seersucker too!" All das sind fantastische Kreaturen, die es da in seinem Tiergarten gab. Wenn Nerd nicht passt, dann einfach "seersucker" sagen.

Aber mit dem Begriff Nerd hat ja niemand mehr ein Problem. Hat ja den angenehmen Beigeschmack des sechsstelligen Einkommens.

Ist "Dork" als reiner Negativbegriff übrig geblieben?

Johannes Grenzfurthner: "Dork" kenn' ich nur aus Police Academy. In Teil 5 schreiben sie da Captain Harris mit Sonnencreme "Dork" auf den Bauch. Und das ist dann später lustig. Warum weiß ich das jetzt schon wieder? Ach ja. Weil ich ein Nerd bin und so Zeug nicht mehr vergessen kann.

"Von CGA-Porno bis Google Glass, von Iain Banks bis Jar Jar Binks, von GURPS bis Kinect, von Silent Running bis zur Red Wedding"

Gab es an österreichischen Schulen eine ähnliche soziale Aufteilung wie man sie aus US-Filmen kennt - mit populären Sportlern und Cheerleadern, Bullys und Nerds?

Johannes Grenzfurthner: In meiner Jugend gab's Popper und Prolos. Es war aber nicht wirklich klar was das wirklich bedeutet und bis heute kann mir niemand erklären wie diese Gattungsbezeichnungen sich wirklich ausgewirkt haben. Schlecht gekleidet waren wir alle. Ich bin ja in die HAK in Hollabrunn gegangen. Das Landleben war bitter. Meine Mitschüler und Mitschülerinnen kannten nicht mal Star Wars.

Gilt diese Gliederung auch in Schulklassen von heute noch? Oder haben da Gegensätze zwischen Kurden und Salafisten etc. alles andere überlagert?

Johannes Grenzfurthner: Der große Unterschied ist doch sowieso ob man auf Facebook ist oder nicht. Aber ich möchte meiner eigenen Geschichte und der Geschichte des Begriff ja in meiner ersten Solo-Show nachgehen. Im Wiener Rabenhof stelle ich mich am 16. und am 30. Oktober meiner eigenen Geschichte. Und die beginnt im metaphorischen Keller der 1980er, als eine 20-Megabyte-Platte noch so groß war, wie ein Auto vor der Ölkrise - und als die Welt etwas grauer und die Bildschirmdarstellung etwas bernsteiniger war.

"Schicksalsjahre eines Nerds", so heißt das gute Ding, handelt von der Vergangenheit unserer Zukunft und ist trotzdem keine Nostalgie-Show. Ich möchte die Schicksalsjahre einer Klasse Revue passieren, die heute die Welt regiert. Lange bevor die digitalen Revolutionen die aschfahlen Nerds in die Stratosphäre des Geldadels katapultierten, wurden Weichen gestellt, die unsere Welt noch lange Zeit definieren werden.

Es wird eine Soiree, die von CGA-Porno bis Google Glass, von Iain Banks bis Jar Jar Binks, von GURPS bis Kinect, von Silent Running bis zur Red Wedding reicht. Erscheinen Sie also bitte zahlreich, wenn möglich manisch. Powernapping willkommen.

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