Gene beeinflussen Medikamente - das ungenutzte Potenzial der Pharmakogenetik

Die Analyse des Erbguts kann dabei helfen, Medikamente wirkungsvoller und verträglicher einzusetzen, doch das vorhandene Wissen wird selten umgesetzt

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Gene verändern die Wirkung von Medikamenten, manchmal mit schwerwiegenden Folgen. Die Pharmakogenetik erforscht diese Zusammenhänge und ihre Erkenntnisse können den gezielten Einsatz von Medikamenten erleichtern. Doch da der genetische Hintergrund von Patienten selten bekannt ist, bleibt dieses Wissen in der Praxis meist ungenutzt. Dieser Zweig der personalisierten Medizin wird sich wohl erst durchsetzen, wenn Genomanalysen Teil der medizinischen Routine werden.

Die Wirkung eines Medikaments ist oft schwer vorhersehbar, die Folgen können jedoch erheblich sein: Eine von zwanzig Einweisungen ins Krankenhaus ist auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen zurückzuführen, einer von tausend Patienten verstirbt daran. Oftmals sind nicht Behandlungsfehler, sondern unvorhergesehene Reaktionen des Körpers die Ursache.1 Eine genaue Analyse des Erbguts kann dabei helfen, manche dieser Probleme erst gar nicht aufkommen zu lassen.

Unerwünschte Reaktionen hängen oft damit zusammen, dass viele Wirkstoffe vom menschlichen Stoffwechsel modifiziert werden. Oxidations-Reaktionen oder der Einbau kleiner Moleküle beeinflussen die Aufnahme, Abbau oder Bindungsfähigkeit. Manche Medikamente - sogenannte Prodrugs - werden durch diese Prozesse erst in ihre aktive Form verwandelt. Die dafür verantwortlichen Enzyme sind oft von Mensch zu Mensch unterschiedlich, was zu erheblichen Schwankungen in der Wirkung der Prodrugs führt.

Eines dieser Prodrugs ist der Gerinnungshemmer Clopidogrel, der millionenfach nach Herzoperationen und -infarkten verschrieben wird. Die Wirkung hängt stark von dem Stoffwechselenzym Cytochrom P450 (CYP) 2C19 ab, das Clopidogrel in seine wirksame Form überführt. Es gibt mehrere Genvarianten von CYP2C19, die sich stark in ihrer Aktivität unterscheiden. Die Folge: 30 % der Patienten setzen den Wirkstoff zu langsam um, 18 % hingegen zu schnell. Für Risikogruppen können die Auswirkungen fatal sein, unter ungünstigen Umständen kann sich die Todesrate nahezu verdoppeln.2 Ein Gentest könnte von vornherein Klarheit schaffen, doch dessen Gebrauch hat sich kaum durchgesetzt.

Warfarin, ein anderer verbreiteter Gerinnungshemmer, ist eine der häufigsten Ursachen für schwere Nebenwirkungen. Schwere Blutungen sind das größte Problem, unter anderem weil Unsicherheiten bei der Dosierung oft eine ausgedehnte Einstellphase notwendig machen. Varianten in zwei Genen spielen hier eine wichtige Rolle.3: Je nach Kombination kann sich die Dosierungsempfehlung um das Zehnfache unterscheiden. Auch hier kommt ein Gentest, der zumindest die Höhe der Einstiegsdosis eingrenzen kann, nur selten zur Anwendung.

Viele andere Medikamente werden durch Enzyme der Cytochrom-P450-Familie modifiziert. Und pharmakogenetische Studien, die das Zusammenspiel von Erbgut und Medikamenten untersuchen, haben etliche weitere erbliche Faktoren identifiziert: Genvarianten von Transportproteinen, Immunfaktoren und nicht zuletzt auch der Zielstrukturen selber. Varianten von mindestens 80 Genen beeinflussen die Wirkung hunderter Medikamente. Ansatzpunkte, um die Gabe von Medikamenten stärker auf den Patienten zuzuschneiden, gibt es genug. Die Pharmakogenetik gilt daher als einer der zukunftsträchtigsten Zweige der personalisierten Medizin.

Das AIDS-Medikament Abacavir könnte hier als Vorbild dienen. Nach Einführung des Mittels entwickelten etwa 5 % der behandelten Patienten lebensbedrohliche Unverträglichkeitsreaktionen, die - wie sich später zeigte - stark von einem einzigen Faktor des Immunsystems abhängen. Ein Gentest, der seit 2008 ist in Deutschland zwingend vorgeschrieben ist, konnte diese Vorfälle auf weniger als die Hälfte reduzieren. Doch Abacavir ist weitgehend ein Einzelfall geblieben. In Deutschland gibt es zwar mittlerweile über dreißig Medikamente, für die ein vorheriger Test Pflicht oder wenigstens empfohlen ist. Allerdings sind die meisten davon Krebsmedikamente: Hier wird nicht das Erbgut des Patienten, sondern das des Tumors getestet. Fast alle anderen Erkenntnisse der Pharmakogenetik blieben bislang weitgehend folgenlos.

Dabei liegen die Vorteile auf der Hand. Die Einbeziehung von genetischen Daten könnten vielen Patienten unnötige Belastungen ersparen, die durch suboptimale oder sinnlose Behandlungen entstehen. Die Gefahr von Nebenwirkungen könnte deutlich verringert werden. Und pharmakogenetische Erkenntnisse könnten sogar Geld sparen: Allein die Behandlung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen kostet deutsche Kliniken geschätzte 400 Millionen Euro im Jahr. Auch die Ausgaben für viele sinnlose Behandlungen könnten eingespart werden.

Doch die Umsetzung des pharmakogenetischen Wissens scheitert auch daran, dass für Patienten nur in den seltensten Fällen eine detaillierte Analyse des Erbguts vorliegt. Tests für die Wirkung von Stoffwechselenzymen werden nur von Speziallabors durchgeführt - das ist mühsam und zeitaufwendig. Die Kosten trägt zudem oftmals der Patient. Und vielen Ärzten fehlt das Wissen, um die neuesten Erkenntnisse der Pharmakogenetik in der Praxis umzusetzen.

Pharmakogenetische Studien sind auch für die Pharmaindustrie nur begrenzt attraktiv. Die Einbeziehung von Genomanalysen in klinische Studien erhöht zwar deren Aussagekraft, doch die Durchführung wird auch wesentlich aufwendiger und teurer. Und vor allem: Wenn ein Medikament nur bei einer Untergruppe der Patienten wirksam ist, verringert sich auch die Zahl der möglichen Abnehmer. Keine Firma hat großes Interesse daran, sich ihrer eigenen Kunden zu berauben.

Das "persönliche Genom" könnte hier Abhilfe schaffen. Wenn die Sequenz des Erbguts Teil der Patientenakte wird, wäre die größte Hürde bereits überwunden. Computer- oder webbasierte Assistenzprogramme könnten dann das Erbgut des Patienten mit möglichen Medikationen abgleichen und aktuelle Empfehlungen ausgeben. Und wenn der Arzt dann eventuell auftretende Nebenwirkungen einem zentralen Register meldet, können Datenbankstudien mit relativ wenig Aufwand neue pharmakogenetische Zusammenhänge aufdecken.

Die Untersuchung von Arzneimittelwirkungen ist kein spektakulärer Aspekt der Genomforschung, aber von großem praktischen Nutzen. Zielgenauere Therapien und verringerte Kosten sind entscheidende Vorteile, deren Nutzung aber voraussetzt, dass Genomanalysen zur Routine werden. Die Pharmakogenetik könnte den Weg dafür bereiten, dass in Zukunft jeder die Sequenz seines eigenen Erbguts kennt.