"Erziehung" und Sozialabbau von Rechts

Ansicht von Béziere: Kathedrale St. Nazaire und Pont Vieux. Bild: Omnidoom 999; Lizenz: CC BY 3.0

Versuchslabor Frankreich: Welche Politik macht der Front National in der Praxis? Die rechtsextrem regierten Rathäuser - eine vorläufige Bilanz ihrer Amtsführung

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Die Kette ist vielleicht an ihrem schwächsten Glied gerissen, aber vorläufig hält sie noch. Elf Bürgermeister waren im Frühjahr dieses Jahres auf Listen des rechtsextremen Front National (FN) in französische Rathäuser gewählt worden. Doch nun fiel am Donnerstag dieser Woche ein Gerichtsurteil.

Zu den genannten elf Bürgermeistern kommen noch eine Reihe weiterer Amtsträger in kleinen Kommunen, in denen prinzipiell nur parteifreie oder- übergreifende Listen zu den Rathauswahlen kandidieren. In ihrer jüngsten Ausgabe vom vergangenen Mittwoch publizierte die französische Wochenzeitung Le Canard enchaîné die Namen von einem halben Dutzend Bürgermeistern, die auf Listen ohne Parteizugehörigkeit in die Rathäuser gewählt wurden, aber selbst einen Mitgliedsausweis der rechtsextremen Parteien besitzen. Und es dürfte ihrer noch mehr geben.

Ferner stellt eine andere, kleinere rechtsextreme Formation, die Regionalpartei Ligue du Sud, ihrerseits vier Bürgermeister in Südostfrankreich. Insgesamt leben knapp eine halbe Million Menschen unter rechtsextremer Verwaltung, davon gut 400.000 in den elf offiziell FN-geführten Städten.

Doch nun fiel am Donnerstag dieser Woche ein Gerichtsurteil, das bei einem der elf "offiziellen" FN-Bürgermeister zur Amtsenthebung führen könnte. An diesem 16. Oktober annullierte ein Verwaltungsgericht in Nîmes die Wahl von Joris Hébrard vom Front National zum Bürgermeister von Le Pontet, einer Stadt mit 17.000 Einwohnern in der Nähe von Avignon und Partnerstadt des deutschen Hochheim am Main.

Ende März dieses Jahres hatte er mit nur sieben Stimmen Vorsprung vor dem konservativen Gegenkandidaten Claude Toutain abgeschnitten. Da siebzehn Unterschriften auf den Wahlunterlagen unleserlich waren, bestehen hinreichend Zweifel an der Regelmäßigkeit des Urnengangs. Weil Hébrard allerdings ankündigte, vor den Conseil d’Etat zu ziehen, das oberste Verwaltungsgericht, dürfte sich die Prozedur noch einige Monate hinziehen.

Eigenmächtige Erhöhungen der Bezüge - der FN im Licht der Scheinwerfer

Sollte es allerdings zur Neuwahl kommen, dann dürfte es für den FN möglicherweise schwierig werden. Denn von allen Amtsträgern der rechtsextremen Partei war Hébrard vielleicht derjenige, der am wenigsten auf taktische Rücksichtnahmen achtete, die dadurch erforderlich werden, dass der FN im Licht der Scheinwerfer steht - und stärker als andere Parteien für seine kommunalpolitische Bilanz haftbar gemacht wird.

Der 31jährige hatte seine eigenen Bezüge als Bürgermeister durch die Kommunalverordneten seiner Partei um 44 Prozent erhöhen lassen, was zu einer heftigen Kontroverse auf der Stadtratssitzung vom 21. Mai geführt hatte.

Der Beschluss wurde dann allerdings im August durch den Präfekten, der im Namen des Zentralstaats eine Rechtsaufsicht über die Kommunen ausübt, annulliert. Hébrards Amtskollege im südostfranzösischen Département Var, Philippe de la Grange, Bürgermeister der Kleinstadt Le Luc (10.000 Einnwohner), hatte sich seinerseits 15 Prozent Erhöhung gegönnt.

Er hatte Kritik zurückgewiesen, indem er darauf verwies, dass angeblich "Ausländer, die nie in Frankreich gearbeitet" haben, unverdient fette Renten ausbezahlt bekämen - was selbstverständlich nicht zutrifft, sondern eine glatte Lüge darstellt.

Derselbe Joris Hébrard, der junge Herr mit der 44prozentigen Erhöhung, hatte zugleich Ende Juni dieses Jahres den kostenlose Schulspeisungen für die Kinder der ärmsten Familien in "seiner" Stadt ein Ende gesetzt - unter Verweis auf finanzielle Schwierigkeiten und Sparzwänge. Und als er ein sozialpolitisches Stadtteilzentrum unter dem Vorwand finanzieller Probleme dichtmachen wollte, musste er sich entgegenhalten lassen, dass es schwarze Zahlen schreibe . Worauf er nur zu entgegen wusste, ausgeglichene Konten bzw. ein Wirtschaften mit Gewinn bedeuteten ja nicht, "dass es kein finanzielles Problem gibt". Hébrard bleibt also erst einmal als ein Stadtoberhaupt mit umstrittenen Beschlüssen und Streitigkeiten zu Beginn seiner Amtsführung im Gedächtnis.

Sparmaßnahmen zur "Erziehung" und Sozialabbau

Andernorts nimmt der FN etwas stärkere Rücksichten auf taktische Erfordernisse und achtet manchmal darauf, was bei der Bevölkerung ankommt oder, im Gegenteil, Anstoß erregt. Auch wenn er in der Mehrzahl der Fälle auch dort auf Sparpolitik setzt, sozialpolitischen Einrichtungen ihre Mittel sperrt oder reduziert - und sie mitunter zum Dichtmachen zwingt wie in Villeneuve, einem Stadtteil von Fréjus an der Côte d’Azur, sofern sie auf missliebige Weise Stellung bezogen hatten.

In Béziers westlich von Montpellier, dessen Bürgermeister Robert Ménard - früher einmal ein Linker sowie Chef von "Reporter ohne Grenzen", aber längst scharf nach rechts gerückt - parteilos ist, aber für den FN kandidiert hatte, versucht die Rathausführung die Sparmaßnahmen gezielt zur "Erziehung" der ärmeren Teile der Bevölkerung einzusetzen. Die Stadtregierung von Béziers, 71.000 Einwohner und derzeit die größte rechtsextrem regierte Kommune, hat seit dem Frühjahr eine Reihe neuer lokaler "Straftatbestände" bzw. Ordnungswidrigkeiten eingeführt.

So verhängt die Kommune eigens geschaffene Strafzettel für das Aufhängen von Wäsche an den Fenstern ab zehn Uhr früh, für Auf-den-Boden-spucken und ähnliche Nichtigkeiten. Ménard verteilt zudem, auf freiwilliger Basis, graue Schuluniformen an die Schülerinnen und Schüler seiner Stadt, wie sie zuletzt vor mehreren Jahrzehnten in ganz Frankreich getragen wurden.

Während er gleichzeitig außerunterrichtliche Betreuungsstunden - eine Erleichterung für die Eltern - abschaffte, wenn ein Elternteil arbeitslos ist. Pech für Arbeitsuchende, wird ihnen doch entgegenhalten, sie seien ja derzeit nicht beschäftigt. Dies hat es allerdings zuvor auch bereits in anderen Kommunen gegeben.

Die Stadtregierung, die also offenkundig von einer Rückkehr schnurstracks in die Vergangenheit träumt und zugleich alltägliche Verhaltensweise kontrollieren möchte, reduzierte den lokalen Hilfsfonds für soziale Härtefälle um fünf Prozent. Die Verringerung soll jedoch für gezielte Zwecke genutzt werden. Wer sich nämlich eines der neu geschaffenen örtlichen "Straftatbestände" schuldig machte, jedoch von Härtefallhilfen abhängig ist, soll vorgeladen werden, um sich die Leviten lesen zu lassen. Wird der Vorladung nicht Folge geleistet, entfällt die Hilfe.

Nimmt man hinzu, dass Ménard, dem überregionale Ambitionen nachgesagt werden, sich in der vom Rathaus herausgegebenen Kommunalzeitung abfeiern lässt wie dereinst Nicolas Ceausescu in den rumänischen Staatsmedien vor 1989, ahnt man, was der Mann vielleicht tun würde, hätte er mehr Macht als heute. Günstigstenfalls wohl die Errichtung einer Art Erziehungsdiktatur...

Vorrang für Symbolpolitik

Oft bleibt die rechtsextreme Stadtpolitik jedoch weitgehend im Rahmen von Symbolpolitik, die den Anhängern des FN das Herz erwärmen soll, aber an den realen Lebensverhältnissen der örtlichen Bevölkerung natürlich nichts ändert. Im "siebten Sektor" von Marseille etwa, der die ärmsten nördlichen Stadtbezirke (den 13. und den 14.) der Mittelmeermetropole mit circa 150.000 Einwohnerinnen und Einwohnern umfasst, regiert seit den letzten Kommunalwahlen der FN-Bezirksbürgermeister Stéphane Ravier.

Der 44jährige ist seit nunmehr dreißig Jahren bei der extremen Rechten aktiv. Zu seinen kuriosesten Einfällen zählt es, dass tagtäglich ein Kommunalbediensteter dafür abgestellt wird, die französische Fahne am Rathaus am Morgen glattzustreichen und den Rest des lieben langen Tages darauf zu achten, dass sie sich nicht einrollt.

Klingt dies noch komisch, so ist nicht ganz so komisch, dass die Bezirksverordneten seiner Partei, mit Stéphane Ravier an der Spitze, gegen städtische Mittelzuwendungen für soziale Stadtteileinrichtungen stimmten. Und zwar mit der Begründung, man solle nicht "Millionen ausschütten" für (anscheinend von Natur aus) "kriminalitätsanfällige Zonen" und ihre Bevölkerungen, unter denen ja nicht sonderlich viele blonde Nordeuropäer seien ("il n’y a pas beaucoup de Scandinaves").

Noch weniger belustigend sind andere symbolpolitische Weichenstellungen, die vor allem die rechtsextreme Kernwählerschaft bei der Stange halten sollen. So in der FN-regierten Stadt Cogolin (11.000 Einwohner), wo die Rathausregierung auf Teufel komm raus versucht, einen schnöden Parkplatz mit einigen Bäumen in "Place Maurice Barrès" umzubennen. Und dadurch einem 1923 verstorbenen Schriftsteller die Ehre zu erweisen, der nicht nur radikaler Nationalist ("nationaliste intégral") war, sondern auch glühender Antisemit, und seine Ideen zu rehabilitieren.

In Béziers war es der bereits erwähnte Robert Ménard, der sich am diesjährigen 05. Juli, dem Jahrestag der Unabhängigkeit Algeriens von der französischen Kolonialmacht, vor den Bildern von Angehörigen der rechtsterroristischen "Organisation geheime Armee" (OAS) verneigte. Die OAS kämpfte und mordete 1961/62 gegen den absehbaren französischen Rückzug aus Algerien, unter anderem mit Bombenanschlägen auf belebten Märkten im damaligen Kolonialgebiet, und die vier auf der Säule in Béziers abgebildeten OAS-Mitglieder waren 1962 unter der gaullistischen Regierung standrechtlich erschossen worden.