Von Medizin und Moral

Ein Auszug aus dem Buch "Mythos Vorbeugung - Warum Gesundheit sich nicht verordnen lässt und Ungleichheit krank macht"

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Auch wenn in der Debatte über das grassierende Übergewicht immer gigantische Behandlungskosten als Argument angeführt werden, dient der Kampf gegen das Fett höchstens mittelbar wirtschaftlichen Interessen. Angesichts der dürftigen medizinischen Belege müssen wir uns bei unseren Ermittlungen »weicheren«, kulturellen Einflüssen zuwenden. Der Kampf gegen das Übergewicht ist unbestreitbar populär, weil im globalen Norden die Abneigung gegen dicke Menschen weit verbreitet ist. Die Gründe dafür liegen in einem Schlankheitsideal, das sehr alt ist, im 20. Jahrhundert allerdings eine neue Form und Bedeutung annahm.

Dick zu sein, das stand traditionell für »Maßlosigkeit und Sünde, Müßiggang und Laster«, stellt Christoph Klotter fest. Der Protestantismus verschärfte die überlieferte Abneigung gegen die Dicken noch einmal, weil er (moralische) Eigenleistung und Askese zur Glaubenspflicht machte. Das Stigma traf allerdings selten die Wohlhabenden und Mächtigen, denn deren Fleiß und wirtschaftliche Produktivität schienen außer Frage zu stehen.

Seit dem Zweiten Weltkrieg konnten in Mitteleuropa und Nordamerika auch die unteren Schichten ausreichend Kalorien bekommen. Nun wandelte der dicke Bauch seine soziale Bedeutung. Seitdem steht Fettleibigkeit stellvertretend für die Armen und Ausgegrenzten, für angeblich überflüssige und maßlose Esser. Ausdrücke wie »sitzende Lebensweise« und »exzessive Kalorienaufnahme« sind dafür quasi-medizinische Chiffren. Der Kampf gegen die Fettleibigkeit speist sich aus Vorurteilen über die Ernährungs- und Lebensgewohnheiten der unteren Klassen.

Der Vorwurf, diesen fehle es an Selbstdisziplin, ist so alt wie die Sozialmedizin. In seinem Bericht von 1848 beklagte schon Rudolf Virchow die angebliche Antriebslosigkeit der oberschlesischen Landbevölkerung: »Eben so groß als die Unreinlichkeit ist die Indolenz der Leute.« Sechs Jahre zuvor veröffentlichte der englische Sozialmediziner Edwin Chadwick einen Bericht über die hygienischen Verhältnisse in den Slums von London, in dem es heißt: »Unter diesen ungünstigen Bedingungen entsteht eine erwachsene Bevölkerung mit geringer Lebenserwartung, unbedacht, hemmungslos, unmäßig und genußsüchtig.« Für den Sozialhygieniker Chadwick war, wie für die Gesundheitspolitik seiner Zeit insgesamt, Schmutz Ausdruck von Lasterhaftigkeit.

Die vermeintliche Unmoral der unteren Klassen stand immer sinnbildlich für alles, was Bürger sich verbieten oder wenigstens verheimlichen. Zwar ändern sich die medizinischen Argumente, das zugrundeliegende Bedürfnis nach Ausgrenzung und Stigmatisierung blieb erhalten. Heute heißt es, es fehle den Dicken an Verantwortungsgefühl, Disziplin und Selbstkontrolle; die abstruse Gleichung lautet »arm = undiszipliniert = dick = krank«.

»Neo-Gesundheitsförderung konzentriert sich besonders auf die Themen, die gegen die zentralen Werte der Leistungsgesellschaft verstoßen«, fasst die Gesundheitswissenschaftlerin Bettina Schmidt zusammen. Obwohl einige Ernährungsforscher und Diabetologen mit wachsender Verzweiflung widersprachen, setzte sich in den 1990er-Jahren das Bild von Diabetes als Zivilisationskrankheit einer dekadenten und willensschwachen Unterschicht durch. Die Ausrichtung der Gesundheitsförderung ist keineswegs objektiv, sondern von solchen Vorurteilen geprägt.

Der hier veröffentlichte Text ist ein Auszug aus Matthias Martin Beckers Buch Mythos Vorbeugung - Warum Gesundheit sich nicht verordnen lässt und Ungleichheit krank macht (222 Seiten, 17,90 Euro), das beim Wiener Verlag Promedia erschien. Becker argumentiert darin, dass Armut krank macht und dass von der individuellen Prävention nur die oberen Schichten profitieren.

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